24.07.2005


Coute que coute

Deutsche Behörden reformieren die französische Orthographie

Beamte in deutschen Ministerien geben der Reformdebatte neuen Élan. Jetzt gilt es, das Französische zu vereinfachen.

Gabriele Ahrens gab den ersten Hinweis:

Neue französische Rechtschreibung

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Veröffentlichung im „Journal officiel de la République française“ wurde in Frankreich die neue Schreibweise von ca. 2000 Wörtern empfohlen. Sowohl die alte als auch die neue Schreibweise sind unbefristet zugelassen. Ziel der Reform ist eine Anpassung der Rechtschreibung und der Verzicht auf die Ausnahmen und Unregelmäßigkeiten.

Betroffen sind u.a. Akzentregeln, so der fast völlige Verzicht auf den accent circonflexe auf den Buchstaben i und u, u.a. s'il vous plait, connaitre, couter. Die empfohlene neue Schreibweise wurde bereits in die Neuauflage der wichtigsten französischen Wörter- und Handbücher aufgenommen.

Auch in Deutschland sind Französischlehrerinnen und -lehrer aufgefordert, mit sofortiger Wirkung die neue empfohlene Schreibweise im Unterricht zu berücksichtigen und bei der Bewertung von Schülerarbeiten beide Schreibweisen gelten zu lassen.

Detaillierte Informationen sind auf folgender Internetseite verfügbar: www.orthographe-recommandee.info.

Ich bitte Sie, die Information an die Fachkonferenz Französisch bzw. an alle Französischkolleginnen und -kollegen weiterzugeben.


Dies schrieb am 17. 1. 2005 der Bremer Senator für Bildung und Wissenschaft an die Fachkonferenz Französisch der Sekundarstufen I und II, Beruflichen Gymnasien und Beruflichen Schulen im Lande Bremen. In Schleswig-Holstein wurde ein gleichlautendes Schreiben verschickt (26. 4. 2005), und auch in Rheinland-Pfalz gab es ein solches Rundschreiben (10. 1. 2005).

Weiß jemand, ob auch in den anderen Bundesländern solche Anweisungen erteilt wurden? Am Neuen Gymnasium Oldenburg (Niedersachsen) jedenfalls wird in Französisch nichts „Reformiertes“ unterrichtet bzw. bewertet. Die angegebene Webseite ist im übrigen ganz interessant. Man erfährt etwas über den Umfang der „Reform“, wobei die im Rundschreiben erwähnten Akzentregeln nur einen Teil ausmachen. In einem Artikel zu dem Thema fand ich folgende Feststellung: „Ein besonders besorgniserregender Punkt ist die verschlechterte Rechtschreibung der aktuellen Schüler.“ Microsoft hat die neuen Regeln übrigens schon im Programm.

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Helmut Jochems hat folgendes herausgefunden:

Kürzlich schrieb eine französische Viertkläßlerin ihrer früheren Lehrerin: "Tu as etait une excellente maitresse tout au long de l'année." Man sieht, Französisch ist schwer - für Kinder allemal. Die Ministerialräte des Bremer Senators für Bildung und Wissenschaft würden diesen Satz wohl auch als Beweis für die Einführung der Rechtschreibreform in Frankreich sehen.Im Januar haben sie nämlich ihren unwissenden Ressortchef überredet, den Schulen die Übernahme der angeblichen französischen "Reformschreibungen" zu empfehlen. Gabriele Ahrens hat den entsprechenden Brief hier eingestellt. Zu denken hätte allen Beteiligten geben müssen, daß ihre einzige Informationsquelle die Webseite [BP 106 – CH-1680 Romont – contact@orthographe-recommandee.info] eines schweizerischen Vereins für Rechtschreibreform ist. Wenn man ein wenig im Internet weitersucht, erfährt man die Wahrheit. Die als "rectifications" deklarierten minimalen Änderungen sind zwar am 6. 12. 1990 vom Journal officiel de la République veröffentlicht worden, nachdem sie am 3. 5. 1990 von der Académie française angenommen worden waren. Am 17. 1. 1991 machte die Akademie jedoch in einer erneuten Erklärung wesentliche Einschränkungen: L’orthographe actuelle reste d’usage, et les «recommandations» du Conseil supérieur de la langue française ne portent que sur des mots qui pourront être écrits de manière différente sans constituer des incorrections ni être jugés comme des fautes. Elle estime qu’il y a avantage à ce que lesdites recommandations ne soient pas mises en application par voie impérative et notamment par circulaire ministérielle. Selon une procédure qu’elle a souvent mise en œuvre, elle souhaite que ces simplifications ou unifications soient soumises à l’épreuve du temps, et elle se propose de juger, après une période d’observation, des graphies et emplois que l’usage aura retenus. [Die gegenwärtige französische Rechtschreibung bleibt weiterhin üblich, und die "Empfehlungen" des Obersten Rates für die französische Sprache beziehen sich nur auf Wörter, die unterschiedlich geschrieben werden können, ohne als Regelwidrigkeit zu gelten oder als Fehler beurteilt zu werden. Sie (= die Französische Akademie) hält es für vorteilhaft, wenn diese Empfehlungen nicht als obligatorisch und insbesondere nicht durch ministeriellen Erlaß in Kraft gesetzt werden. Wie in anderen Fällen wünscht sie, daß diese Vereinfachungen oder Vereinheitlichungen der zeitlichen Erprobung unterworfen werden, und sie nimmt sich vor, nach einer Beobachtungsperiode Schreibungen und Verwendungen, die gebräuchlich geworden sind, erneut zu beurteilen.] Ein französischer Kommentator hält dieses Verfahren für selbstverständlich. Die Durchsetzung der Rechtschreibreform per Dekret sei nur in Deutschland üblich. Er schließt die Bemerkung an, daß sich so wohl auch die beiden Kulturen unterscheiden. Die Öffentlichkeit einschließlich der Presse in Frankreich ignoriert bis heute die 1990er Empfehlungen des Obersten Rates für die französische Sprache und der Französischen Akademie. Kein Erziehungsminister hat sie offiziell an die Schulen weitergeben. Allerdings erscheinen einzelne Formen in den neuesten Bänden der im Erscheinen begriffenen Neuauflage des Akademiewörterbuchs.

Inzwischen ist die Schuleinführung der französischen orthographe rectifiée auch aus anderen deutschen Bundesländern bekannt geworden. Es ist immer derselbe Text, so daß wohl mit einer zentralen Quelle gerechnet werden muß, wahrscheinlich das KMK-Sekretariat in Bonn. Offenbar soll der Eindruck verbreitet werden, in Frankreich habe es mit der Rechtschreibreform am Ende doch geklappt, warum dann nicht auch in Deutschland. In der Hauptsache geht es bei der französischen "Rechtschreibreform" um ein paar Akzente weniger oder anders und um ein paar Bindestriche mehr. Der Vergleich mit dem hiesigen Eingriff in die Schreibgewohnheiten der Bürger ist also völlig abwegig. Absolut unzutreffend ist aber auch die Annahme, die Sache sei in Frankreich gelaufen.

Am 9. 9. 2004 schrieb Marie-Éva de Villers für ein kanadisches Publikum:

Jusqu'à présent, les Rectifications de l'orthographe ont été publiées au Journal officiel en 1990, elles ont reçu l'aval de l'Académie française, mais elles ne sont toujours pas enseignées ni appliquées par le ministère de l'Éducation nationale en France. Elles sont ignorées des médias écrits et électroniques. Elles sont retenues partiellement en Belgique et en Suisse, mais leur application demeure somme toute marginale. Elles sont signalées parfois dans les principaux dictionnaires comme variantes orthographiques de l'entrée, mais elles ne sont pas employées par les lexicographes du Petit Robert, du Grand Robert ni du Petit Larousse pour la rédaction des définitions, des exemples et des explications. C'est le cas aussi pour le Multidictionnaire de la langue française qui, comme tous les dictionnaires, doit se montrer respectueux de l'usage.
[Bis jetzt werden die 1990 im Journal officiel veröffentlichten und von der Académie française unterstützten Modifikationen der Rechtschreibung weder unterrichtet noch vom französischen Erziehungsministerium angewendet. Von den Medien - gedruckt wie elektronisch - werden sie ignoriert. Teilweise haben sie in Belgien und in der Schweiz Anklang gefunden, aber ihre Verwendung bleibt insgesamt marginal. In den wichtigsten Wörterbüchern werden sie im Kopf der Einträge als Varianten aufgeführt, bei der Redaktion der Definitionen, Beispiele und Erläuterungen aber weder von den Lexikographen des Petit bzw. des Grand Robert noch des Petit Larousse verwendet. Das trifft auch auf das Multidictionnaire de la langue française zu, das - wie alle Wörterbücher - dem Usus seinen Respekt zollen muß.]

Une réforme de l'orthographe est un processus long et complexe qui crée inévitablement beaucoup d'incertitude, d'insécurité, qui perturbe les enseignants, les élèves aussi bien que les parents, sans compter les médias, les auteurs, les éditeurs. Des réticences sont à prévoir, une inévitable résistance au changement. À l'examen des Rectifications proposées en 1990, il nous semble que les inconvénients dépassent les faibles avantages que ces demi-mesures procurent. Dans ces conditions, l'entreprise en vaut-elle la peine ? L'échec de la réforme allemande de l'orthographe devrait nous inciter à la plus grande prudence.
[Eine Rechtschreibreform ist ein lang andauernder und komplexer Vorgang, der unausweichlich viel Ungewißheit und Unsicherheit mit sich bringt und die Lehrer, die Schüler und auch die Eltern verwirrt, von den Medien, den Schriftstellern und den Verlegern ganz zu schweigen. Zurückhaltung ist zu erwarten, unvermeidlicher Widerstand gegen den Wandel. Bei der Überprüfung der Modifikationen von 1990 scheinen uns die Nachteile die geringen Vorteile zu überwiegen, die diese halbherzigen Maßnahmen verschaffen. Lohnt sich unter diesen Umständen der Aufwand für das Unternehmen? Der Mißerfolg der deutschen Rechtschreibreform sollte uns zur größten Vorsicht veranlassen.]

Selbst auf Webseiten, die die französische Minireform befürworten, sieht die bisherige Bilanz sehr bescheiden aus. Man lese dieses nüchterne Résumé der schweizerischen Délégation à la langue française aus dem Jahre 2000:

Leur mise en pratique reste toutefois assez aléatoire. En Belgique et en Suisse, les formes rectifiées seraient désormais acceptées par les professeurs, mais non systématiquement enseignées, et aucune étude n'a été conduite pour mesurer un éventuel changement de pratiques.
[Ihre praktische Umsetzung bleibt indessen ganz und gar dem Zufall überlassen. In Belgien und in der Schweiz sollen die modifizierten Formen künftig angeblich von den Lehrern akzeptiert, aber nicht systematisch unterrichtet werden, doch bisher liegt keine Untersuchung vor, wie eine eventuelle Änderung der Praxis aussehen könnte.]

Ein Vergleich der beiden "Rechtschreibreformen" wäre gewiß lohnend. Er würde mit den äußeren Umständen anfangen. Einen außerordentlich aufschlußreichen Aufsatz zu den Vorgängen von 1990/91 von Heiner Wittmann [Verliert der Geschmack seinen Akzent? Das Gerangel um die französische Rechtschreibung] findet man hier.

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Einen solchen Vergleich hat vor einigen Jahren auch Jean-Marie Zemb vorgenommen.



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=310