28.04.2005


Hans Krieger

„Wem gehört die deutsche Orthographie?“

Zu dem Artikel von Michael Braun in »Freitag« vom 22.4.2005

Die Frage, wem die Orthographie gehöre, wird nur im Titel aufgeworfen und im Text nirgendwo näher erörtert;
den Tatbestand der »kulturpolitischen Besitzergreifung« aber, den der Untertitel konstatiert, sieht der Autor nicht etwa durch die Anmaßung der Rechtschreibreformer erfüllt, mit der orthographischen Neuregelung zugleich Wortbildungsprozesse rückgängig zu machen, Ausdrucksdifferenzierungen zu beseitigen und die Grammatik zu verbiegen, sondern durch den Widerstand von Schriftstellern und Sprachgelehrten gegen die autoritär verordnete sprachkulturelle Regression. Diese Kritiker der Reform, denen er »eiserne Selbstherrlichkeit« und kulturkämpferisches Partisanentum vorwirft, erheben nach Brauns Ansicht einen »Besitzanspruch« auf das Sprachempfinden, »das wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird«. Ich erhebe keinen Besitzanspruch auf die Grammatik, wenn ich feststelle, daß einen so vermurksten Satzbau sich nicht leisten darf, wer sich in einem Streit um Sprachprobleme zum Richter aufwerfen will. So wie der Satz dasteht, besagt er, daß das Sprachempfinden vor dem Sprachempfinden hergetragen wird, und das ist blanker Unsinn. Wer wie Braun meint, ein einzelner wie der Linguist Theodor Ickler könne ein »Think tank« (sic!) sein, ist gegen solchen Unsinn natürlich nicht gefeit, qualifiziert sich damit aber nicht gerade für eine seriöse Sprach-Diskussion.
Darauf kommt es Braun auch gar nicht an. Ihm geht es nur um die Überlegenheits-Illusion, die man beim verbalen Eindreschen auf einen imaginären Gegner genießen kann. Da es zu den Regeln dieses Spiels gehört, daß man Süffisanz mit Intelligenz und polemische Pointen mit Argumenten verwechselt, wäre mehr als oberflächliche Informiertheit dabei nur hinderlich. Daß gerade Zeitungsschreiber dieses Spiel so gerne mit Kritikern der Rechtschreibreform spielen, ist schwer zu verstehen, denn sie schädigen damit ihre eigenen Interessen. Eigentlich müßten sie sich freuen, daß es Leute gibt, die sich für die Einhaltung der Fundamente des journalistischen Handwerks einsetzen.
Für resistent gegen Argumente hält Braun die Reformkritiker. Er hätte den Versuch ja mal machen und ein Argument vorbringen können, aber es ist ihm kein einziges eingefallen. Kein Wunder: niemand hat ein Argument für die Reform, das einer sachlichen Debatte länger als zwei Minuten standhielte. Nur gegen die »alte« Rechtschreibung hat Braun ein Argument: sie zwinge, »Recht geben« zu schreiben, aber »recht haben«, »Auto fahren«, aber »radfahren«. Ja wenn es weiter nichts ist! Was »Recht geben« angeht, so hätte schlichtes Nachschlagen vor der uneidlichen Falschaussage (die in diesem Fall nicht strafbar ist) bewahren können. Bei »Auto fahren« hat Braun recht. Wie man es vermeidet, aus einer solchen Winzlingsmücke einen Elefanten zu machen, konnte er seit Jahrzehnten bei einem »kulturkämpferischen Partisanen« wie mir nachlesen: eine simple Toleranzregel, daß in solchen schwer zu klärenden Zweifelsfällen das Stilgefühl des Schreibenden entscheidet, hätte genügt. Stattdessen hat der reformerische Großangriff für jeden bereinigten Zweifelsfall hundert neue entstehen lassen. Wie erklärt sich denn Herr Braun, daß man nicht mehr, wie früher, »eine Handvoll Kirschen« essen darf, sondern nur noch »eine Hand voll Kirschen«? Hat er jemals eine Hand verspeist, die mit Kirschen gefüllt war? Und zeugt es von Besitzanspruch, wenn man sich gegen die Nötigung wehrt, etwas anderes zu schreiben als das, was gemeint ist?

P.S.: Den Artikel in »Freitag«, auf den sich Hans Krieger bezieht, finden Sie hier.



Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=247