11.09.2005 Stefan Stirnemann Chaos oder Katastrophe?Über Wertungen kann man immer streiten. Der eine steigt noch bei 16 Grad in den Bodensee, dem anderen sind 20 Grad bereits zu herbstlich.Ich stelle, für Schwimmer und Nichtschwimmer, zusammen, was an der gegenwärtigen Lage nicht gut ist. 1) In der Schule soll unterrichtet und mit Noten durchgesetzt werden: „Ich bin dir Feind.“ Wer so etwas verfügt, mißbraucht sein Amt. Wer es mitmacht, hat die Wissenschaft aufgegeben und müßte sagen, was er sonst noch mitzumachen bereit ist. Natürlich, wird er sagen, nur unwichtige Dinge; hingegen bei wichtigen Dingen wird er den härtesten Widerstand leisten. Deswegen schont er jetzt seine Kräfte. 2) Es gibt eine große Untersuchung zu Zusammensetzungen mit Partizipien. Gesammelt und geprüft worden sind dafür u.a. 2104 Partizip-I-Bildungen: „Diese Basis stellt einen repräsentativen Ausschnitt der deutschen Gegenwartssprache dar und läßt klar erkennen, welchen Mustern die Wortbildung mit Adjektiven und Partizipien folgt.“ Was 1992 noch galt, wurde 1996 außer Kraft gesetzt und wird auch nach dem Vorschlag des Rates für Rechtschreibung nicht wiederhergestellt. Theo Ickler muß sich in einem Sondervotum dafür einsetzen, daß „fleischfressend“ etwas anderes ist als „Fleisch fressend“. Die deutsche Sprache versucht, sich mit einem Sondervotum für ihr Recht zu wehren; man wird sie natürlich abweisen. Peter Gallmann lehrt als „Richtiges Deutsch“: „In Verbindung mit dem Verb ‚sein‘ ist die Zusammenschreibung vorzuziehen: Dieses Vorgehen ist zeitsparend (Zeit sparend).“ Was sehr selten vorkommt, muß als Klammer erwähnt werden, weil man die eigene und eigensinnige Theorie retten will. Roman Looser, wie Gallmann im Rat für Rechtschreibung, meinte: „Mir ist es egal, ob ich ‚Gämse‘ oder ‚Gemse‘ schreibe, ‚Aufsehen erregend‘ oder ‚aufsehenerregend‘. Der Text wird nicht besser, ob ich die eine oder andere Variante verwende. Doch ich stehe für die neuen Rechtschreibregeln ein, auch weil die Erziehungsbehörden in den deutschsprachigen Ländern das so beschlossen haben.“ Das sind zwei Beweggründe, die sich sehen lassen: Gleichgültigkeit und Gehorsam. 3) Ulrich Knobel läßt in seinem Heft „Übungen zur Rechtschreibung“ die Schüler einüben, daß nur „Es tut mir Leid“ richtig ist. Das Heft ist heute noch im Gebrauch, und es ist teuer: es sind 62 Seiten, eine Seite kostest fast einen Franken. Peter Gallmann vermerkt trocken in einer Liste „gebräuchlicher Verbindungen“: „leidtun (daneben auch: Leid tun).“ Er unterrichtet die Käufer seines Buches nirgends davon, daß er und seine Kollegen diese gebräuchliche Verbindung bis vor kurzem noch ganz anders bestimmten. Im Vorwort schreibt er: „Der Zweck des Buches ist unverändert geblieben: ein Lehrmittel zu sein, das genau und zuverlässig über grammatisch-orthographische Erscheinungen unserer deutschen Sprache Auskunft gibt. Dass das Buch über seinen zuerst engeren Benützerkreis hinaus heute auch in Schulen gebraucht wird, in ungezählten Büros der Verwaltung und von Betrieben, dass es Redaktionen und Redaktionssekretariaten Hilfe bietet, erfüllt uns mit Dankbarkeit.“ Dankbarkeit ist ein schönes Gefühl, man könnte sich aber auch verpflichtet fühlen, von Schule, Verwaltung und Betrieben Unsinn fernzuhalten. 4) In den Mitteilungen 2/2005 des Sprachkreises Deutsch (SKD) stellte ich den Erziehungsdirektoren sechs Fragen. Die letzte lautete: „Sind die Erziehungsdirektoren bereit, zum Wohle der Schüler und entgegen dem Beschluss der Kultusminister die ganze Neuregelung auszusetzen, bis eine tragfähige Grundlage gefunden ist?