13.02.2008


Theodor Ickler

Noch mehr Germanistik

Anmerkungen zu einem Einführungsbuch von Rosemarie Lühr

Die "pragmatische" Begründung der Anrede-Großschreibung findet sich auch in dem Buch "Neuhochdeutsch" der bekannten Indogermanistin Rosemarie Lühr (München 1986:227):
"Aus pragmatischen Gründen werden in bestimmten Textsorten, z. B. in Briefen, die Pronomina der Anrede groß geschrieben: Du/Sie."
Nein, Sie wird immer groß geschrieben, und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern als Unterscheidungsschreibung.

Aus demselben Buch:

"Ein Problem ist, ob z. B. {komm} in kommt ein freies Morphem ist, weil es dem Imp. komm! entspricht. Da es aber auch Imperative mit dem Allomorph -e wie arbeit-e gibt und in diesem Fall {arbeit}, wie eben bemerkt, ein gebundenes Morphem ist, betrachtet man der Einheitlichkeit wegen auch {komm} als gebundenes Morphem.“ (Rosemarie Lühr: Neuhochdeutsch. München 1986:143)

Zuvor hatte sie dargestellt, daß es neben arbeiten zwar auch das freie Morphem Arbeit gibt, daß aber im Verb der Verbalstamm stecke, der daher gebunden sei.

Aber das ist eine Petitio principii, denn wenn man sich erst einmal auf die Suche nach irgendwelchen homonymen Formen begibt, ist nicht einzusehen, warum man vor dem Substantiv haltmachen sollte. Natürlich ist komm- als Stamm „gebunden“, nur die Begründung ist falsch. Man nimmt das nicht wegen der Einheitlichkeit an, sondern weil Stämme immer gebunden sind.

Durch die generative Grammatik hat die Wortbildungslehre vor einigen Jahrzehnten einen gewissen kindlichen oder geradezu kindischen Zug bekommen und sich bis heute nicht ganz davon erholt. In sklavischer Nachahmung amerikanischer Vorbilder wurden damals "syntaktische" Analysen von komplexen Wörtern vorgelegt, wobei man eigentlich satzförmige Paraphrasen analysierte und die so gewonnenen Strukturen in das komplexe Wort zurückprojizierte. Bei Lühr liest sich das so:

Waschtag: x wäscht an einem Tag

Kirchentag: die Kirche kommt an einem Tag zusammen

Giftschlange: die Schlange versucht (ihr Opfer) durch Gift zu töten/zu betäuben

Berufungsinstanz: die Instanz beruft jemanden

Daß dies Unsinn ist, sieht wohl jeder. Weder sind Sätze mit Wörtern äquivalent, noch treffen die Paraphrasen auch nur im entferntesten zu.

Lebensmittel wird umschrieben als „Mittel zum Leben“ bzw. „das Mittel dient zum Leben“, und aus dieser willkürlich gewählten, sachlich offenbar unzutreffenden Paraphrase wird gefolgert, daß Leben- hier die Rolle einer Präpositional-Ergänzung spiele. (Lühr 161) („Lebensmittel sind besonders die Dinge, die man zur grundlegenden Ernährung braucht, wie Brot, Fleisch oder Gemüse“ [Langenscheidt DaF]; weder Kleidung und Heizung, die ebenfalls Mittel zum Leben sind, noch Pralinen sind also „Lebensmittel“ im gewöhnlichen Sinn.)

Man mag all dies als Verirrungen von vorgestern belächeln, aber die Paraphrasenmethode ist keineswegs ausgestorben. Ich erwähne dies, um dem Außenstehenden zu erklären, auf welchem Niveau die deutsche Sprachwissenschaft angelangt war, als die Rechtschreibreformer ihr Werk umzusetzen begannen.


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