06.12.2004


„Ach du lieber Gott!“ – „Hören Sie doch auf!“ – „Quark!“

Ein Bildungssprecher als Fraktionsclown

Stand der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss am Abend des 2. Dezember unter Drogen?

22 Zwischenrufe in weniger als 30 Minuten vermerkt das Bundestagsprotokoll für ihn, nicht jeder den Stenographen offenbar mehr verständlich, und dazu wiederholtes einsames Beifallklatschen. Hätte der Abgeordnete Tauss während der nächtlichen Aussprache zur Rechtschreibreform Knallerbsen oder Stinkbomben zur Hand gehabt, er hätte selbst die wohl geworfen.

– Jörg Tauss ist Fraktionssprecher für Bildung und Forschung. Bereits der Bericht von Eberhard Rathgeb in der F.A.Z. vom 4.12. las sich beklemmend – und doch war er nur eine Einstimmung auf die Schilderung, die Christoph Schmitz im neuen Spiegel (Heft 50/04, S. 45) gibt:

»Bonsoir Tristesse

Der Bundestag verweigerte eine ernsthafte Debatte zur Orthografie. Nun ruhen die Hoffnungen auf einem bayerischen Ex-Minister.

Es ist ein öder Abend im Reichstag. Von den 601 Bundestagsabgeordneten sitzen nur noch 24, meist unbekannte Hinterbänkler, auf ihren blauen Stühlen. Zwei Liberale, zwölf Unionsleute, vier Grüne und sechs Sozialdemokraten.

Die Nachtschicht ist angetreten zur Wacht an der Spree. Am neunten Sitzungstag der laufenden Plenarwochen geht es zu später Stunde um Zuckerwirtschaft, Küstenwache und Rechtschreibreform. Routinemäßig wird dazwischengerufen, gelacht und gepöbelt, um den jeweiligen Redner aus dem Konzept zu bringen. Nicht die Sache ist von Interesse, sondern die Zurschaustellung der Machtverhältnisse. Ein Ritual, das in dem fast verlassenen Berliner Plenarsaal noch hohler wirkt als im Vollarbeitsbetrieb des Bundestags.

Dabei geht es beim TOP 14 - Rechtschreibreform - um etwas ziemlich Ernstes. "Die Kultusminister haben sich in politischer Regelungswut am Heiligsten einer Kulturnation vergriffen: der Sprache", ruft der einstige DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke (CDU) in den Saal. "Ach, du lieber Gott!", röhrt es aus dem SPD-Block zurück. Es ist die Stimme des Metallgewerkschafters Jörg Tauss aus Karlsruhe, Fraktionssprecher für Bildung und Forschung.

Als der Frankfurter Rechtsanwalt Hans-Joachim Otto (FDP) später auf die Geburt der Reform aus dem Geist der DDR-Sprachlenkung hinweist, kontert Tauss mit "Quark!" Und als sich der Landwirt Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU) um Verständigung und um "etwas Sinnvolles für unser ganzes deutsches Volk" bemüht, wird er rüde abgekanzelt.

Das Fan-Kürvchen der SPD trat am Donnerstagabend vergangener Woche an, um gegen einen Antrag der Unionsfraktion und einen Gruppenantrag von einzelnen FDP- und Unionsparlamentariern Stimmung zu machen. Nach dem Willen der Union sollen die Kultusminister dafür sorgen, dass der "verunsichernde Zustand" durch die neue Rechtschreibung beendet, Einheitlichkeit wiederhergestellt und die Regeln "auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt werden".

Härter in Ton und Inhalt ist die zweite, parteiübergreifende Initiative. Sie erklärt die Reform für gescheitert; die Hauptziele, "einheitliche Rechtschreibung im deutschen Sprachraum und mehr Klarheit bei den Regeln", seien verfehlt worden. Die Sprache gehöre dem Volk und nicht der Politik. Daraus folge: "Rücknahme der Rechtschreibreform".

48 Abgeordnete aus den Reihen der Opposition haben diese Sätze unterschrieben. Auch von den Koalitionsparteien hatten einige ihren Namen zunächst daruntergesetzt, etwa die SPD-Frau Jelena Hoffmann und die Grünen Uschi Eid und Josef Philip Winkler. Aber ihre Fraktionen pfiffen sie zurück. Das ist das traurige Vorspiel zu der traurigen Abendveranstaltung im Parlament. Bonsoir Tristesse.

"So läuft das politische Geschäft", heißt es aus der Fraktionsspitze der Grünen - man dürfe "nicht die Sache des politischen Gegners betreiben". Der Koblenzer Krankenpfleger Winkler ließ sich zwar in die Pflicht nehmen, steht aber "zum Wortlaut des Gruppenantrags nach wie vor uneingeschränkt".

Die Diplomhaushaltswissenschaftlerin aus Nürtingen, Uschi Eid, schweigt dagegen zu ihrem Rückzieher. Jelena Hoffmann aus Chemnitz, gebürtige Russin mit sächsischem Tonfall, kritisiert immerhin, dass bei der Rechtschreibreform "über die Köpfe der Bevölkerung hinwegregiert" wurde. Das sagt sie aber nur hinter verschlossener Tür.

Auch das andere Lager fordert Disziplin. Als der Agraringenieur Christoph Bergner (CDU) aus Halle den Gruppenantrag unterschrieben hatte, erhielten er und die Mitunterzeichner eine "Arbeitsanordnung" von Unionsseite: Keine Alleingänge - man möge, bitte, "zuerst die Meinungsbildung in der Fraktion suchen". Er habe gegenüber den seinen tatsächlich "ein schlechtes Gewissen", gibt Bergner, der von 1993 bis 1994 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt war, kleinmütig zu. Selbstbewusste Parlamentarier klingen anders.

Alle überzeugten Kritiker im Bundestag hoffen nun darauf, dass ein anderer für sie die Arbeit erledigt: der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU). Ab dem 17. Dezember, wenn der Rat für deutsche Rechtschreibung erstmals zusammentreten wird, soll dessen designierter Vorsitzender versuchen, die Kritiker für eine Reform der Reform zu gewinnen.

"Ich will zur Versöhnung beitragen", sagt der Mann, der für die umstrittene Neuerung Mitverantwortung trägt, die Reform aber später heftig kritisierte. Der "Sündenfall" der Erneuerung liege darin, dass man sie "zu sehr in Klausur" betrieben habe und "den Reformprozess nicht zusammen mit der Bevölkerung" gegangen sei. Nun hofft Zehetmair, der Reform "die schlimmsten Zähne zu ziehen".

Die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften hat unterdessen ihre Mitarbeit im Rat angekündigt. Allerdings nur, wenn "Befürworter und Kritiker in ausgewogener Zahl zusammenkommen".«



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