29.01.2005 Hans Krieger Zur Rücknahme gibt es keine AlternativeEntgegnung auf Prof. Helmut Jochems und Prof. Theodor IcklerZu der in den Kommentaren seines Beitrags vom 26.1.2005 „Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern Chance“ entstandenen lebhaften Diskussion schickt uns Hans Krieger seinerseits eine Stellungnahme, die schon von ihrem Umfang her mehr als ein weiterer Kommentar zu diesem Thema ist und deshalb hier – auch der Übersichtlichkeit wegen – als neuer Beitrag wiedergegeben wird.Ich bitte Herrn Professor Jochems und Herrn Professor Ickler, mich besser zu verstehen. Daß die übliche Schreibung einen Zwangscharakter weder hat noch haben darf, war der Kern meiner Aussage; ihre Kodifizierung ist vielmehr eine nachdrückliche Zweckmäßigkeitsempfehlung, deren sorgfältige Beachtung der Nuancendeutlichkeit dient und damit eine hochdifferenzierte schriftliche Kommunikation erst möglich macht. Der Sinn der Norm ist nicht, das eine zu erzwingen und das andere zu verbieten, sondern Orientierung am als zweckmäßig Bewährten und Üblichen zu ermöglichen. Die „deutsche Anpassungsmanie“, die Jochems beklagt, ist nicht in der orthographischen Norm oder den ihr zugrundeliegenden Denkstrukturen verankert, sondern im gewohnheitsmäßig zwanghaften Umgang mit dieser Norm, der die Norm zum Fetisch macht, zu einem heiligen Gesetz, dessen Mißachtung einen Mangel an Bildung, an sprachlicher Disziplin oder an Gehorsamsbereitschaft verrät und darum irgendwie geahndet werden muß. Dieser absurde Korrektheitswahn, der den Sinn der Rechtschreibung vollkommen verkennt, ist das eigentliche Problem und hat dem ganzen Reformkrampf erst den Boden bereitet. Und in diesem Korrektheitswahn und nicht in der kodifizierten Rechtschreibung selber sehe ich den „deutschen Sonderweg“ (Jochems); in keiner mir bekannten Sprache ist das orthographisch „Richtige“ so fetischisiert wie im Deutschen. (Gewisse Sonderentwicklungen der deutschen Orthographie, die spezifischen Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache Rechnung tragen wie der Möglichkeit zur schier unerschöpflichen Neubildung von Komposita, sind davon sorgsam zu unterscheiden; zu Wortbildungen wie „wohlbekannt“, „kennenlernen“ oder „spazierengehen“ gibt es Analogien, die heute noch produktiv wären, weder im Englischen noch im Französischen, das zwar Bildungen wie „bienvenu“ kennt, aber nach diesem Muster nichts Neues mehr hervorbringt.) Ich rede also keiner zwanghaften Überregulierung das Wort, sondern plädiere für eine Regelung, die den Spielraum für Ausdrucksnuancen so weit offen hält, wie nur irgend möglich. Weil aber meiner Erfahrung nach kaum eine Schreibvariante frei von semantischen Implikationen ist (zumindest im Ausdruckswert oder der emotionalen Färbung, die nicht zur Semantik zu rechnen ein verkürztes Verständnis von Semantik verriete), kann ich einen Freiraum der Beliebigkeit nur in minimalen Randbereichen akzeptieren. Die Rundbögen in Icklers Wörterbuch, die wahlweise Getrennt- oder Zusammenschreibung anbieten, können mir darum nur in seltenen Fällen genügen, denn sie geben keine Entscheidungshilfe, sondern suggerieren lediglich, daß es egal sei, wie man schreibt. Es geht aber immer um die Entscheidung: was will ich eigentlich sagen, und wie sage ich es so, daß es für den Leser optimal deutlich wird? Im Alltagsgebrauch mag es relativ egal sein, wie man schreibt, und es gibt keinerlei Grund, von jedem Büroleiter und jeder Einzelhandelskauffrau die Spezialkompetenz vollkommener orthographischer Sattelfestigkeit zu erwarten. In der avancierteren Sprachkultur aber ist es nicht egal, ob zwischen „alles mögliche“ und „alles