06.02.2008


Theodor Ickler

Deutsche Wortbildung

Bemerkungen zur Darstellung in der Dudengrammatik

Da das Thema Wortbildung für die Rechtschreibung sehr wichtig ist, möchte ich hier die nach der Seitenzahl geordneten Bemerkungen wiedergeben, die ich mir bei Durchsicht des Kapitels in der Dudengrammatik (2005) notiert habe.
Die Verfasserin Irmhild Barz ist auch mitverantwortlich für das "Standardwerk" Fleischer/Barz. Die zahlreichen Unklarheiten und Fehler dieses Standardwerks kriegen wir von unseren Studenten hundertfach in Seminararbeiten und Referaten aufgetischt. Sehen Sie bitte, was Barz in der Duden-Kurzfassung daraus gemacht hat!

WORTBILDUNG (Irmhild Barz)

641: „Der Terminus Wortbildung wird im Allgemeinen in zwei Bedeutungen gebraucht. Man versteht darunter zum einen den Prozess der Bildung neuer Wörter aus vorhandenen sprachlichen Einheiten nach bestimmten Modellen (...), zum anderen das Ergebnis dieses Prozesses, das 'gebildete' Wort.“ In Wirklichkeit geht es um das erstmalige Auftreten eines komplexen Wortes im Gegensatz zum wiederholten oder üblich gewordenen, also eigentlich um die alte Unterscheidung okkasioneller und usueller Verwendung. Denn wir bilden eigentlich keine Wörter, sondern verhalten uns unter dem Einfluß früheren Sprachverhaltens in einer neuartigen Weise. Wörter sind Verhaltenseinheiten, und es macht einen Unterschied, ob sie früheres Verhalten im Wortformat lediglich wiederholen oder ein Neukombination als früheren Verhaltensteilen darstellen. Es gibt also weder den „Prozeß“ der Wortbildung noch dessen „Ergebnis“.

Das Wortbildungskapitel leidet an zwei ungelösten Problemen: Erstens ist die Abgrenzung der Fremdwortbildung unklar. Eine große Zahl von komplett entlehnten Fremdwörtern werden so dargestellt, als seien sie innerhalb des Deutschen nach Regeln bildbar.

Zweitens ist das Verhältnis von synchroner Analyse zur Sprachgeschichte nicht hinreichend durchdacht. Eine große Zahl fertig überlieferter Wörter wird ebenso als Ergebnis einer regelgeleiteten Konstruktion dargestellt, während es in Wirklichkeit allenfalls um ihre Analyse und Interpretation durch den heutigen deutschen Sprachverwender gehen kann. Es genügt nicht, die entsprechenden Regeln unproduktiv zu nennen: es sind die produktiven Regeln einer anderen Zeit und folglich eines anderen Systems. Die synchrone gegenwartsbezogene Linguistik kann dazu nichts weiter sagen.

643: Barz läßt sich bei Wortbildungsanalyse von der (reformierten) Rechtschreibung (vor allem GZS) leiten, ohne das auch nur zu thematisieren.

Originalität, Polarität, Radikalität, Regionalität, Sentimentalität, Solidität, Stupidität, Totalität - Diese Wörter sind teilweise als ganze übernommen (und adaptiert), teils „im Deutschen“ gebildet, aber diese historischen Hintergründe sind für den heutigen Sprachteilhaber undurchschaubar, daher will Barz sie alle synchron als „deadjektivische Derivate“ behandeln. Nun, das kann ein Linguist tun, aber was besagt es für die Sprache selbst? Es geht offenbar nicht um Wortbildung als Prozeß, sondern um die Interpretation überlieferter Wörter durch die Rezipienten. Diese ist vom Bildungsstand und von der Beurteilungssituation abhängig: Wie bewußt ist sich ein Sprecher des Zusammenhangs jeweils? Deckt diese Analyse die wirklichen Bausteine auf, mit denen der Sprecher zu einem Verständnis kommt? Die synchrone linguistische Analyse kann ebenso weit von der Wirklichkeit der Sprachteilhaber entfernt sein wie die diachrone. Sie läuft auch wieder auf ein Durchsuchen des Wortschatzes hinaus.

