20.06.2007


Theodor Ickler

Weder maniabel noch favorabel

Zu einem neuen Verwirrbuch von Wolfgang Mentrup

Mentrup, Wolfgang (2007): Stationen der jüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform seit 1933. Tübingen. (Studien zur Deutschen Sprache. Forschungen des Institus für Deutsche Sprache 29)
„unter Mitwirkung von Kerstin Steiger“, bei der sich Mentrup für die „in schöner und maniabler Weise“ aufbereiteten Dokumente bedankt. (26)

Das Manuskript war im April 2002 abgeschlossen. Warum es erst fünf Jahre später gedruckt wurde, erfährt man leider nicht. Die Daten sind wichtig: Drosdowskis Brief an mich ist berücksichtigt, ich habe ihn 2002 veröffentlicht; sein Brief an Korlén dagegen, der erst 2003 auszugsweise in „Lingua“ erschien und für Mentrup persönlich viel peinlicher ist, wird nicht erwähnt. Immerhin hat Mentrup am Schluß des Bandes noch eine Stellungnahme zu den Ereignissen des Sommers 2006 aufnehmen können; da wäre wohl an einer anderen Stelle auch noch Platz für den ihm seit 2003 bekannten Text Drosdowskis gewesen.
Das Buch wird unnötig aufgeschwemmt durch weitläufige Nachweise der allmählichen Veränderung des in diversen Dudenausgaben aufgenommenen Wortschatzes, vor allem in der NS-Zeit, also ähnlich wie bei Sauer, nur noch detaillierter. Mit der Rechtschreibung und ihrer Reform hat das nichts zu tun, es ist Verlagsgeschichte.
Immerhin ist das gesamte Rustsche Regelwerk mit Wörterliste von 1944 auf der beigefügten CD-ROM enthalten. Andere interessante Dokumente aus der NS-Zeit fehlen aber weitestgehend.
Hauptzielscheibe von Mentrups Polemik ist die Schrift von Birken-Bertsch und Markner; ihr Erscheinen war auch der Anstoß für das ganze Werk.
Mentrup will die Rechtschreibreform nicht gerade gegen ihre Kritiker verteidigen, gibt aber zu, daß „eine solche Deutung schon deshalb nahe läge, weil die in diesen Arbeiten kritisierten noch heute aktiven Reformer sich den genannten Kritikern gegenüber bisher (bis April 2002) in vornehmes Schweigen hüllen.“ (25) Ganz stimmt das nicht, es gibt durchaus entsprechende Pamphlete aus der Feder der Reformer; erst in neuerer Zeit sind sie auffallend still geworden.
Das Werk ist einem sehr eigentümlichen Stil geschrieben. Schon im Vorwort kündigt der Verfasser an, daß er die Ereignisse gelegentlich im Lichte von Volksweisheiten deuten werde, und so reiht er manchmal über halbe Seiten hin lauter Redensarten aneinander:
„ihn sticht der Hafer
ihm ist alles zu Kopfe gestiegen
mit dem Kopf durch die Wand wollen
die erste Geige spielen wollen“ (548f.)
usw., insgesamt 21 Redensarten, dazu noch eigene Sinnsprüche, und das alles schon lange vorher angekündigt (43). Im gesamten Text kommen die Redensarten, denen er im Vorwort einen besonderen Erkenntniswert zuschreibt, immer wieder vor, und zwar durchweg mit der plumpen Einleitung „wie der Volksmund sagt“ o. ä.
Auch sonst geht es oft eher rhapsodisch als wissenschaftlich zu, und man fragt sich, ob das IDS sich solche Ergüsse innerhalb seiner „Studien“ bzw. „Forschungen“ leisten zu können glaubt.
Hier noch eine Probe von Mentrups Schreibweise:
„Aus Drosdowskis Sicht ergibt sich als Dichotomie, als extrem asymmetrische, für ihn favorable, mit ihm im Oberwasser, völlig ungleichgewichtige Konstellation: Hic Reformer (...) ... Illic der Duden (...)“ (542)
Überhaupt schaltet er immer wieder ein Hic und Illic ein (immer groß geschrieben), auch dieser wohl hundertmal angewandte Kunstgriff, der mit der Zeit immer penetranter wirkt, ist schon im Vorwort angekündigt.
Manchmal setzt er die absichtlich subjektive Darstellung in der zweiten Person singularis fort.
