06.12.2005


Stefan Stirnemann

Rechtschreibung nach Lohnklassen

Univ.-Professor Dr. em. Hermann Zabel, Universität Dortmund, schreibt einen Leserbrief gegen Theodor Ickler und empfiehlt ein Zurück zu Konrad Duden und Dieter E. Zimmer.

Zur Einleitung: Mit Stolz nennt Herr Zabel Herrn Ickler „C-3-Professor“ und sich selbst „Professor em.“. Was steckt hinter diesen Abkürzungen? Der C-4-Professor steht in einer höheren Lohnklasse als der C-3-Professor. Hat er seinen Lehrstuhl vor 1970 erhalten, so wird er, wenn die Zeit gekommen ist, bei vollen Bezügen entpflichtet und heißt ‚Emeritus‘. Als emeriti sieht der Dichter Ovid die von der Tagesfahrt erschöpften Gäule des Sonnengottes, und ein zweibeiniger emeritus war bei den Römern der Veteran oder einer, der ein öffentliches Amt treu verwaltet hatte.
Über solche treue Amtsverwalter steht im Codex Theodosianus, in der großen Gesetzessammlung aus dem fünften Jahrhundert nach Christus, daß ihnen jede Ehre geschuldet werde (omnis honor iure meritoque debetur). Dennoch wird Professors emeriti Zabels Brief aus der Zeitschrift Forschung&Lehre 12/2005 hier abgedruckt. Der Text, auf den er sich darin bezieht, ist hier zu finden.

Rechtschreibung
Zuschrift zum Beitrag „Rechtschreibung ist Not“ von K. Reumann in F&L 8/05, Seite 427 ff.

Ohne Zweifel ist der Erlanger C-3-Professor Ickler der lautstärkste Kritiker der Rechtschreibreform. Seit vielen Jahren predigt er seiner Fan-Gemeinde: „Die Reformer und ihre Auftraggeber, die deutschen Kultusminister, sind unfähige Deppen, denen die Geheimnisse der deutschen Orthographie auf Dauer verborgen bleiben. Nur ich bin im Besitz der Wahrheit.“ Als Ickler vom Vorsitzenden der damaligen „Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ zur Mitarbeit eingeladen wurde, erklärte er, der Einladung nicht Folge leisten zu können, denn sein einziges Ziel sei es, „das menschenverachtende Massenexperiment“ Rechtschreibreform baldmöglichst zu stoppen. Eine solche Formulierung soll in manipulativer Absicht ganz bestimmte Assoziationen wecken und geht über das Maß üblicher Polemik und sogar über das Maß üblicher Beschimpfungen weit hinaus. Es ist ungeheuerlich, alle an der Rechtschreibreform Beteiligten (einschließlich der Kultusminister, die immerhin den Auftrag erteilten) als solche zu bezeichnen, die „ein menschenverachtendes Massenexperiment“ initiiert bzw. sich an ihm beteiligt haben.
Während sich Ickler im Rahmen der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 2. Juni 1997 in Bonn für die Formulierung entschuldigte, stellte er wenig später in einem Brief vom 18. Juli 1997 fest: „Die Rechtschreibreform ist ein menschenverachtendes Massenexperiment. Ich sehe in dieser Behauptung … keineswegs eine missglückte Formulierung, für die ich mich entschuldigen müsste … Nicht ich will bestimmte Assoziationen wecken, sondern N.N. wollte und will das, was man schon daran sehen kann, dass die Nazis, auf die ich angeblich anspiele (mir war das ganz neu!), nicht für menschenverachtende Massenexperimente bekannt sind.“ Man fragt sich, worüber man sich als Leser dieser Erklärung mehr wundern soll – über die gespielte Naivität oder die offensichtlich fehlenden Geschichtskenntnisse des Erlanger Hochschullehrers.
Erst als Ickler zu seiner Enttäuschung feststellen musste, dass der Zug bereits in die seiner Meinung nach falsche Richtung losgefahren war, sprang er im letzten Augenblick auf den Zug auf und ließ sich als Vertreter des P.E.N.-Clubs in den „Rat für die deutsche Rechtschreibung“ wählen. Er stimmte im [so geschrieben] Vorschlag des Rates für die Neufassung des Bereichs „Getrennt- und Zusammenschreibung“ grundsätzlich zu. Aber der Erlanger Hochschullehrer wäre seinem Wesen wohl untreu geworden, wenn er nicht wieder alles besser als die übrigen Mitglieder des Rates für die Rechtschreibung gewusst hätte. Seine Kritik an dem vom Rat angeblich einstimmig beschlossenen Neuregelungsvorschlag kommt einem Verriss gleich. Insgesamt bringt die Kritik nichts Neues: Ickler wird nur einen Text von Ickler akzeptieren.
Immerhin ist der Schluss des Verrisses bemerkenswert: „Nach den Erfahrungen von mehr hundert Jahren [so geschrieben] sollte der Staat am besten ganz darauf verzichten, diesen Bereich (=Getrennt- und Zusammenschreibung) zu regeln!“ Eine erstaunliche Erkenntnis nach zehn Jahren besserwisserischer, destruktiver Kritik. Der Staat kann auf eine Regelung dieses Bereichs nicht verzichten, weil nur das in den Schulen Deutschlands gelehrt werden darf, was politisch durch die Kultusministerkonferenz legitimiert wird. Ein Chaos, also jeder schreibt wie er will, kann die Kultusministerkonferenz beim besten Willen nicht tolerieren. Vielmehr empfiehlt es sich, zu Konrad Duden zurückzukehren, der für [so geschrieben] den umstrittenen Bereich nur für eine bestimmte Berufsgruppe, nämlich für die Buchdrucker und Setzer, geregelt hat. Für den allgemeinen Schreibgebrauch hat er auf ein differenziertes Regelwerk verzichtet. Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

