02.06.2005 Theodor Ickler Von früh bis spät werden wir an den Folgen leidenHier tut Erste Hilfe not: Zur Kritik an der reformierten Groß- und Kleinschreibung»Erst in einem zweiten Schritt soll die Groß- und Kleinschreibung in Angriff genommen werden.«Das steht im Kommunique der Wiener Gespräche 1986; auch heute wieder scheint die Kultusministerkonferenz zu glauben, sie könne die Probleme der Groß- und Kleinschreibung zurückstellen. Darin irrt sie. Denn die Ausgangslage ist eine ganz andere als vor zwanzig Jahren: Während damals objektiv kein Handlungsbedarf bestand, hat die Reform inzwischen gerade bei der Groß- und Kleinschreibung einen völlig unhaltbaren Zustand geschaffen, dessen Beseitigung keinen Aufschub duldet. Immerhin lernen unsere Kinder in der Schule seit fast neun Jahren grammatisch Falsches! Die Großschreibung hat sich von Luther bis Gottsched zunächst zur Substantivgroßschreibung entwickelt und ist im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einer textsemantischen Profilgebung weitergebildet worden: Die sinntragenden Einheiten sind durch große Anfangsbuchstaben visuell auffällig gemacht, das bloße adverbiale und pronominale Beiwerk ist durch Kleinschreibung in den Hintergrund gedrängt worden. Die Neuregelung stemmt sich gegen diese Entwicklung, indem sie Kleinschreibung bei Nominationsstereotypen (erste Hilfe) und Großschreibung bei Adverbialien und Pronomina (im Allgemeinen, des Öfteren, bei Weitem; Folgendes, Letzterer, oder Ähnliches ) durchzusetzen beziehungsweise wiedereinzuführen versucht. Beides war schon im neunzehnten Jahrhundert bereinigt worden, die Reform ist daher in hohem Maße rückwärtsgewandt. Die neue Regel, daß substantivische Bestandteile im Inneren fremdsprachiger Fügungen groß geschrieben werden sollen, stellt viel höhere Anforderungen an den Schreibenden, als sie beispielsweise bei der Silbentrennung vorausgesetzt werden. Er muß ja die Wortart in der Fremdsprache kennen: Herpes Zoster, Dativus Commodi, Primus inter Pares, L'Art pour l'Art. Außerdem ist es widersprüchlich, fremde Substantive groß, fremde Adjektive aber keineswegs klein zu schreiben; konsequent wäre ultima Ratio, dolce Vita. Die Neuregelung ist daher zugunsten der sehr einfachen bisherigen Regelung aufzugeben: das erste Wort groß, alles übrige klein: Ultima ratio, Commedia dell'arte, L'art pour l'art. Bei Zitatwörtern ist selbstverständlich ebenfalls wie bisher zu verfahren; hier hatte sich ja auch nichts geändert. Die forcierte Zusammenschreibung (Nativespeakerin) ist hingegen abzulehnen. Warum sollen feste Begriffe, sobald sie aus Fremdsprachen stammen, groß geschrieben werden - Ultima Ratio, Soft Drink, Black Box -, während das für deutsche Konstruktionen derselben Art (erste Hilfe, schwarzes Brett) nicht gelten soll? Die Adjektive freund, feind (todfeind, spinnefeind) müssen wiederhergestellt werden. Die Reformer, ohne sprachgeschichtliche Kenntnisse und mit wenig Sprachgefühl, haben das nie verstanden. Als sie darauf hingewiesen wurden, daß es den "Spinnefeind" nicht gibt, meinten sie zwar "das ist in der Tat ärgerlich" und gaben schließlich zu, daß spinnefeind auch klein geschrieben werden könne, "da wir prinzipiell an der Großzügigkeit der Regelung festhalten möchten". Aber den Rest wollten sie sich nicht nehmen lassen. In den reformierten Wörterbüchern herrscht seitdem eine seltsame Unentschlossenheit, was diese guten alten Wörter betrifft. Die Neuregelung löst das Wort insonderheit auf und stellt eigens zu diesem Zwecke ein reichlich veraltetes Substantiv wieder her: in