Seitenweise erlaubt er sich Exkurse, die nur sehr entfernt mit dem Gegenstand zu tun haben: Er läßt sich über ideologische Polarisierung aus und stellt das folgende, nicht eben originelle Schema auf:
„Hic Himmel, Engel – Illic Hölle, Teufel
Hic virtus – Illic vitium“
und dann geht es los über Feuchtwangers Goya-Roman, Ketzerprozesse, über die Deutsche Bahn, über Damentoiletten, Humphrey Bogart, Bingo-Karten bei MTV Music Awards usw. Keine seiner Lesefrüchte vermag er zurückzuhalten. Hauptsächlich aber bemüht er sich, über viele Seiten hinweg das nationalsozialistische Regime und seine Gleichschaltungstendenzen zu entlarven. Ausgiebig wird Klemperer zitiert und die polarisierende Art der Propaganda bloßgestellt. Was erfährt man Neues über das Dritte Reich, wenn man solche tautologischen Passagen liest:
„Eine solcherart verordnete stromlinienförmige Ausrichtung und propagierte ideologische Gleichschaltung bis hin zur Totalisierung als angestrebtem End-Ziel führt angesichts der vorfindlichen Vielfalt, Vielfarbigkeit und Buntheit des Umfeldes, vielleicht kann man sagen: der anderen, der komplementären Wirklichkeit, ebenso zwangsläufig wie notwendig zu Gegensätzen, zu Dichotomien antagonistischer Größen, zur Polarisierung.“ (124)
Vom Stichwort Dudenpapst (Drosdowski) geht es assoziativ zum Fußballkaiser (mit etlichen Zitaten aus der Fußball-Berichterstattung), von dort zur Hymne „Heil dir im Siegerkranz“ usw., und zum Schluß resümiert Mentrup: „Jedenfalls befindet sich der Duden schon 1968 in höchst illustrer Gesellschaft innerhalb der höchsten Liga allseits bekannter medialer Prominenz: We are the Champion!“ (487) Aus diesem Geschwätz erfährt der Leser leider gar nichts über die Gründe der bekannten Duden-Autorität. Man vergleiche noch das enthemmte Geschimpfe S. 488f.; Mentrups Haß auf den Dudenchef muß über dessenTod hinaus abgründig sein.
Von philologischer Genauigkeit kann in dieser verspäteten Kampfschrift keine Rede sein.
„Schon 1997 und dann auch 1999 stellt Theodor Ickler, wie zuvor schon Kopke 1995, eine Kontinuität der auf dem Reformfeld beteiligten Personen und Ideen fest sowie die weitestgehende Übereinstimmung zwischen der Rustschen Reform von 1944 und der Neuregelung von 1996.“ (22) (Die Schreibweise „Rustsche Reform“ entspricht nicht der sonst angewandten Reformschreibung.)
Ich hatte 1997 in einer Fußnote geschrieben:
„Der ebenfalls sehr fortschrittliche Herausgeber der Bertelsmann-Rechtschreibung meint, das Kriegsende habe „zum Glück“ verhindert, daß die Reformpläne des Nazi-Ministers Rust Wirklichkeit wurden. Er weiß nicht oder verschweigt, wie sehr diese Pläne mit der gegenwärtigen Reform und mit seinen eigenen weitergehenden Vorstellungen übereinstimmten.“
Wie man sieht, hat der Text nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Mentrups Wiedergabe.
Die Quelle Ickler 1999 ist nicht angegeben, so daß ich nicht weiß, worauf Mentrup sich bezieht. Vielleicht meint er mein Buch „Regelungsgewalt“, in dem sich ein kurzes Kapitel über die Rustsche Reform befindet, das die Übereinstimmungen (und Nichtübereinstimmungen!) detailliert vorführt. Hier ist der einschlägige Teil; er zeigt die Haltlosigkeit der Mentrupschen Vorwürfe:

»Die Rechtschreibreform von 1944
Die Reformbetreiber pflegen jede vergleichende Erwähnung der Rechtschreibreform von 1944 als „Verunglimpfung“ zurückzuweisen. So reagierte auch die Vorsitzende der KMK sehr ungehalten, als der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 12. 5. 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht einen vergleichenden Blick auf die „Rustsche Reform“ zu werfen wagte.
Bereits Wolfgang Kopke hat 1995 gezeigt, welche interessanten rechtlichen Aspekte sich aus der Rustschen Reform ergeben. Statt sich jedoch unvoreingenommen mit dieser Episode zu beschäftigen, tabuisiert man ihre bloße Erwähnung. Das dient weder der historischen Wahrheit noch der richtigen Einschätzung der gegenwärtigen Schwierigkeiten beispielsweise im Umgang mit vermehrten Schreibvarianten.