– Es muss ein Regelwerk geben. Der Rat wäre gut beraten, wenn er sich dem von Dieter Zimmer für Die Zeit ausgearbeiteten Konzept anschließen würde. Ein Regelwerk ist notwendig, es kann aber nicht für alle Mitglieder der Schreibgemeinschaft als verbindlich vorgeschrieben werden, weil es die vollständige Beherrschung der Grammatik voraussetzt.
– Daher muss es über das Regelwerk hinaus eine allgemeine Anweisung geben: Will ein Schreiber die Zusammengehörigkeit von im Text nebeneinanderstehenden Worten besonders kennzeichnen, kann er sie zusammenschreiben.

Univ.-Professor Dr. em. Hermann Zabel, Universität Dortmund


Ein paar Anmerkungen:

Konrad Duden hat den fraglichen Bereich nicht geregelt, weder für die Drucker noch die Setzer noch sonst jemanden. Es ist aber bemerkenswert, daß Prof. Zabel zum Buchdruckerduden von 1903 zurückkehren möchte. Er gerät dabei freilich in Zwist mit seinem anderen Gewährsmann, mit Dieter E. Zimmer.

Herr Zimmer hat am 10. Juni 1999 auf rund sechs Zeitungsseiten (freilich großen) die „Neue Rechtschreibung“ „zusammengestellt und erläutert, kritisiert und vorsichtig repariert“. Nichts zu reparieren fand Herr Zimmer bei „Gräuel“; sicher hätte er auch gegen „Groiel“ nichts einzuwenden gehabt. Auch das alte Wort „selbstständig“ hielt seinem prüfenden Blick stand, und hätte man ihm statt „Schlittschuh“ das ältere Wort „Schrittschuh“ angeboten, so stünde nun auch diese Neuheit in der ZEIT.
Eingehend erforscht dagegen hat Herr Zimmer die Verbindungen mit Partizip 1; Frucht seiner Mühen sind vier Merkmale, an denen man eine „Verschmelzung“ erkennt. Nun sind solche Merkmale in allen großen Grammatiken und Wortbildungslehren zu finden, aber das ist nicht wichtig, zumal, wenn man die Möglichkeit hat, die eigene Lehre in der eigenen Zeitung zu verbreiten, ohne auf Widerspruch Rücksicht nehmen zu müssen. Das vierte Merkmal für eine Verschmelzung lautet so: „wenn die Verbindung eine rechtliche Kategorie bezeichnet (alleinerziehend).“ Wenn man nur wüßte, was „rechtlich“ bedeutet! Nicht recht rechtlich sind offenbar „Blut saugend“ und „Fleisch fressend“, weswegen Herr Zimmer hier nichts verschmelzen läßt. An der Neuregelung anerkennt Herr Zimmer: „Immerhin aber gibt es nunmehr eine Grundidee: Die Getrenntschreibung benachbarter eigenständiger Wörter soll der Normalfall sein; geregelt wird nur die Ausnahme, also die Zusammenschreibung. Wer sich in Zweifelsfällen davon leiten lässt, hätte öfter richtig als unrichtig geraten.“
Da sich Herr Zimmer über Sprachgebrauch und Sprachwissenschaft erhebt, warum verfaßt er nicht auch ein „Spezial“ über Wirtschaftsfragen mit ganz neuen und überraschenden Einsichten? Er würde ausgelacht. Warum lachen die Leser der ZEIT nicht über den Sprachforscher Zimmer? Offenbar lassen sich die Seltsamkeiten verkraften – genauso wie man in Büchern des 19. Jahrhunderts über Formen hinwegliest, die nicht zur Entwicklung unserer Sprache passen und unserer Gewohnheit widersprechen. Aber wer würde deswegen schreiben, wie das 19. Jahrhundert geschrieben hat?
Will Herr Zimmer wirklich die Ehre in Anspruch nehmen, auf seinen Zeitungsseiten unsere Rechtschreibung dargelegt zu haben? Und wenn er diese Ehre haben möchte, wer wird sie ihm geben?

