02.03.2005


Urs Bärlein

Der tägliche Skandal

Bemerkungen zur Zeitungsorthographie

Ein heller Kopf hat einmal festgestellt, ein Skandal werde erst dadurch zum Skandal, daß er in der Zeitung steht. Die Rechtschreibreform ist ein Skandal, der jeden Tag in der Zeitung steht.

Und und zwar unabhängig davon, ob das Blatt reformiert, scheinreformiert oder rückumgestellt ist. Bei den Printmedien scheint zur Zeit aber einiges im Fluß zu sein. Überraschend war die Kehrtwendung, die sich beim Deutschen Journalistenverband (DJV) andeutet. Dessen Delegierte im offiziellen Rechtschreibrat, Ulrike Kaiser, zugleich leitende Redakteurin des Verbandsorgans „Journalist“, hatte noch in der Septemberausgabe 2004 des Blattes – die Rechtschreibreform war Titel, nachdem das Thema jahrelang so gut wie nicht vorkam - in einer hart an die Grenzen der Berufsethik gehenden Einseitigkeit zugunsten der Rechtschreibreform berichtet. Auch präsentierte sie die überwiegend reformkritischen Leserbriefreaktionen im Oktober- und Novemberheft noch im Sinne dieser Tendenz. Nun zeigt sie zumindest in Sachen Getrennt- und Zusammenschreibung eine Haltung, die im Ergebnis auf die Position des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger hinausläuft.

Daß dort die Reformfront längst nicht so fest steht, wie der Blick auf den Zeitungsmarkt vermuten ließ und läßt, deutete sich aber schon im Sommer nach der Rückkehr-Ankündigung von Spiegel, Springer und SZ an. Die Nachrichtenagentur dpa berichtete wiederholt über die bei ihren Kunden eingeholten Stimmungsbilder, die zwar eine starke Neigung, aber keine eindeutige Mehrheit für eine Rückkehr zur herkömmlichen Orthographie wiedergaben. Diese Nachrichten schlugen sich jedoch aus verständlichen Gründen nicht in der Presse nieder. Diejenigen Blätter, deren Verleger bzw. Chefredakteure an der Reform festzuhalten entschlossen waren oder sich gar in Kommentaren auf deren Seite schlugen, hatten kein Interesse daran, ihre Leser wissen zu lassen, andere könnten vielleicht anderes für vernünftig halten. Und die Zeitungen, die mit einer Rückkehr zum Bewährten liebäugelten, waren ebenfalls nicht daran interessiert, ihre Leser zu verunsichern. Ein Spagat, wie ihn der Spiegel, wenn auch inzwischen wohl in einer etwas entspannteren Form, seit Monaten vorführt, setzt nicht nur bei der Redaktion eine hohe Leidensbereitschaft voraus.

Die Reformkritiker vermuten zu Recht, daß den Nachrichtenagenturen, speziell dpa, bei der Durchsetzung der Reform eine zentrale Rolle zukam bzw. zukommt. Die Agenturen spielen aber nicht, jedenfalls nicht im Fall der wichtigsten Agentur dpa, die Rolle des Bösewichts, wie manche glauben. Die dpa ist Eigentum der Zeitungen und anderer Medien, die ihre Nachrichten von dieser Agentur beziehen. Bei dpa handelt es sich im Grunde um nichts anderes als einen großen Korrespondenten-Pool. Einen solchen Pool richtet man ein, wo Tendenz und Profil eines Produktes nicht unter dem Verzicht auf Exklusivität leiden. Man richtet ihn auch ein, um nicht selbst an jedem Punkt der Welt, wo vielleicht etwas Wichtiges passieren könnte, einen eigenen Mann bezahlen zu müssen. Das ist eine wirtschaftliche Entscheidung, und dementsprechend muß auch die Agentur wirtschaftlich arbeiten. Mit zwei verschiedenen Orthographien geht das nicht.

Als 1999 die Tageszeitungen, einschließlich FAZ, sich zu einem Zug der Lemminge formierten, die – sei es jubelnd, sei es grummelnd – die sogenannte Rechtschreibreform als ihr unausweichliches Schicksal ansahen, stellte dpa natürlich auf „Neuschrieb“ um. Womit die Agentur zugleich den Gruppenzwang verstärkte, dessen Ergebnis ihr eigenes Verhalten war: Wer jetzt noch an der herkömmlichen Rechtschreibung festhalten wollte, mußte erhebliche wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen. (Dabei ist es egal, ob eine doppelte Orthographie – Eigenbeiträge in herkömmlicher, Agenturbeiträge in reformierter Rechtschreibung – tatsächlich schädlicher gewesen wäre als ein durchgehend reformiertes Erscheinungsbild. Entscheidend ist, daß die Branche die orthographische Einheitlichkeit für ein unumstößliches Axiom hält.)