In Wirklichkeit drängen sich die Parallelen zur heute geplanten Reform geradezu auf. Auch waren einige der sprachwissenschaftlichen Berater des Reichserziehungsministers in den ersten Reformansätzen der Nachkriegszeit wieder aktiv, so daß es durchaus eine Kontinuität der Personen und Ideen gibt.
Der wesentliche Gehalt der Rustschen Reform geht aus einem Beitrag des Mitverfassers Karl Reumuth hervor, der im Sommer 1944 in mehreren deutschen Zeitungen abgedruckt war und 1953 durch den „Sprachwart“ aufs neue bekannt gemacht worden ist. Darin heißt es:
„Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt. Er ist bei der Einführung neuer Schreibweisen dem Sprachgebrauch nachgegangen, der sich ganz unabhängig von der gesetzlichen Regelung bereits herausgebildet hat. Die neue Regelung erstreckt sich vor allem auf die Schreibung der Fremdwörter. Sie gibt den Weg zu einer eingedeutschten und vereinfachten Schreibung der Fremdwörter frei.
Im praktischen Leben haben sich schon längst die Schreibungen Fotograf, Telefon, Frisör, Keks (für Cakes), Schal durchgesetzt. Diese neuen Schreibungen waren auch schon halbamtlich anerkannt. Das neue Regelbuch dehnt nunmehr die eingedeutschte Schreibweise auf alle Fremdwörter aus und ordnet folgerichtig an, daß die Buchstaben ph und th in Fremdwörtern durch f und t ersetzt werden und daß auch das h nach r wegfällt. Da der Gesetzgeber die allmähliche Anpassung an die neue Schreibung ermöglichen will, fügt er dieser Bestimmung hinzu, daß der bisherige Schreibgebrauch mit ph, th und rh weiterhin zulässig ist.
Jede Rechtschreibform muß mit der Schreckwirkung rechnen, die die neuen Wortbilder im Leser und Schreiber hervorbringen. Aus diesem Grunde erlaubt der Gesetzgeber die Doppelschreibung. Es kann also nunmehr geschrieben werden: Filosof, Fosfor, Difterie, Sfäre, Sinfonie, Strofe, Rabarber, rytmisch, Teater, Tese, teoretisch. Die Endsilbe eur in Fremdwörtern nimmt die deutsche Schreibweise an, also: Frisör, Likör, Schofför. Darüber hinaus ist die Schreibung folgender Wörter eingedeutscht worden: Kautsch (Langliege), Majonnäse, Miliö, Ragu, Tambur, Träner, Tur (auf Turen bringen).
Das neue Regelbuch enthält noch einige andere wichtige Bestimmungen. Es bringt eine erfreuliche Klärung in die Schreibung einiger Redewendungen: Ich fahre Rad, ich fahre Schlitten, ich schreibe Maschine. Bisher schrieb man: Ich fahre rad, aber: Ich fahre Schlitten. In diesen Fällen wird die einheitliche Großschreibung angeordnet. Es wird darüber hinaus empfohlen, die Grundform auseinanderzuschreiben, also: Rad fahren, Schlitten fahren usw. Man empfindet in diesen Redewendungen die Wörter Rad, Schlitten usw. noch ganz deutlich als Hauptwörter.
Die Frage der allgemeinen Groß- und Kleinschreibung ist in dieser kleinen Reform noch nicht geregelt worden, sie bleibt für Lehrer und Schüler noch das Schulkreuz. Wir müssen weiterhin in der Schreibung unterscheiden: Er ist schuld, es ist seine Schuld; mir ist angst, ich habe Angst. Der Gesetzgeber lockert aber die Bestimmungen auf. Da sich diese Unterschiede nur schwer in Regeln fassen lassen, sollen die Abweichungen von der richtigen Schreibung nicht als Rechtschreibfehler gelten. Die Schüler werden diese Großzügigkeit des Gesetzgebers dankbar begrüßen.
In den Zusammensetzungen, in denen der Mitlaut dreimal zu schreiben wäre, wird er künftig nur zweimal geschrieben, also nicht nur [in] Bettuch und Schiffahrt, sondern auch in Blattrichter, fettriefend, stickstoffrei usw. In den letzten Wörtern mußte der Mitlaut bisher dreimal geschrieben werden. Beim Abteilen erscheint der dritte Mitlaut wieder: Schiff-fahrt.