Mögliche“, zwischen „im allgemeinen“ und „im Allgemeinen“, zwischen der „heißersehnten“ und der „heiß ersehnten“ Kartoffel unterschieden werden und in einem Satz wie „er startete als vierter und ging als Erster ins Ziel“ der logische Kategorienunterschied zwischen den beiden Zahlwörtern markiert werden kann. Es kann und darf also nicht egal sein, ob das Sensorium für solche Feinunterscheidungen noch gebildet und geschult werden kann oder durch orthographische Nivellierung abgetötet wird. Darum darf es eine Zwei-Klassen-Orthographie nicht geben, wohl aber ein gelassenes Hinnehmen der Tatsache, daß es in der Nutzung der gerade durch ihre Regelhaftigkeit gesicherten Freiheitschancen der Rechtschreibung ebenso krasse Niveauunterschiede gibt wie in der Beherrschung der Grammatik und der Ausschöpfung des schier unendlichen Reichtums des Wortschatzes. In meiner Zeit als Zeitungsredakteur habe ich jahrelang einen alltäglichen und nicht immer erfolgreichen Kampf mit den Korrektoren um die damals vom Duden nicht zugelassene Kleinschreibung nach dem Doppelpunkt ausgefochten – nicht weil ich die Großschreibung generell für einen Fehler gehalten hätte und die Kleinschreibung jedem hätte vorschreiben wollen, sondern weil die Großschreibung meinem syntaktischen Denken im Weg stand und meine stilistische Absicht empfindlich beeinträchtigt hätte. Beide Schreibweisen sind vertretbar, für beide gibt es Gründe. Es ist aber weder egal noch pure Geschmackssache, welche man wählt, denn die Wahl hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Satzgefüges. Und ich bleibe überzeugt, daß die meisten Gymnasiasten und sogar aufgeweckte Grundschüler für solche Wahrnehmungsdifferenzierungen potentiell empfänglich sind; das Gespür ist ihnen nur ausgetrieben worden durch einen völlig von der Angst vor dem Fehlermachen beherrschten Unterrichtsdrill. In den Jahren, in denen ich an einem journalistischen Fortbildungsinstitut „Spracharbeit“ unterrichtete, habe ich zu meinen Studenten nie gesagt: „Dies ist richtig“ oder „Dies ist falsch“. Sondern ich habe immer versucht, das Bewußtsein dafür zu schärfen, was genau anders wird, wenn man einen Satzbau anders wendet, ein Wort anders wählt, ein Satzzeichen anders setzt oder eine andere Schreibweise benützt. Das lief meist erstaunlich gut, war in aller Regel sehr produktiv, machte den meisten Spaß und hat mir viel Dankbarkeit eingebracht. So ähnlich würde ich mir auch den Sprachunterricht an der Schule vorstellen: als Einladung, den Reichtum der Sprache denkend zu erkunden und ihre Chancen kreativ zu nutzen, statt sich vor der vermeintlichen Heimtücke ihrer Fehlerquellen zu fürchten. Die ganze heutige Rechtschreib-Diskussion scheint mir immer noch daran zu kranken, daß die meisten Erwachsenen in ihrer Kindheit einen traumatisierenden Rechtschreib-Drill erlitten haben und darum Orthographie für ein Zwangsinstrument halten, das keine andere Wahl zuläßt als gehorsame Unterwerfung, trotziges Aufbegehren oder verächtliche Gleichgültigkeit. Natürlich setze auch ich nicht allein auf eine vernünftigere Didaktik. Ich wünsche mir einen Einstellungswandel durch Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn der Rechtschreibung: nicht Selbstzweck, sondern Hilfsmittel der klaren Verständigung, nicht Zwang, sondern Chance, nicht Drangsalierung beim Schreiben, sondern Service für den Leser, ohne dessen detailgenaues Verständnis das Schreiben seinen Zweck verfehlt. Was die Darstellung im Wörterbuch angeht, so räume ich gerne ein, noch nicht auf alle Fragen eine komplette und befriedigende Antwort zu haben. Der Hinweis, daß Rechtschreibung einzig und allein der Deutlichkeit