18.10.2005 Stefan Stirnemann Aus alten RegelwerkenDas neunzehnte Jahrhundert und wirDas neunzehnte Jahrhundert ist die große Zeit rechtschreiblicher Regelwerke. Man spricht heute von Regelbüchern, der Name ist freilich schlecht gewählt: tatsächlich sind es schmale Hefte.Es ist recht unterhaltsam, sie auszuwerten und zu vergleichen. Unter Umständen kann man die Arbeit vertiefen und erweitern, die Wolfgang Kopke geleistet hat: Rechtschreibreform und Verfassungsrecht (Tübingen 1995). Schwer zu lesen, da, wie schon der Titel zeigt, sehr umständlich geschrieben, ist Gunnar Böhmes „Zur Entwicklung des Dudens und seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie“ (Frankfurt/M. 2001). Die Rechtschreibung des neunzehnten Jahrhunderts schwankte in einigen Bereichen. Verschiedene Gruppen setzten sich für tiefgreifende Änderungen, eigentliche Reformen ein. Um die Rechtschreibung zu vereinheitlichen und vor Reformen zu schützen, sollte die Berliner Konferenz von 1876 ein Regelwerk erarbeiten, das zunächst für alle Schulen galt. Weil die Teilnehmer entgegen der Vorgabe weitgehende Eingriffe in die Schreibgewohnheit vorschlugen (z.B. bei den Dehnungszeichen), wurde das Berliner Regelwerk nicht umgesetzt. Dafür erschienen im deutschsprachigen Raum verschiedene Regelhefte, die sich wesentlich an die Schreibgewohnheit hielten. Die Reihe eröffnete 1879 Bayern, es folgte im Jahr darauf Preußen, 1881 die Schweiz. Die preußischen Regeln waren von Wilhelm Wilmanns, wie er selber sagte, redigiert worden. Er verfaßte einen ausführlichen Kommentar dazu (die zweite Auflage unter dem Titel „Die Orthographie in den Schulen Deutschlands“, 1887). Wilmanns, mit seinen Arbeiten heute noch bedeutsam, war wie Konrad Duden Teilnehmer beider orthographischer Konferenzen. 1880 gab Konrad Duden sein „Orthographisches Wörterbuch“ heraus; er legte dabei seine eigenen Arbeiten, die Ergebnisse der Berliner Konferenz und Wilmanns Kommentar zugrunde. Seine Leistung bestand darin, daß er im Gegensatz zu den Regelheften einen großen Wortschatz bot. Gilt nicht auch heute, daß man, ist man beim Schreiben eines Wortes unsicher, nicht unbedingt eine Regel anwenden will, sondern froh ist, kurz nachschlagen zu können? Dudens Buch galt bald als „maßgebende Interpretation der verschiedenen amtlich angeordneten Orthographien“. So beschrieb es Duden selbst 1892 in einem Brief an einen Schweizer Drucker; das Wort ‚maßgebend’ wurde im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland rechtsverbindlich. Es hielten sich aber nicht alle an den Duden, besonders die Behörden nicht. Folge: Zwiespalt zwischen Schule und Leben. Im Vorwort eines Buches jener Zeit steht: „Dem Wunsche des Verlegers, dies Buch in der Schulorthographie drucken zu lassen, habe ich in Berücksichtigung der obwaltenden Schulverhältnisse nachgegeben, freilich mit den Ovidischen Worten: ‚Video meliora proboque: Deteriora sequor’, was ich – in Anwendung auf die waltenden Mißverhältnisse – etwa verdeutschen möchte: Zwar Besseres sehend und wünschend, Duld’ ich doch Schlechteres hier.“ Der Verfasser ist Daniel Sanders, Teilnehmer der ersten Berliner Konferenz; auch er ist bis heute lesenswert. Sanders vertrat den Standpunkt: „Der allgemeine Schreibgebrauch muß als unumstößliche Richtschnur gelten.“ 1901 wurde auf der zweiten Berliner Konferenz eine Einigung erzielt. Ich versuche, diesen etwas flauen Ausdruck zu erklären: Die Behörden übernahmen im wesentlichen die Vorschläge Wilmanns’ und Dudens; beide hielten sich recht eng an den Schreibgebrauch. Dieses „recht eng“ ist wiederum flau; wer 1901 noch gewohnt war, heute Abend zu schreiben oder im Allgemeinen, sah die Sache zweifellos anders. Der Schweizer Bundesrat hatte sich schon am 24. Dezember (ausgerechnet) 1892 festgelegt: „Der Bundesrath hat die Duden’sche Orthographie für die von der Bundesverwaltung angeordneten Drucksachen vom 1. Januar 1893 an obligatorisch erklärt und das Departement des Innern mit der Durchführung dieser Maßregel beauftragt.“ Nach der zweiten Berliner Konferenz wurden allmählich die vielen Varianten des Regelwerks von 1901 ausgeschieden (z.B. Abends); es versteht sich, daß mit zu vielen Varianten schwer umzugehen ist. Ein Beispiel: die Trennregeln In der „Anleitung zur deutschen Rechtschreibung“ für die „Unterrichts-Anstalten der Armee“ (Hannover 1861) – das Büchlein ist soldatisch sauber blau gebunden – heißt es: „Die zusammengesetzten Buchstaben ch, ck, ph, pf, sch, sp, st, ß, th, tz werden im Schreiben nicht getrennt, sondern für einen Buchstaben angesehen.