Auch für das Silbentrennen bringt das Regelbuch eine Erleichterung. Die Silbentrennung erfolgt grundsätzlich nach Sprechsilben. Von Mitlautverbindungen kommt nur der letzte Mitlaut zur nächsten Silbe. Darum teilen wir nunmehr ab: wa-rum, da-rüber, aber auch Fens-ter, Rüs-tung, Karp-fen. Die Lautverbindung st wird also getrennt! Nur was deutlich als Zusammensetzung empfunden wird, ist in seine Bestandteile zu zerlegen: Himmel-angst, Gar-aus, kiel-oben.
Das neue Büchlein führt in besonders eindringlicher Weise in die Regeln für die Zeichensetzung ein. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen die Regel. Auch auf diesem Gebiet wird der Gesetzgeber dem Sprachleben gerecht. Er weist darauf hin, daß die Gliederung der Rede durch Stimmführung und Pausen nicht immer mit der Gliederung der Sätze durch Satzzeichen übereinstimmt. Abweichungen von den aufgestellten Regeln, soweit sie sich von der gesprochenen Sprache her begründen lassen, sollten nicht als Fehler der Zeichensetzung gelten. Neu ist die Regel, daß in Satzverbindungen vor 'und' und 'oder' kein Beistrich mehr gesetzt wird. Wir schreiben von nun an ohne Beistrich: Mein Bruder sucht Pilze und ich pflücke Heidelbeeren. Ich verbringe meinen Urlaub an der Ostsee oder ich fahre mit dem Rad durch Ostpreußen.“
„Im ganzen gesehen, ist durch die neue Regelung die deutsche Rechtschreibung einer vereinfachten und volkstümlichen Schreibung nähergebracht worden.“
Im Jahre 1953 fügt der Kommentator die Bemerkung hinzu, daß die seinerzeit zugelassenen Doppelschreibungen die Korrektoren vor neue Schwierigkeiten gestellt haben würden. Eine ähnliche Kritik findet sich bereits 1945 im Schweizer „Sprachspiegel“. Einleitend wird – wie seit 1994, allerdings mit größerem Recht als heute – betont, daß die Reform sich der tatsächlichen Entwicklung des Sprachgebrauchs anschließe.
Die orthographische Eindeutschung der Fremdwörter war auch von der heutigen Refom in ähnlichem Umfang und in gleicher Richtung beabsichtigt (Rabarber, rytmisch, Strofe stehen im Regelbuch von 1995), konnte aber wegen des Widerstandes der Ministerialbürokratie nicht durchgesetzt werden. Das Dreibuchstaben-Problem wurde damals in anderer Weise gelöst: Es sollten (wie in der vormaligen bayerischen Schulorthographie) ausnahmslos nur zwei gleiche Konsonantenbuchstaben geschrieben werden. Abgesehen von dieser ganz marginalen Regel stimmt die Rustsche Reform weitestgehend mit der heute geplanten überein. Sie hat – das sei noch einmal ausdrücklich betont – nichts spezifisch Nationalsozialistisches, sondern steht in der Kontinuität der meisten Reformvorschläge seit mehr als 200 Jahren. Allenfalls die absolute Vorrangstellung, die Rust der gesprochenen Sprache vor der geschriebenen einräumte („Das gesprochene Wort ist der Ausgangspunkt für alle Spracherziehung“ heißt es in einem weiteren Abschnitt über Zeichensetzung und „Aküwörter“) erinnert an entsprechende Vorgaben Hitlers, der sich in „Mein Kampf“ ähnlich geäußert hatte. Auf die verblüffende Ähnlichkeit der empfehlenden Vokabeln („behutsam“, „kleine Reform“ [zweimal]) wurde bereits hingewiesen.