der Verständigung dient und ohne verläßliche Geregeltheit diesen Zweck nicht erfüllen kann, sollte in keinem Wörterbuch fehlen. Nützlich wäre auch der Hinweis, daß es neben einer beruhigten Kernzone der dauerhaften Stabilität („Kaiser“, „Boot“ etc.) fluidere Randbereiche gibt, wo die Dinge ein wenig im Fluß bleiben. Hierzu gehören neben der Fremdwortschreibung vor allem die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung: der Prozeß der Neubildung von Univerbierungen ist unabgeschlossen und unabschließbar, und auch das „Verblassen“ von Substantiva zu adverbialen Wendungen kann weitergehen (ich weiß, daß „Verblassen“ ein linguistisch anfechtbarer Begriff ist, aber jeder weiß, was gemeint ist.) In diesen Bereichen unabgeschlossener Entwicklung kann es „das Richtige“ und „das Falsche“ nicht geben, sondern nur „das Richtigere“ und „das weniger Richtige“, noch besser wäre es, vom „Zweckmäßigeren“ und „weniger Zweckmäßigen“ zu sprechen. Bloße Beliebigkeit aber sollte aus den genannten Gründen auch hier nicht herrschen. Dem Ratsuchenden sollten klare Präferenzen angeboten werden: eine hervorgehobene Hauptvariante (die in aller Regel auf der Linie dessen liegt, was Ickler die „progressive“, also im Trend der spontanen Sprachentwicklung liegende Schreibung nennt), zu der in Klammern eine Nebenform angegeben werden kann. Wo der Bedeutungsunterschied einigermaßen erheblich ist, sollte dies mit einem Beispiel erläutert werden; wo er exemplarisch ist, dürfte einer der bewährten „Kästen“ hilfreich sein. Zusätzlich empfiehlt sich eine Faustregel: „im Zweifelsfall zusammen, im Zweifelsfall klein“. Die Kleinschreibung von „auf dem laufenden“ ist problemlos als zweckmäßig zu begründen nach dem gleichen Muster wie bei „des weiteren“ oder „im übrigen“. Denn wenn ich „auf dem laufenden“ bin, so heißt dies nichts anderes, als daß ich aktuell informiert bin, und nicht, daß ich mich auf einem Ding befinde, das man „das Laufende“ nennen könnte. Wenn die Großschreibung der Hervorhebung dessen dient, „wovon eigentlich die Rede ist“, also den Satzbau verdeutlicht, wie auch Jochems meint, so ist die Großschreibung „auf dem Laufenden“ für den Leser störend. Im Wörterbuch sollte die Kleinschreibung als Regelfall markiert und die Großschreibung als wenig zweckmäßig, aber möglich in Klammer gesetzt werden. Die Einführung der Rechtschreibreform mit ihrer abstrusen Mischung aus Zwanghaftigkeit und Beliebigkeit, aus Pedanterie und Unverstand war ein kulturschädigender Gewaltakt der Politik und Administration, für den es keine Legitimationsgrundlage gibt. Die minimalen Unstimmigkeiten und Rigiditäten der alten Rechtschreibung sind damit nicht im entferntesten zu vergleichen, und ich halte es für gefährlich, mit unserer Diskussion auch nur den Anschein eines Anscheins zu erwecken, als kämen wir bei einer Rücknahme der Reform von der Traufe in den Regen. Zur Rücknahme gibt es keine Alternative, denn nur so kann die Anmaßung des Staates beendet werden; jedes Nachbessern, selbst ein einschneidendes, ist Fortsetzung dieser Anmaßung. Erst wenn der Staat die angemaßte Regelungsgewalt niedergelegt und an die Sprachgemeinschaft zurückgegeben, also den status quo ante wiederhergestellt hat, kann ein „Auskämmen“ (Ickler) der alten Rechtschreibung stattfinden. Es hat äußerst behutsam zu sein, und übermäßige Eile hat es damit nicht. Ich persönlich habe aber nicht dafür gegen die Rechtschreibreform gekämpft, um mir von einer vereinfachten Altschreibung ebenfalls, wenn auch weniger rigoros, die Differenziertheit des schriftsprachlichen Ausdrucks beschneiden zu lassen.
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