Schwache maskuline Substantive haben als Erstglieder von Determinativkomposita das Fugenelement (e)n. Bei Barz fehlt diese Einschränkung, vgl. aber das Kopulativkompositum Fürstbischof, Fürstabt (determinativ wäre Fürstenbischof zu erwarten).
Bei Barz werden ständig historisch überlieferte Wortbildungen untergemischt, so Hahnenschrei (mit jetzt unparadigmischem, früher paradigmischem Fugenzeichen) usw. Lesart wird als Ausnahme verzeichnet, weil es ohne -e- gebildet ist gegenüber Leseecke usw (723). (Lesart ist im 17. Jhdt. gebildet, nach damals üblicher Weise.) Sütterlin 122 weist darauf hin, daß süddt. auch bei Verbalstamm im Erstglied eine Neigung besteht, den Stammvokal wegzulassen, folglich Konsonantenhäufung erst einzuführen, wo vorher keine bestand: Wartsaal, Ladstock, Blasbalg, Zuschneidkurs wie vorher schon Tagblatt.
Gallmann rechnet das -e- nach verbalem Erstglied zum Verbalstamm, nicht als Fugenelement.
In Biobauer sieht Barz kein Fugenelement, sonst stehe oft „das aus dem Griechischen kommende Fugenelement -o“. Das ist zirkulär, weil die Wurzel ohne den Stammvokal o gar nicht mehr als zu gehörig erkannt wird: Amphibie, Makrobe usw.

660: Obwohl Barz erkennt, daß in Dorfschule, vereinfachen die Stämme und nicht die Wörter Dorf- und einfach- eingebaut sind, spricht sie vom Stamm als „unflektierter Form“. Es ist aber überhaupt keine Form, sondern eine abstrakte Größe, wie etwa die Wurzel ktb eines arabischen Lexems. Man braucht nur die ablautenden Wurzeln des Deutschen heranzuziehen, z. B. bind-/band-/bund- (und dazu die umgelauteten Formen), um zu erkennen, daß es „den“ Stamm als sprechbare Form gar nicht gibt. Obwohl Barz das Problem mit den Verbstämmen kennt, behauptet sie: „Stämme sind wortfähig. Sie kommen auch außerhalb eines Wortkontextes frei vor (...)“ (661). S. 662 wird diese Lehre weiter ausgeführt. Zu den Verben sagt Barz: „Die Infinitivendung (e)n entfällt in der Wortbildung, wenn das Verb Kompositionserstglied oder Basis für Derivate ist: Schreibtisch, veränderlich.“ Es gibt keinen Grund, hier vom Infinitiv auszugehen und etwas „entfallen“ zu lassen.

660f.: Man steht vor der Tatsache, daß die Derivationsstammform bei umlautfähigen Stämmen in zweierlei Gestalt auftritt: umgelautet und nichtumgelautet (rot-, röt-; krank-, kränk-). Aber das ist eine Folge der Suffixe, die teils umlauten, teils nicht und danach sortiert werden müßten. Komposita lauten natürlich nicht um.
Für die Konversionsstammform stellt Barz fest: kranken, aber röten. Nun, das zweite ist kausativ mit erwartbarem Umlaut, das erste nicht, die genaue Entsprechung wäre kränken. Es findet sich kein Wort der Erklärung, weil man sich die historische Sicht nicht erlauben zu können meint.
Meiner Ansicht nach wird der Konversionsbegriff zu großzügig angewendet. röten ist ein Weiterbildung zu rot, keine Konversion, ebenso härten zu hart. Konversion ist definiert als Wortartwechsel „ohne Beteiligung von Affixen“ [674]. Barz rechnet das Infinitivmorphem zur Flexion, aber selbst bei dieser bedenklichen These wären röten, härten mit einem umlautbewirkenden Affix gebildet. Der Infinitiv ist ursprünglich ein Verbalsubstantiv, die Partizipien sind Verbaladjektive; insgesamt sind diese infiniten Formen ins Verbalparadigma hineingezogen worden, behalten aber einige nominale Besonderheiten. Grammatiker wie Eisenberg und Zifonun et al. rechnen das Partizip I überhaupt nicht zu den Verbformen, sondern sehen darin ein Adjektiv, allerdings mit besonderen Eigenschaften (Verbrektion). Jedenfalls ist eine „Konversion“ zum Adjektiv nicht im strengen Sinn anzunehmen (zu S. 675).
Die Darstellung ist noch durch einen weiteren groben Fehler beeinträchtigt: In herzkrank liegt ja gar nicht der Kompositionsstamm von krank- vor, weil das Wort hier nicht Erstglied ist. Außerdem wird die Reihenfolge Komposition – Derivation – Konversion aus unerfindlichen Gründen S. 661 abgeändert.
Fragwürdig ist auch die Annahme einer Wortartmarkiertheit für Stämme (661f). Barz zieht ausschließlich semantische Kriterien heran: Substantive hätten die Wortartbedeutung Gegenständlichkeit, Adjektive Qualität und Verben Prozessualität. Das stimmt hinten und vorne nicht. Außerdem sind in allen Fällen formale Kriterien ausreichend.