Sonderheit. Dies läuft der Sprachentwicklung ebenso entgegen wie die neuerdings obligatorische Großschreibung zu Eigen machen, wo in Wirklichkeit neben dem üblichen zu eigen auch eine Tendenz zur Zusammenschreibung zu beobachten ist (zueigen). Die Kleinschreibung der Tageszeiten (heute abend) ist wiederherzustellen. An der zweiten Stelle solcher Verbindungen kann kein Substantiv stehen. "Es handelt sich nicht um eine reguläre Flexionsform von Abend, da sie keinen Kasus aufweist; nominale Lexeme haben sonst nur kasusbestimmte Flexionsformen", so der Reformer Peter Gallmann noch 1991. Auch sein Kollege Klaus Heller stellt in einer millionenfach verbreiteten Broschüre fest, daß die Bezeichnung der Tageszeiten hier "nichtsubstantivisch" gebraucht werde und daher bisher klein geschrieben worden sei. Nachdem die Kritik als Reductio ad absurdum auch das ganz und gar abwegige morgen Früh in die Debatte geworfen hatte, nahmen die Reformer dies tatsächlich in die Wörterbücher auf; im revidierten amtlichen Wörterverzeichnis vom November 2004 ist es allerdings schon wieder nicht mehr enthalten. Die falsche Einstufung einiger Wörter wie leid als ehemalige Substantive ist zu korrigieren. Man kann nicht oft genug an Konrad Dudens klassisch-klare Darlegung von 1876 erinnern: "Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat." Die Korrektur des grammatisch falschen, bereits von Duden angeprangerten Recht haben (wie Recht du hast) ist überfällig. Grammatisch falsch sind auch Pleite gehen, Bankrott gehen, Diät leben. Bisher unterschied man zwischen Diät kochen (Schonkost kochen) und diät kochen (den Regeln der Diät entsprechend kochen). Die Neuregelung hat letzteres beseitigt. Im Duden-Fremdwörterbuch 2005 ist erstmals wieder das Adjektiv bzw. Adverb diät aufzufinden, aber ohne amtlichen Rückhalt und ohne Hinweis auf die Verwendung. Bei va banque handelt es sich um ein Adverb und nicht um die Bezeichnung eines Spiels, weshalb Vabanque spielen verfehlt ist. Kleinschreibung galt bisher in weitem Umfang für pronominal gebrauchte "Substantivierungen" wie das gleiche, jeder einzelne, der erste, der letztere und so fort. Ebenso ist die höchst sinnvolle Kleinschreibung bei phraseologisch gebrauchten "Substantivierungen" anzuerkennen: im allgemeinen, im voraus, des öfteren. Die vermehrte Großschreibung, eingeführt und verteidigt von Reformern, die ausnahmslos Anhänger der "gemäßigten Kleinschreibung" waren und sind, geht auf den österreichischen Industriellen und Sonderling Eugen Wüster zurück, dessen Einfluß auf die Reformbewegung zu den größten Seltsamkeiten des vorigen Jahrhunderts zählt. Eigentlich lehnten alle Reformer seine Ideen ab, aber nach dem Scheitern ihrer eigentlichen Pläne im Jahre 1993 griffen sie dennoch darauf zurück. Zu welcher Selbstverleugnung die Reformer imstande waren, zeigt ein Rückblick auf die Anfänge: Am 18.Juni 1982 verabschiedeten die Rechtschreibkommissionen der vier deutschsprachigen Staaten in Wien einen gemeinsamen Vorschlag zur Neuregelung der Groß- und Kleinschreibung. Er sah die Einführung der "gemäßigen Kleinschreibung" vor. Hermann Zabel, einer der drei westdeutschen Vertreter, schrieb darüber: "Das regelwerk stützt sich auf umfangreiche wissenschaftliche begleituntersuchungen und zieht die aus den wissenschaftlichen erkenntnissen ableitbaren konsequenzen. Insofern nahmen die in Wien versammelten experten mit erstaunen den bericht des als beobachter anwesenden dr. h. c. Otto Nüßler (Wiesbaden) zur kenntnis. Nach darstellung des geschäftsführers der Gesellschaft für deutsche