“ Die bisher beste Antwort hat der Kanton Bern gegeben. Die Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich, Frau Aeppli, antwortete: „Sprache lebt! Das zeigt sich auch in der gegenwärtig vor allem von Deutschland beherrschten Diskussion über die Reformen der Rechtschreibung.“ Wir besprechen ernsthaft, ob man das Wort ‚sogenannt‘ als Wort anerkennen soll und ob ‚8fach‘ einen Bindestrich verdient – was hat das mit dem Leben der Sprache zu tun? Und was hat eine Erziehungsdirektorin mit dem Leben der Sprache zu tun? In den neuen Wörterbüchern, welche auch Frau Aeppli als „Quellen“ der jetzt notenwirksamen Rechtschreibung empfiehlt, gewinne ich keine Klarheit darüber, ob „unter Anderem“ und „vor Allem“ richtig ist. Und solcher Fragen wegen braucht man diese Bücher, nicht wegen „Fisch“, „Vogel“ und „Esel“. Im Kanton Zürich, wohl nicht zufällig dort, ist die ganze Neuregelung notenwirksam geworden, also auch das, was „strittig“ ist. Frau Aeppli schrieb dazu: „Der ‚Rat für deutsche Rechtschreibung’ arbeitet an Änderungsvorschlägen. Es ist davon auszugehen, dass einige dieser Vorschläge umgesetzt werden, allerdings im Sinne einer Erweiterung der zugelassenen Varianten. Ein Zurück ausschliesslich zur alten Rechtschreibung ist jedoch nicht geplant.“ Wenn doch bei der Sache überhaupt etwas geplant wäre! Wir erinnern uns, was das Haus Duden über die angebliche Verminderung der Regeldichte schrieb: „die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel“. Dazu ist Politik geworden: Wirksamkeit ohne Inhalte. 5) Man hört immer wieder von der Schwierigkeit der sogenannten alten Rechtschreibung. Sogar die Bildungskommission des Schweizer Nationalrates weiß von ihren Mängeln (so daß man fragt, warum sie nicht lange vor 1996 wirksam dagegen einschritt: Steuern erhöhen, Notstand ausrufen, das Heer mobilisieren). Auf diesen Netz-Seiten ist es Herr Jochems, der in großer Treue und Eindringlichkeit immer wieder schreibt, daß wir vor 1996 eigentlich gar nicht richtig schreiben konnten. Nehmen wir das einmal als gegeben, so ist die einzige Frage, ob der Schaden behoben wurde. Es regnet immer noch ins Haus. Der Handwerker entschuldigt sich: „Vorher war es ja auch nicht in Ordnung.“ Eine andere Entschuldigung brachte Roman Looser vor: „Ich bin nicht der Meinung, dass die neuen Rechtschreibregeln perfekt sind, eben weil sie so wie jede Regelung, die nicht von einer Person allein gemacht wird, ein Kompromisswerk sind.“ Kürzlich kam Hänslein zum drittenmal zu spät zur Schule: „Unterwegs hat mich eine Kuh angehalten, meinen Rucksack durchsucht, mein Pausenbrot beschlagnahmt und sogleich aufgegessen. Dabei hat sie sich verschluckt, sie mußte furchtbar husten, und ich mußte ihr den Rücken klopfen – so habe ich die entscheidenden fünf Minuten verloren und bin zu spät.“ Warum etwas schlecht herausgekommen ist, spielt in zweiter und dritter Linie eine Rolle. In erster Linie muß man festhalten, daß es schlecht herausgekommen ist und daß es gründlich verbessert werden muß. Wer gäbe den Auftrag dazu nochmals denselben Handwerkern? Das macht nur der Politiker, der nicht sein eigenes Geld ausgibt. 6) Zur ‚Norm‘ von 1901: sie ist im ganzen neunzehnten Jahrhundert erkämpft worden. Man mußte wählen zum Beispiel zwischen ‚Es ist Schade/es ist schade‘, ‚stetig/stätig‘, ,bischen/bißchen‘, ‚Schaar/Schar‘, ‚das Kissen/Küssen‘. Für alle, die es anders gewohnt waren, war die amtliche Festlegung ein Höllenzwang und Ärgernis. Gottfried Keller schrieb in einem Brief: „Aber freilich blutet mir das Herz dabei, wenn ich in dem verwüsteten Buchstabengärtlein meiner Kindheit so einsamlich dastehe.