661: Ein Wörterbuch enthält Wörter, ein Fremdwörterbuch enthält Fremdwörter. Es gibt daher keinen Grund, Fremdwörterbuch für eine Kürzung aus eigentlich zu erwartendem Fremdwortwörterbuch zu erklären.

670: „Das Derivat Antragsteller gliedert sich semantisch plausibel nach der Paraphrase 'jmd., der einen Antrag/Anträge stellt' in die unmittelbaren Konstituenten Antrag stellen und -er und nicht in Antrag und *Steller. Letzteres wäre lexikalisch-semantisch wohl nicht gerechtfertigt, wobei die Grenzen zu Rektionskomposita mit einer scheinbar gleichen Struktur durchaus fließend sind: Romanleser, Schuhverkäufer, Krankenpfleger.“

Paraphrasen sind keine Bestandteile einer korrekten Herleitung, sondern allenfalls heuristische Verfahren des beschreibenden Linguisten. Ihre Teile gehen nicht als „Konstituenten“ in die Wortbildung ein. Es spielt keine Rolle, ob das regelmäßig gebildete Nomen agentis Steller lexikalisiert oder ad hoc gebildet ist. Leasingnehmer zum Beispiel dürfte schon schwerer aus einer verbalen Fügung „zusammenzubilden“ sein, denn man sagt üblicherweise kaum Leasing nehmen. Brötchengeber ist nach dem Muster Arbeitgeber gebildet, eine Rückbildung aus Brötchen geben ist unwahrscheinlich. (Das ältere Brotgeber könnte mitgewirkt haben.) Arbeitnehmer ist wohl als Gegenstück zu Arbeitgeber direkt gebildet und nicht über das ungebräuchliche Arbeit nehmen. Vgl. auch S. 674 zur angeblichen Rückbildung Grablegung: ins Grab legen + -ung. Es zeigt sich immer wieder, daß die Paraphrase kein Mittel eines kontrollierten Verfahrens ist.

672: „Auch semantisch dominiert bei dem wichtigsten Kompositionstyp, dem Determinativkompositum, das Zweitglied. Es trägt im Vergleich zur Bedeutung des ganzen Kompositums die allgemeinere Bedeutung, sodass es meist allein das ganze Kompositum repräsentieren kann.“

Das ist aber gerade das Wesentliche der grammatischen Dominanz, die semantische liegt offenbar beim Erstglied, das denn auch den Hauptakzent trägt.

674: Die synchrone Betrachtungsweise würde eher eine Analyse der schon gebildeten Wörter rechtfertigen, d. h. eine Nachbildung ihres Verstehens, aber Barz leitet die Wörter in einer Simulation ihrer Entstehung aus den Bestandteilen ab. So soll Politik aus polit-, fantasieren aus fantas- gebildet werden. Das sind aber keine Vorgänge innerhalb einer deutschen Wortbildungslehre. fremdeln aus fremd ist historisch, wie denn überhaupt lauter überlieferte Bildungen so behandelt werden, als seien sie hier und heute nach Regeln gebildet.

674: Zusammenbildungen: In Hauswunscherfüller sieht Barz kein Kompositum, weil keine Subklassifikation des im Zweitglied benannten Begriffs ausgedrückt werden soll. Daß dies die Bedingung für Komposition sein soll, war aber bei den Determinativkomposita S. 672 nicht klar zu erkennen, dort schien es eine empirische Feststellung zu sein. Außerdem trifft es nicht zu: Der Hauswunscherfüller ist der Erfüller des Hauswunsches. Es muß kein klassifikatorischer Begriff sein, sondern kann auch eine Augenblicksbildung sein, syntaktische Transposition. So auch bei -äugig usw. Vgl. die Tragung der Kosten (allgemeinsprachlich gibt es keine lexikalisierte Tragung, aber der Ausdruck ist korrekt gebildet: Die Tragung der Kosten ist interne Angelegenheit der unterzeichnenden Staaten. (Aus dem Statut des Rates für deutsche Rechtschreibung))

