30.07.2005


„Schreibregeln sind Mitschriften, Nachschriften, nicht Vorschriften“

Österreichische Autoren fordern „Rückzug des Staates aus allen Angelegenheiten der Sprachregelung“

Auf Initiative der Wiener Schule für Dichtung haben namhafte österreichische Schriftsteller ein Manifest gegen die Durchsetzung der Rechtschreibreform veröffentlicht.

Auf einer Pressekonferenz im Wiener Literaturhaus wurde es am Freitag vorgestellt, APA berichtete.

Das ORF-Fernsehen wird am Montag, voraussichtlich in der Nachrichtensendung ZIB2, die auch über 3sat ausgestrahlt wird, das Thema vertiefen.

Hier die Erklärung im Wortlaut:

Schluss! Aus! Ende! Finito!
Bemerkungen zur Orthographiedebatte


Es kann nicht sein, daß ein Projekt, das "buchstäblich alle" betrifft, von einigen wenigen einfach so diktiert wird. Es kann nicht sein, daß ein Projekt des 21. Jahrhunderts mit Methoden realisiert wird, die noch aus der Kaiserzeit stammen. Es kann nicht sein, dass auch heute noch versucht wird, über die Schulorthographie den allgemeinen Sprachgebrauch zu regeln. Und es kann auch nicht sein, daß ausgerechnet eine deutsche Rechtschreibreform ohne eingehende Prüfung ihrer jüngeren Geschichte beschlossen wird. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen zu stellen:

1. Gibt es eine - personelle und konzeptuelle - Kontinuität zwischen der aktuellen deutschen Rechtschreibreform und der von Reichsminister Bernhard Rust initiierten, 1944 von Adolf Hitler als "nicht kriegswichtig" gestoppten Reform? Sind die diesbezüglichen Informationen, Kommentare und Materialien, die Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner in ihrem Buch "Rechtschreibreform und Nationalsozialismus" vorgelegt haben, einer ausreichenden Prüfung unterzogen worden?
2. Warum ist die Öffentlichkeit über die Zeit zwischen 1933 und 1945 im unklaren gelassen worden? Haben die Verantwortlichen jemals den Versuch unternommen, entsprechende Untersuchungen zu beauftragen - vor allem im Hinblick darauf, ob es mit der Übernahme der Methoden auch zu einer Übernahme der Inhalte gekommen ist? Wenn ja: was ist dabei herausgekommen?
3. Warum ist die traditionelle Tendenz, deutsche Wörter in ihrer Herkunft zu bestätigen und etymologisch zu behandeln, Fremdwörter jedoch ihrer Herkunft zu entkleiden und phonologisch darzustellen, keiner Korrektur unterzogen worden? Warum ist sie sogar noch verstärkt worden?
4. Warum wird in der laufenden Debatte seitens der Politik die eine Seite der Medaille ("Einheit") betont, die andere aber ("Vielfalt") weitgehend vernachlässigt?
5. Warum ist es in der Orthographieregelungsfrage mit seiner über 100jährigen Obrigkeitstradition nie zu einer demokratischen Neuorientierung gekommen?

Sprache ist ein lebendiges Wesen. Ihre Schreibregeln sind Nachschriften, Mitschriften – nicht Vorschriften. Sie folgen dem allgemeinen Sprachgebrauch, der klassischen und der zeitgenössischen Literatur. Sie können nicht konstruiert und von oben herab verordnet werden.

Die Unterzeichneten fordern:
1. Schluß mit staatlichen Schreibregelverordnungen!
2. Schlusz mit der Instrumentalisierung der Schulorthographie!
3. Aufschub der für den 1. August geplanten Einführung der deutschen Rechtschreibreform!
4. Aufklärung ihrer politischen Geschichte!
5. Förderung von begleitenden Maßnahmen, die den sprachlichen Reichtum der von der Vereinheitlichung betroffenen Länder gewährleisten!
6. Beauftragung von vergleichenden Studien über die Orthographieregelungspraxis in anderen Ländern, insbesondere solchen, die ohne staatliche Eingriffe auskommen!
7. Rückzug des Staates aus allen Angelegenheiten der Sprachregelung!
8. Übergabe der orthographischen Agenden an unabhängige, föderale Gremien!

Wien, am 28. Juli 2005

Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Gustav Ernst, Hans Haid, Christian Ide Hintze, Gerhard Jaschke, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Friederike Mayröcker, Anna Mitgutsch, Roland Neuwirth, Gerhard Ruiss, Julian Schutting, Marlene Streeruwitz



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=313