Prof. Zabel selbst ist ein häufiger Briefschreiber. An Günter Grass schrieb er im Bonner General-Anzeiger vom siebten/achten Juni 1997: „Sehr geehrter, lieber Herr Grass, mir liegt der Brief vor, den Sie an Ihren Verleger Gerhard Steidl in Sachen Rechtschreibreform gerichtet haben. Hierzu möchte ich Ihnen als einem von mir hochgeschätzten Schriftsteller, der sich um die deutsche Literatur und um die deutsche Sprache große Verdienste erworben hat, Folgendes sagen oder besser schreiben: Ich bin bestürzt über die Schreibblasen, die Sie mit Blick auf die beschlossene Rechtschreibreform zu Papier gebracht haben und in denen Sie zu erkennen geben, dass sie das neue Regelwerk nicht kennen.“

Mit seiner Selbstberichtigung „sagen oder besser schreiben“ stellt Prof. Zabel unter Beweis, daß ihm äußerste Genauigkeit des Ausdrucks ein tiefes Anliegen ist. So genau hat er es einst auch mit der Großschreibung genommen und die sogenannte Artikel-Probe zur „Wörterbuch-Artikel-Probe“ erweitert. Das ging so:
„Ein Wort ist ein Substantiv (Hauptwort), wenn es möglich und sinnvoll ist, einen bestimmten oder unbestimmten Artikel vor das Wort zu setzen.“ Diese Artikel-Probe kann zu falschen Ergebnissen führen, wie Prof. Zabel an folgendem Beispiel zeigt: „Vor ihm lag der hohe Berg (der Hohe Berg).“
Sicherheit gibt erst die Wörterbuch-Artikel-Probe: „Ein Wort ist ein Substantiv (Hauptwort), wenn bei Eintragung dieses Wortes in ein Wörterbuch ein Artikel (Bestimmungswort) voran- oder nachgestellt werden kann.“ Ein Wort wie ‚hoch’ sei nicht artikelfähig.

Doch Halt oder halt! Es treten auch bei der Wörterbuch-Artikel-Probe Schwierigkeiten auf. Es gibt nämlich Wörter, die einmal Substantive waren, heute aber keine mehr sind: „Diese Wörter werden trotz positiver Wörterbuch-Artikel-Probe klein geschrieben.“ Wie ist nun noch diese Schwierigkeit zu lösen?
„Es ist also zu prüfen, welcher Wortart diese Wörter heute zuzurechnen sind. Da diese Prüfung wiederum nicht unerhebliches grammatisches Wissen voraussetzt (was nicht bei allen Schreibern vorausgesetzt werden kann), empfiehlt es sich, sich die zu dieser Regel angebotenen Beispiele einzuprägen.“
Und wer Mühe hat, sich die Beispiele einzuprägen? Schaut der nicht am besten ganz ohne weiteres in ein tatsächliches Wörterbuch, ohne sich die Mühe zu machen, vorher ein Gedanken-Wörterbuch zu erfinden?

Bringen wir Prof. Zabels Probe auf den Punkt: Wenn ich unsicher bin, ob ein Wort groß zu schreiben ist, stelle ich mir vor, daß ich es in ein Wörterbuch eintrage, und prüfe, ob ich es zusammen mit einem Artikel eintragen muß. Ist das der Fall, schreibe ich groß. Zur vollen Sicherheit muß ich aber noch in einem wirklichen Wörterbuch nachschauen, ob das Wort groß oder klein geschrieben wird.

Diese Überlegungen sind nachzulesen in Zabels Buch „Die neue deutsche Rechtschreibung“, das 1997 bei Bertelsmann erschien. In jenen Jahren setzte sich Zabel für seinen Verlag ein und griff den Rechtschreib-Duden an. Das wiederum rief die Schweizer Reformer und Duden-Autoren Gallmann und Sitta aufs Kampffeld; sie legten sich in einem Brief an die Konferenz der Erziehungsdirektoren für Duden ins Zeug. In diesem Zeug liegen sie wohl heute noch.

Jenseits der Fragen von Geschäft und Geld muß einem etwas anderes zu denken geben, gerade wenn man den neuesten Leserbrief von Prof. Zabel liest und dazu noch einmal die Zeitungsseiten von Herrn Zimmer aufblättert. Es gibt eine Sprachwissenschaft. Daß Herr Zabel und andere Herren zu ihr etwas beitragen können, wird niemand ausschließen.
Sie sollten aber ihre Ansichten auf dem freien Markt der Ideen vortragen und schauen, was aus ihnen wird. Was wird dort aus der Wörterbuch-Artikel-Probe? Ein Wörterbuch-Artikel-Probe-Lachen.

An den Rockschößen der Amtlichkeit Befehle erteilen dürfen, das ist eine Ehre, die der verdienteste Emeritus nicht verdient. Er könnte doch mit seiner Lohnklasse zufrieden sein.




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