Die Behandlung der Partikelverben ist konventionell, stark an der Schreibweise orientiert. Barz bezeichnet alle Verbzusätze, soweit sie mit dem Verb zusammengeschrieben werden (und zwar nach der jeweils geltenden, neuerdings immer wieder geänderten Staatsorthographie), als „Verbpartikeln“. Sie muß sie daher nach präpositionalen, adverbialen, adjektivischen und substantivischen unterscheiden (s. a. §§ 1065ff.) und stellt ausdrücklich fest, daß es sich um „Homonyme“ handelt. Es ist ein sonderbares Verfahren, Formen nach ihren Homonymen zu klassifizieren. Da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung die Zusammenschreibung mit Infinitiven (kennenlernen, sitzenbleiben) noch nicht wieder zugelassen war, fehlen in dieser Auflage die entsprechenden „homonymen“ Verbpartikeln.

Die Wortbildungsbedeutung bei so unterschiedlichen Präfixen wie be- (beflaggen), ver- (vergittern), unter- (unterkellern) läßt sich keinesfalls als „mit etwas ausstatten“ vereinheitlichen.

Ob Fugenelemente auch im Flexionsparadigma vorkommen und daher als „paradigmische“ von „unparadigmischen“ zu unterscheiden sind, scheint eher zufällig zu sein. Bei Elke Donalies kommt noch die Fehldeutung mancher Suffixe hinzu. Der Fehler ist analog der Suche nach homonymen Formen zur Bestimmung „freier“ Stämme.

678: Infotainment ist als Ganzes aus dem amerikanischen Englisch entlehnt, hat also in einer deutschen Wortbildungslehre nichts zu suchen.

679: Warum wird Singsang aus den Verbformen sing und sang abgeleitet?

Was hat die Wortbildungslehre eigentlich zur verordneten Neuschreibung deplatziert zu sagen? 1995 wußte die Dudengrammatik noch, daß das Suffix -ieren meist und das Präfix de- fast ausschließlich an „fremdwörtliche Verben“ tritt. So steht es auch in Fleischer/Barz 1992: „Das lateinische Präfix wird sonst nicht mit deutschen Stämmen verbunden“ (S. 66). Die Eindeutschung platzieren widerspricht dieser Regel. Gleichwohl schreibt der neue Rechtschreibduden: „deplaciert (veraltet für deplatziert)“. Seit 1. August 2005 bekommt man einen Fehler angerechnet, wenn man die „veraltete“ Form zu benutzen wagt.

684: „Zur Ermittlung der Wortbildungsbedeutung einer Wortbildung empfiehlt sich deren Umschreibung durch eine syntaktische Paraphrase, in der die Wortbildungsbedeutung durch zusätzlich einzuführende sprachliche Mittel deutlich wird.“ Es ist umgekehrt: Um eine Paraphrase liefern zu können, muß man die Bedeutung bereits erfaßt haben, auch die Wortbildungsbedeutung. Nicht zur Ermittlung, sondern zur Erläuterung kann die Paraphrase allenfalls dienen, wobei man, wie gesagt, aufpassen muß, daß man sie nicht als vermeintlichen Ausgangspunkt der Wortbildung in den Gegenstandsbereich hineinprojiziert.

687ff.: Im Anschluß an Augsts Wortfamilienwörterbuch, das ich anderswo gewürdigt habe, werden Betrachtungen über Wortfamilien und Wortbildungsproduktivität von „Kernwörtern“ angestellt. Gabel soll drei Lesarten haben (689): „1. Teil des Essbestecks, 2. Gerät zum Gabeln, 3. gabelförmiger Teil“. Darüber läßt sich streiten. Gabel als Erstglied eines Kompositums soll nur zu Lesart 1 und 3 belegt sein. Wie ist es mit Gabelstapler?