Sprache bemüht sich diese um einen regelvorschlag auf der basis einer modifizierten großschreibung, in dessen zentrum die sogenannte artikelprobe und eine eigennamendefinition stehen sollen. Offenbar ist die GfdS nicht bereit, die einschlägigen wissenschaftlichen untersuchungen der letzten jahrzehnte zur kenntnis zu nehmen, die den von der rechtschreibkommission der GfdS eingeschlagenen weg als irrweg erweisen." Wenige Jahre später gingen Zabel und die anderen Rechtschreibreformer selbst genau diesen "Irrweg" und priesen ihn als bahnbrechende Großtat. Die "wissenschaftlichen Untersuchungen" spielten keine Rolle mehr. Im Zuge der Revision 2004 haben die Kultusminister schließlich dem Drängen Peter Gallmanns nachgegeben, der in den zwar flektierten, aber artikellosen Substantivierungen - bei weitem usw. - Ausnahmen sah, die "ausgesprochen schlecht in die Systematizität der Neuregelung" passen. Kommissions- und Ratsmitglied Richard Schrodt behauptete sogar: "Präpositionen stehen eigentlich, wenn man diese Wortart universalgrammatisch faßt, immer nur vor Substantiven. Andere Wortarten werden substantiviert und müßten demgemäß auch groß geschrieben werden (zwischen Heute und Morgen, von Früh bis Spät)." Das zeigt, wohin die Reise gehen könnte: von Hier bis Dort, ab Heute, ich halte Ottos Vorschlag für Riskant, Anna und Benno wollen auf Ewig beisammen bleiben. Auch Gallmann strebt eigentlich, wie aus seiner jüngsten Stellungnahme hervorgeht, weiterhin die "gemäßigte Kleinschreibung" an, die angesichts der bis ins Absurde übersteigerten Großschreibung tatsächlich als einziger Ausweg aus dem angerichteten Durcheinander erscheinen könnte. Die Verknüpfung von Apostroph und Großschreibung (Goethe'sche Gedichte) ist eine unnötige Änderung, die gestrichen werden sollte. Der Apostroph hat andere Aufgaben (wie auch manche unzufriedenen Reformer hervorheben). Die Neuregelung führt dazu, daß etwa das Ohm'sche Gesetz, aber der Halleysche Komet geschrieben werden soll - eine unerhörte Komplikation. Unter Sprachkundigen sollte es unstrittig sein, daß man nicht schreibt Hier ist erste Hilfe Not - sondern Hier ist Erste Hilfe not. Das Österreichische Wörterbuch bietet die Köstlichkeit: Hilfe dringend Not (nötig) haben; der hat's Not (nötig). Und dazu noch das Duden Universalwörterbuch "Not sein (veraltend für nötig sein)"! Die verordnete Kleinschreibung der Briefanrede (du, ihr) ist ein unzulässiger Eingriff des Staates in private Ausdruckskonventionen und daher zurückzunehmen. Insgesamt sollte bei der Groß- und Kleinschreibung gar nichts neu geregelt werden, ausgenommen die manchmal zu dogmatische Darstellung im Wörterverzeichnis des Duden (im trüben fischen, sein Schäfchen ins trockene bringen). Wie bei der Getrennt- und Zusammenschreibung sollten wir anerkennen, daß der Usus einer großen Sprachgemeinschaft möglichweise klüger ist als der jeweils aktuelle Stand wechselnder Theorien. Die bedeutenden Orthographen des neunzehnten Jahrhunderts wußten das noch: "Daß es bei diesen Unterscheidungen nicht ohne Zweifel abgehen kann, liegt in der Natur der Sache; wo fängt das Substantiv an, wo hört es auf?" schrieb Wilhelm Wilmanns 1887. Solche Zweifel behebt man nicht mit dezisionistischer Festlegung, sondern durch liberale Handhabung, die dem Usus und dem Gegenstand gerecht wird. Der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler, einer der profiliertesten Gegener der Rechtschreibreform, ist vom P.E.N. in den Rechtschreibrat entsandt. Quelle: F.A.Z., 3. 6. 2005
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