14.03.2005


Theodor Ickler

Worauf ist bei der Revision der reformierten Groß- und Kleinschreibung zu achten?

Neufassung des Textes zur Diskussion beim Rat für deutsche Rechtschreibung vom 8. März 2005

Die Großschreibung hat sich von Luther bis Gottsched zunächst zur Substantivgroßschreibung (also zur Auszeichnung einer Wortart) entwickelt und ist im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einer textsemantischen Profilierungstechnik weitergebildet worden:

Die sinntragenden Einheiten sind durch große Anfangsbuchstaben visuell auffällig gemacht, das bloße adverbiale und pronominale (v. a. textverweisende) Beiwerk ist durch Kleinschreibung in den Hintergrund gedrängt worden. Die Neuregelung stemmt sich gegen diese Entwicklung, indem sie Kleinschreibung bei Nominationsstereotypen (also „festen Begriffen“ wie erste Hilfe) und Großschreibung bei Adverbialien und Pronomina (im Allgemeinen, des Öfteren, bei Weitem; Folgendes, Letzterer) durchzusetzen bzw. wiedereinzuführen versucht. Beides war schon im 19. Jahrhundert bereinigt worden, die Reform ist in hohem Maße rückwärtsgewandt. Im einzelnen ergeben sich folgende Forderungen (Paragraphen nach der Neuregelung von 1996):

§ 55 (3) Die Regel, daß substantivische Bestandteile im Inneren fremdsprachiger Fügungen groß geschrieben werden sollen, stellt außerordentlich hohe Anforderungen an den Schreibenden, der ja die Wortart in der Fremdsprache kennen muß: Herpes Zoster, Dativus Commodi (?) usw. Außerdem ist es widersprüchlich, fremde Substantive groß, fremde Adjektive aber keineswegs klein zu schreiben; konsequent wäre ultima Ratio, dolce Vita usw. Die Neuregelung ist daher zugunsten der sehr einfachen bisherigen Regelung aufzugeben: das erste Wort groß, alles übrige klein: Ultima ratio, Commedia dell'arte usw. (Da bei englischen Entlehnungen, die im Deutschen eine Sonderstellung haben, bisher schon eine große Unsicherheit herrschte, könnte man die Regel hierauf ausdehnen und verallgemeinern: Centre court, Big band, Hot jazz usw.)

§ 55 (6) Die Kleinschreibung der Tageszeiten (heute morgen usw.) ist wiederherzustellen. An der zweiten Stelle solcher Verbindungen kann, wie bereits Wilmanns im 19. Jahrhundert gesehen und Peter Gallmann 1991 gezeigt hat, kein Substantiv stehen, gerade nach den Kriterien, die im Regelwerk selbst genannt sind. Es kommt nicht darauf an, ob irgendein Grammatikmodell hier ein „Adverb“ nachweisen kann oder nicht.

§ 56 Die falsche Einstufung einiger Wörter wie leid als ehemalige Substantive ist zu korrigieren. Man kann nicht oft genug an Konrad Dudens klassisch-klare Darlegung erinnern:
„Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie … Leipzig 1876, S. 70)

§ 57 ist im Sinne von H. H. Munskes ausführlich begründeter Darstellung zu korrigieren:
– Kleinschreibung gilt in weitem Umfang für pronominal gebrauchte „Substantivierungen“ wie das gleiche, jeder einzelne, der erste, der letztere usw.
– Ebenso ist die eingebürgerte Kleinschreibung bei phraseologisch gebrauchten „Substantivierungen“ anzuerkennen: im allgemeinen, im voraus, des öfteren usw.
Großschreibung ist hier – besonders bei Hervorhebung der lexikalischen Bedeutung – nicht falsch, aber längst unüblich geworden. Die ausschließliche Zulassung der Großschreibung läuft der modernen Sprachentwicklung entgegen.
§ 62 Die Verknüpfung von Apostroph und Großschreibung (Goethe'sche Gedichte) ist eine unnötige Änderung, die gestrichen werden sollte. Der Apostroph hat andere Aufgaben.
§ 63 Diese Regel wird der Sprachwirklichkeit noch weniger gerecht als die bisherige Dudenregelung. Es gibt viele „appellativische Nominationsstereotype“, die man gewöhnlich groß schreibt nach dem Muster von Schwarzes Brett. Hier sollte man eine breite Übergangszone anerkennen, die sich nicht abschließend regeln läßt.
§ 66 Die neu verordnete Kleinschreibung der Briefanrede (du, ihr) ist ein unzulässiger Eingriff des Staates in private Ausdruckskonventionen und daher zurückzunehmen. (Die Presseagenturen haben im Widerspruch zur Neuregelung die Großschreibung sogar noch ausgedehnt, was ebenfalls nicht gutzuheißen ist.)
Insgesamt sollte bei der Groß- und Kleinschreibung gar nichts neu geregelt werden, ausgenommen die manchmal zu dogmatische Darstellung im Wörterverzeichnis des Duden (im trüben fischen, sein Schäfchen ins trockene bringen). Der Regelapparat von 1996 ist zu fehlerhaft, die Revision von 2004 zu verworren, als daß man da noch etwas reparieren könnte.

Wenn man sieht, wie viele Ratsmitglieder in ihren Stellungnahmen die Einführung der „gemäßigten Kleinschreibung“ fordern, muß man sich wundern. Alle wissen, daß dieser Punkt nicht auf dem Programm steht; die Politiker hatten schon den Internationalen Arbeitskreis darauf festgelegt, das Thema nicht mehr anzurühren. Mit der so offensichtlich abwegigen Forderung (wie auch mit der ebenso aussichtslosen Forderung, den Buchstaben ß ganz abzuschaffen) soll entweder nur von den verbliebenen Fehlern der Reform abgelenkt werden, oder die Reformer wollen tatsächlich doch noch die Kleinschreibung einführen, nachdem sie durch absurd übersteigerte Großschreibung für hinreichende Verwirrung gesorgt haben. Daß diese Reductio ad absurdum der heimliche Zweck der ausgedehnten Großschreibung gewesen sein könnte, hatten Kritiker schon vor Jahren vermutet.



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