690: Die „Fremdwortbildung“ ist in Gefahr, nicht nur die Bildung von Fremdwörtern, sondern die fremde Bildung von Wörtern zu ihrem Gegenstand zu machen. Ein Deutscher, der Fremdsprachen gelernt hat, kennt nicht nur deren Wörter und baut sie gelegentlich in sein Deutsch ein, er kann natürlich in diesen Fremdsprachen auch auf eigene Faust neue Wörter bilden. Sie interessieren die germanistische Linguistik an sich nicht; erst die Art, wie sie in deutsche Sätze integriert werden (Flexion, Genuszuweisung usw.), ist Gegenstand der Germanistik. So werden als Beispiele für fremde Präfixe Worter wie dechiffrieren, desinfizieren, disqualifizieren, infiltrieren, konzentrieren, reagieren, rezensieren aufgelistet (699). Sie haben ihr Präfix nicht im Deutschen bekommen und sind hier deplaziert. Ebenso sind Intervention, Leasing, Sabotage, Temperament usw. (736) im Deutschen weder gebildet noch bildbar, gehören daher nicht in eine deutsche Wortbildungslehre.
Barz nimmt an, daß die Segmentierung von Grand-Prix-Finale oder Do-it-yourself-Methode auf die Syntagmen Grand Prix und do it yourself führt. Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Analysierende über Französisch- bzw. Englischkenntnisse verfügt, andernfalls bleiben die Teile so unanalysiert wie bei ihrem selbständigen Vorkommen Grand Prix und do it yourself, sind also nicht als Syntagmen zu erkennen. (Dasselbe ist zu Do-it-yourself-Beautytipps und Boy-meets-Girl-Sache S. 726 zu sagen.)
Der Konfixbegriff ist bei Barz ins Uferlose ausgeweitet. -burger rechnet sie ebenso dazu wie die Bestandteile von mehr oder weniger spielerischen Kontaminationen: -fant (aus Babyfant 'kleiner Elefant'), -napper (Zugnapper nach Kidnapper), Kondens- usw. (Die Dudenwörterbücher führen Burger längst als Kürzung von Hamburger an.)
Wortbildung ist Wortstammbildung. Deutsche Wortstämme sind oft mit deutschen Wortformen (Nominativ, Imperativ) „gleichlautend“ (soweit man Homophonie zwischen abstrakten Stämmen und konkreten Formen überhaupt annehmen kann). Bei fremden Stämmen, vor allem aus den klassischen Sprachen, ist das wegen der reicheren Flexion dieser Sprachen nicht gut möglich. Der deutsche Sprecher kann also zum Stamm astro- oder -naut- nicht ohne weiteres den Nominativ nennen. Trotzdem weiß oder ahnt er, daß astro so etwas wie „Stern“ bedeutet und daß Nauten eine Art von Reisenden sind. Wie Barz festhält, haben die Konfixe als Zweitglieder in der Regel sogar ein Genus, was sie als virtuelle Wörter ausweist: der X-naut, die X-thek usw. Als Stämme und damit als Kompositionserstglieder haben sie so wenig ein Genus wie deutsche Stämme.

696: Hier wird es noch einmal ausdrücklich vom zufälligen Vokalismus des Imperativs abhängig gemacht, ob ein Verbstamm frei oder gebunden vorkommt. Bei les- ist er gebunden, bei geh- frei.

„Die meisten komplexen Verben mit betontem Erstglied wie abfahren (...) unterwerfen sich im deutschen Satz dem syntaktischen Prinzip der Klammerbildung.“ Es wird nie erwogen, das Kriterium der Trennbarkeit als Indiz gegen die angenommene Zusammensetzung zu verwenden.

698: „Fehlen Akzent- und Bedeutungsunterschiede, kann eine entsprechende Einheit als Wort oder als syntaktische Fügung aufgefasst werden: den Motor warm laufen/warmlaufen lassen.“ Barz macht es also von der staatlichen Schulorthographie abhängig, wie eine Zeichenkette grammatisch zu interpretieren sei.

701: begradigen ist nach heutigen Regeln nicht als Zirkumfixbildung zu gerade konstruierbar.

705: „Komplexe Basen können nur solche mit Präfixen oder Suffixen sein, nicht aber Verben, die bereits mit Partikeln versehen sind (...): *vorausanrechnen (...)“
Das ist unrichtig, Wörter wie vorankündigen sind nicht selten.

709: kaputtmachen soll eine andere Konstruktion sein als voll spritzen – nur weil die Rechtschreibreform es so will. Dazu kann man nur sagen: „Der Orthographus bestimmt nicht, wie die Wörter heißen und abgeändert werden; sondern nur bloß, wie man die einmal festgesetzten schreiben soll“ (so schon die Gottschedin, zit. nach Wilmanns: Die Orthographie in den Schulen Deutschlands. Berlin 1887, S. 53).

710: In irreführen usw. ist keineswegs, wie die Rechtschreibreformer glauben, ein Substantiv als Erstglied zu erkennen, in preisgeben nicht der Preis (frz. prix zu lat. pretium), sondern die Prise (frz. prise zu lat. prendere), in wettmachen nicht unmittelbar die Wette, sondern ein daraus konvertiertes Adjektiv wett. In der 4. Auflage von 1995 sah diese Liste noch anders aus.

711: Bei anlehnen usw. kann von „Inkorporation“ der Präposition keine Rede sein, das ist nur unter dem Einfluß der Rechtschreibung so gesehen.