“ In den Aufzeichnungen der Berliner Konferenz steht unter dem 11. Januar (1876): „Die Konferenz einigte sich zunächst dahin, daß die Buchstabenverbindung ck bei der Trennung in ihre Bestandtheile k-k aufzulösen und tz in t-z zu brechen sei. Auf die Erinnerung des Vorsitzenden, daß die Forderung sp und st im Anlaut der Silben ungetrennt zu behalten, nur auf der Nachahmung eines nicht einmal sicher gestellten Gebrauches in der lateinischen Sprache zu beruhen scheine, wurde für die Trennung dieser Buchstabenverbindung das gleiche Verfahren wie bei pf beschlossen. Dieselbe soll (…) durch die Beispiele ‚Las-ten, Wes-pe (aber Ge-spenst), klop-fen, aber em-pfangen’ veranschaulicht werden.“ Dem gegenüber hält das bayerische Regelheft von 1879 fest: „Die Buchstabenverbindungen st, tz, ck, x, pf, sp, ch, sch, th werden nicht getrennt, sondern immer zur folgenden Silbe gezogen.“ Duden1880: „Stehen mehrere Konsonanten im Inlaut, so kommt der letzte auf die zweite Zeile (…). (ck wird in kk aufgelöst).“ Berlin 1901: „Von mehreren Mitlauten kommt der letzte auf die folgende Zeile (…). ck wir dabei in zwei k aufgelöst (…). Nur st bleibt immer ungetrennt.“ Es gab also verschiedene Möglichkeiten, aus denen zu verschiedenen Zeiten verschieden gewählt wurde. Etwas Grundsätzliches Im neunzehnten Jahrhundert wurde die Rechtschreibung vereinheitlicht, indem Grammatiker eine, wie sie dachten, begründete Auswahl aus zahlreichen Möglichkeiten trafen; eigensinnige Vorlieben, wie sie auch Konrad Duden hegte (z.B. die Kleinschreibung der Substantive) wurden nicht verwirklicht. Diese Auswahl und Begründung läßt sich an den Regelheften verfolgen; man muß aber auch die Grammatiken jener Zeit anschauen: von Becker, Heyse, Bauer, Duden, Wilmanns und wie sie alle heißen. Wer in diesen Wald eintritt und anfängt, die Bäume zu zählen, bekommt leicht das große Baum-Sausen: Alles ist richtig, alles ist falsch, alles ist möglich, alles ist sinnlos. Für den Kampf, den die Forschungsgruppe Deutsche Sprache auch auf ihrer Netz-Seite führt, unverzagt und beharrlich, nicht siegesgewiß, aber bereit, zum Sieg etwas beizutragen – für diesen Kampf ist die folgende Überzeugung leitend: Die harte Auseinandersetzung, die im neunzehnten Jahrhundert stattfand, war unausweichlich: es ging um eine einheitliche Rechtschreibung. Die Arbeit jener Zeit (es ist die Arbeit eines ganzen Jahrhunderts) hat zu einem sinnvollen und brauchbaren Ergebnis geführt. Ob dazu die Staatsmacht nötig war, kann offenbleiben. In seinem „Lob der Rechtschreibung“ (2005) würdigt Horst Haider Munske die zweite Berliner Konferenz so: „Der Weg, den die Rechtschreibkonferenz vor über 100 Jahren gegangen war, hatte zwei Hauptziele: differenzierte Sprachangemessenheit und Klarheit für den Rechtschreibunterricht. Letzteres hat durch die immer dichter und komplizierter gewordene Regelung der Duden-Nachfolger gelitten. (…) Das berührt aber nicht die Grundqualität dieser Regelung, eine angemessene Rücksicht auf den Sprachwandel.“ Die Reform der Rechtschreibung von 1996 dagegen war unnötig. Seit 1996 wiederholen wir das Gespräch des neunzehnten Jahrhunderts, aber nicht auf derselben Höhe über Meer - im Gegenteil tief im Sumpf. Jetzt geht es darum, die zahllosen minderwertigen oder falschen Varianten loszuwerden, die uns unfähige Sprachforscher beschert haben. Die Grundfrage dabei ist, was in der Schule gelehrt werden soll. Sodann ist die Rolle des Staates zu bestimmen. Aus allen Zeitungen, jetzt vor allem den deutschen, lächeln uns Politikerinnen und Politiker zu. Sie mögen lächeln, aber sie sollen die Sprache in Ruhe lassen. Am 22. Februar dieses Jahres hielt Reiner Kunze in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (München) eine Rede. Er richtete sich vor allem an Herrn Zehetmair: „Die verantwortlichen Politiker argumentieren (…), die Reform dürfe nicht zurückgenommen werden, weil die Bürger ein Anrecht auf Verläßlichkeit der Politik haben. Verlaß darauf, daß der Staat von etwas, das im wesentlichen als falsch erkannt wurde, nicht wieder abgeht, kann aber doch kein Postulat sein für richtige Politik.“ Herr Zehetmair war grippehalber abwesend. Hätte er Reiner Kunze gehört, er wäre sogleich gesund geworden. In Fragen der Rechtschreibung gibt es keine Grippe. Es gibt Arbeit zu erledigen. Wer mitarbeiten will, ist willkommen.
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