“ Er war dabei, in seinen Gedichten das ‚d‘ aus ‚todt‘ zu entfernen. Die Rechtschreibkommission von 1876 hatte diese Festlegung mit dem Hinweis gestützt, daß August von Platen und Gustav Freytag ‚tot‘ bevorzugten. Ein Trost? „Aber etwas anderes ist es, wenn eine beliebig zusammengezogene Konferenz von Fachmännern eine neue Wörterschreibung ausheckt, und wenn dann versucht werden soll, von der Schulverwaltung her durch die mehr oder weniger unwiderstehlichen Einflüsse, die sich da geltend machen, der Nation als solcher an Stelle des alten einen neuen Brauch aufzudrängen oder einzuschmuggeln“ - so lautet eine Stellungnahme aus dem neunzehnten Jahrhundert. Und doch: wenn man sieht, was möglich gewesen wäre, wenn sich Jacob Grimm, Konrad Duden und der ‚Algemeine ferein für fereinfahte Deutse rehtsreibung‘ mit ihren Vorstellungen durchgesetzt hätten, so kann man mit der ‚Norm‘ von 1901 zufrieden sein. Ich setze Anführungszeichen, weil 1901 eigentlich Wegweiser in gute Richtungen und Verbotstafeln für schlechte gegeben wurden. Heute leisten wir uns das Vergnügen, die Auseinandersetzung des neunzehnten Jahrhunderts zu wiederholen. Wer kann sich dieses Vergnügen leisten? Wieder der Politiker, der nicht das eigene Geld dafür ausgeben muß. Es sind ja die Eltern, die den Duden 2004 und den Wahrig 2005 kaufen. Was ist jetzt zu tun? Wer denkt, daß es so, wie es ist, nicht gut ist, muß handeln. Da der Anspruch, die deutsche Rechtschreibung zu beschreiben, einmal gegeben ist, muß er auch erfüllt werden. Der Rat für Rechtschreibung ist dazu nicht in der Lage; hier muß man mit der Arbeit ansetzen. Natürlich kann man auch Begriffsbestimmungen durchführen und darüber reden, ob eine ganze oder eine halbe Katastrophe vorliege. Und natürlich kann man von ferne mit mildem Blick aufs Getümmel schauen und schmunzelnd alles für nicht so wichtig erklären. Man kann auch denen, die es wichtig nehmen, zurufen, daß alles oder vieles keinen Sinn habe, daß es zu spät sei und was es sonst noch für Aufmunterungen gibt. Vor Troja rief der zeitweise mutlose Thersites den Griechen zu: „Laßt doch heim in den Schiffen uns gehn!“ Ihm gab Odysseus die verdiente Kopfnuß und riet ihm, nicht auf die Heimfahrt zu hoffen: „Denn noch wissen wir nicht, wohin sich wende die Sache.“ (Homer, Ilias, Zweites Buch, ab Vers 211, Übersetzung von Johann Heinrich Voß) Und sogleich besann sich Thersites eines Besseren, war er doch auch ein Grieche: „Edler Odysseus, ich sehe es ein, du kündest es richtig. Wenn die Götter sogar wie wir dem Schicksal erliegen, wieviel mehr wird dann der Duden das Schicksal erleiden, das das weise Geschick, wie alle hoffen, ihm zuwog. Auch den Ministern sind wohl die schwersten Prügel verheißen. Sei’s so oder auch nicht: wir wollen die Sache befördern, daß wir einst in ferneren Zeiten, zurück in der Heimat, Heldentaten berichten und nicht von seligem Schlummern.“ Wohin wendet sich die Sache? Blicken wir nach Bern: Dort hat ein Einzelmensch, Großrat Christoph Stalder (FDP) in voller Unabhängigkeit, allein mit seiner Überzeugungskraft und seinem Ansehen, einen ganzen Regierungsrat und ein ganzes Parlament zu einem guten Entschluß gebracht. Er hat nichts angekündigt, nichts versprochen, nicht geschimpft: er hat gehandelt. Wer hätte das erwartet? Freuen wir uns auf das Unerwartete und tun wir etwas.
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