Diese Nachteile fallen um so stärker ins Gewicht, je weitmaschiger das eigene Korrespondentennetz einer Zeitung und je mehr sie auf Nachrichtenaktualität angewiesen ist. So hätte eine Wochenzeitschrift wie die „Zeit“ die Reform ebenso getrost ignorieren können wie die Bildzeitung. Beide Blätter sind auf druckfertig aufbereitetes Agenturmaterial kaum angewiesen und leben im wesentlichen von Beiträgen ihrer Mitarbeiter und Redakteure. Anders sieht es bei der mittelständischen Lokal- und Regionalpresse aus. Hier handelt es sich durchweg um Tageszeitungen, die nur ihre lokale und regionale Berichterstattung mit eigenem Personal abdecken. Was darüber hinausgeht, wird in der jeweiligen Landeshauptstadt, in Berlin und, wenn es hoch kommt, in London, Paris, Washington und Moskau vielleicht noch von einem Pool geleistet. Der Rest ist dpa oder eine andere Agentur.

Zugleich ist Aktualität für diese Sorte Zeitungen im Wettbewerb mit überregionalen Angeboten eine der wenigen Chancen, Qualität zu beweisen. Der FAZ- oder SZ-Abonnent in der Provinz weiß, daß er seine Zeitung nur dann rechtzeitig zum Frühstück bekommen kann, wenn dessen Redaktion darauf verzichtet, auch noch den jüngsten Bombenanschlag von 22 Uhr am Vortag vermelden zu wollen. Er wird dafür durch die Qualität der Hintergrundberichterstattung und der Kommentierung am nächsten Tag entschädigt. In seinem Lokalblatt will er jedoch wiederfinden, was er schon in den Spätnachrichten des Radios oder Fernsehens gehört hat. Das aktuelle Nachrichtenmaterial seiner Heimatzeitung stammt von einer Agentur, und je später der Abend ist, desto knapper die Zeit, das Rohmaterial noch orthographisch in eine andere Form zu bringen. Schon deshalb ist die Lokal- oder Regionalzeitung zur Rechtschreibung der Agentur vergattert. Wie stark dieser Zwang wirkt, läßt sich ermessen, wenn man die FAZ zur Hand nimmt, die zwar ein dichtes eigenes Korrespondentennetz hat, aber ebenfalls auf Aktualität achten muß und deshalb nicht ganz an den Agenturen vorbeikommt. Wenn dort, was auch nach über vier Jahren Rückumstellung immer wieder passiert, die Orthographie in Richtung Reform auskeilt, liegt das an Zeitknappheit. (So fand sich jüngst in einer offensichtlich von einer Agentur übernommenen Meldung ein „Eissschnell-Läufer“ - mit drei „s“.)

Das Gewicht der Agenturen lastet auf der Lokal- und Regionalpresse auch aus einem anderen Grunde schwer. Nicht nur Nachrichten, auch Kommentare im „Mantel“ stammen zunehmend von dpa-Leuten. Warum auch eine eigene Politikredaktion bezahlen, wenn die sowieso nichts anderes absondern kann oder darf als den vermeintlichen Common sense? Sparzwänge und der Mainstream der postnationalsozialistischen Gesellschaft spielen hier zusammen. Das ist derzeit nur eine Tendenz, aber es ist nichts in Sicht, was sie aufhalten könnte.

Fazit: Die Agenturen, insbesondere diejenige, auf die es ankommt, sind ein massiver Faktor, der in Verbindung mit der wirtschaftlich seit Jahren klammen Situation der Printmedien auf eine Beibehaltung der Reform hinarbeitet.

Zugleich ist dpa als Täter selbst das Opfer seiner Opfer. Derselbe Mechanismus, der die Agentur zu einem Instrument der Reform machte, kann sie jederzeit in einen Bumerang für diese verwandeln. Denn sobald eine Mehrheit der Eigentümer von dpa eine bessere Orthographie verlangt, wird dpa diese liefern – für alle Abnehmer. Da müssen sich die reformwilligen Zeitungen dann genauso unterwerfen wie zuvor die Zauderer.

Auf dpa kommt es also gar nicht an. Worauf es ankommt, sind die Abnehmer und deren Einsicht in ihre ureigensten wirtschaftlichen Interessen. Wenn Spiegel und Springer ihre „Verantwortung für die kommenden Generationen“ entdeckt haben, ist das zwar schön, dürfte aber im Fall dieser beiden Verlage nicht der ausschlaggebende Gesichtspunkt gewesen sein. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sich die zwei wirklich professionell arbeitenden Printmedienunternehmen der westdeutschen Nachkriegszeit zu dem Coup vom August 2004 zusammenfanden.



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