722: „Fugenelemente haben sich historisch aus Flexionsendungen entwickelt, und zwar aus denen vorangestellter Genitivattribute.“
Aber gleich das erste, im nächsten Paragraphen vorgestellte e der Verbstämme (Badehose) hat sich nicht aus einer Flexionsendung entwickelt, erst recht nicht einer Genitivendung.

727f.: Nach Fandrych/Thurmair werden semantische Beziehungen im Substantivkompositum aufgezählt: räumliche Orientierung bei Gartentor usw. Das ist bekanntlich ein müßiges Spiel, denn es deckt nur auf, daß alles Erdenkliche in Betracht kommt. Ein XY ist eben ein Y, das in einer relevanten Beziehung zu X steht – mehr läßt sich sprachwissenschaftlich dazu nicht sagen. Barz erwähnt die sogenannten Rektionskomposita, wo das Erstglied eine geerbte Valenzstelle des Zweitglieds füllen soll: Hausdurchsuchung. Aber das ist systematisch Zufall, pragmatisch allerdings oft naheliegend. Vgl. Onlinedurchsuchung (hier bleibt die Leerstelle extern erhalten: O. von PCs). Nicht erwähnt ist Juwelendieb (Dieb ist relational, das ist die „Valenz“), den man mit Straßendieb vergleichen sollte; beide Komposita sind gleich gebaut. Besucher (ebd. ) werden erwartbarerweise nach dem Gegenstand oder Ort des Besuchs klassifiziert, aber es gibt auch Gelegenheitsbesucher usw. Die Relationalität der Begriffe ist nicht als grammatische Valenz zu verstehen.

729: „Explikativkomposita“ werden so beschrieben: Auswertungsverfahren „Auswertung ist ein Verfahren“; das ist schlechte transformationsgrammatische Tradition, in Wirklichkeit findet die Explikation gerade umgekehrt statt: „ein Verfahren, das in Auswertung besteht“; Erziehungsprozeß = „ein Prozeß, der Erziehung ist“ und nicht, wie Barz meint: „Erziehung ist ein Prozeß“. Eine Seite später erkennt sie richtig, daß Spieler-Trainer in einer bestimmten Lesart einen 'Trainer, der ein Spieler ist', bedeutet.

730 werden endozentrische und exozentrische Kopulativkomposita unterschieden, aber mit schlechten Beispielen. Hosenrock ist keine Kombination aus Rock und Hose, sondern ein Rock, der zugleich eine Hose ist, also ebenso endozentrisch wie Spieler-Trainer. Die Beschreibung ist daher falsch:

„Bei den exozentrischen Komposita treffen nicht alle Merkmale der beiden koordinierten Klassen auf die bezeichnete Sache zu: Eine Strumpfhose hat Merkmal von Strumpf und Hose, ist aber genau genommen weder mit Strumpf noch mit Hose angemessen benannt.“

Die exozentrischen Kopulativkomposita entsprechen den altindischen Dvandva, das sind zusammenfassende Bezeichnungen numerisch verschiedener Gegenstände: artha-dharmau ('Nutzen und Recht', hier mit Dualendung, vgl. Thumb-Hauschild §§ 658f.) Nur die neuhochdeutschen adjektivischen Kopulativkomposita wie weißblau entsprechen dem indischen Typ śuklakrshna [die richtigen Sonderzeichen funktionieren hier leider nicht]. Allenfalls Strichpunkt und wenige andere kommen dem Substantivtypus nahe, lassen sich aber meist auch determinativ deuten.

733: Die Bezeichnungen Präsens-, Präterital- und Partizipialstamm (für binden, das Band, der Bund) sind allenfalls als Merkhilfen gerechtfertigt, die Ablautstufen dürfen aber nicht mit Tempusformen kurzgeschlossen werden.

734: Barz will Zusammensetzungen wie Gedichtlernen als Konversion aus syntaktischen Fügungen herleiten. Das ist kaum möglich und auch gar nicht nötig.

768: Daß in höhnisch usw. eine Haben-Beziehung ausgedrückt sei, scheint mir zweifelhaft. Die ganze Tabelle ist nur etymologisch zu verstehen, nicht semantisch.

Die zusammengesetzten Adverbien S. 770 sind zum großen Teil nur orthographischer Art, aber dieses Problem wird auch hier nicht thematisiert. Man findet natürlich auch kein Wort zu den von der Reform getilgten Wörtern wie unverrichteterdinge.


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