Das Totschweigen der Rustschen Reform hat Tradition. Leo Weisgerber, Wortführer der Reformer in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik, verspricht im Titel seines Buches von 1964 zwar, 60 Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform darzustellen, spart aber die 12 Jahre aus, in denen er u. a. als „Ahnenerbe“-Wissenschaftler tätig war. Die Dokumentation von Burckhard Garbe „Die deutsche rechtschreibung und ihre reform 1722-1974“ (Tübingen 1978) weiß – auch in der Bibliographie – nichts von Rahn und Rust, sondern springt von 1931 gleich ins Jahr 1952. Ebenso hielt es Hermann Zabel in seinem Pamphlet „Widerworte“, das der Verlag 1997 an die Bundestagsabgeordneten verteilen ließ. Darin heißt es: „Im Oktober 1933 verschiebt das Reichsministerium des Inneren die Einberufung einer Rechtschreibtagung“, und dann geht es gleich weiter mit dem Jahr 1946. An einer anderen Stelle schreibt Zabel: „Das neue Regelwerk steht in der Tradition der Amtlichen Regelwerke von 1876, 1880 und 1901. Insofern war ein völliger Neuansatz weder möglich noch erforderlich.“ (S. 161) Der Leser muß den Eindruck gewinnen, daß während des Dritten Reiches in Sachen Rechtschreibreform rein gar nichts unternommen wurde. Als jedoch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf ihrer Herbsttagung 2000 das von ihr herausgegebene Buch von Birken-Bertsch und Markner vorstellte, in dem die Rustsche Reform zum erstenmal genauer untersucht wurde, verkündete der eigens angereiste Zabel sehr lautstark, dies sei „eine Geschichtsklitterung in bisher unbekanntem Ausmaß“. Das Thema ist den Reformern und Reformierten so unangenehm, daß es beispielsweise im „Spiegel“, wie die Redaktion bestätigt, nicht besprochen werden durfte.
Im Jahre 2000 bietet der Dudenverlag auf seiner Internetseite eine Geschichte der Reformbemühungen. Vom Jahr 1915 geht es in einem großen Sprung gleich in die Nachkriegszeit ab 1945.
Im Zusammenhang mit Rust ist noch eine kuriose Episode zu erwähnen: Der Bearbeiter der außerordentlich fehlerhaften „Neuen deutschen Rechtschreibung“ von Bertelsmann, Lutz Götze, schrieb in der Einleitung (1996, S. 20):
„Nach der Machtergreifung der Nazis war 1933 erst einmal Schluss mit Überlegungen zur Reform der deutschen Rechtschreibung; das amtliche Regelwerk von 1901/02 wurde bis in die vierziger Jahre unverändert aufgelegt, doch ist heute bekannt, dass Nazi-Reichsminister Bernhard Rust noch 1944 eine ,Neuordnung der Rechtschreibung‘ auf den Markt bringen wollte, die eine Schreibung vorsah, ,die klar, schlicht und stark ist‘. Das Kriegsende verhinderte diesen Plan zum Glück.“
Da der uneingeweihte Leser nicht darüber aufgeklärt wird, welche Veränderungen die Rustsche Reform vorsah, weiß er auch nicht, warum es ein „Glück“ gewesen sein soll, daß sie nicht verwirklicht wurde. Götze selbst hat es offenbar auch nicht gewußt. Von der Kritik darüber aufgeklärt, daß die Rustsche Reform mit der heutigen weitgehend übereinstimmte und bei der Fremdworteindeutschung Götzes eigenen Ansichten sogar noch weiter entgegenkam, strich er den ganzen Abschnitt im nächsten Nachdruck und springt nun vom Kosogschen Diktat 1912 kurzerhand ins Jahr 1947. Ungefähr eine Million Bertelsmann-Käufer weiß nichts von diesem Rückzieher. Sonderbar ist, daß sogar der Reformer Nerius, damals noch SED-Parteigenosse, das Dritte Reich nicht gern beim Namen nennt. Statt klipp und klar zu sagen, daß Hitler die Fraktur verbot, umschreibt er folgendermaßen: „Noch bis zum Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts war die Fraktur die dominierende Schriftart.“ (Nerius 1989, S. 218)«


Soweit mein Text aus „Regelungsgewalt“. In Mentrups chaotischer Darstellung kann man leider zur Kontinuität von Personen und Ideen nicht viel finden. Wo bleiben zum Beispiel die Weisgerbers (Vater und Sohn), ersterer ein Anstoßgeber der Nachkriegszeit, letzerer Mitglied im Reform-Arbeitskreis? Die Mackensen-Verehrung der Reformer kommt gar nicht vor, vielleicht hat meine Erinnerung an die NS-Vergangenheit dieses Mannes ein wenig Wirkung gezeitigt.
Gleichsam zähneknirschend nimmt Mentrup hin, daß seinem Gewährsmann Clemens Knobloch die Behauptung untersagt worden ist, Birken-Bertsch/Markners Buch sei eine Auftragsarbeit für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewesen (216). An späterer Stelle versucht Mentrup durch eine Zitatmontage (wobei er ohne Bedenken aus einem Brief des noch keineswegs verstorbenen Birken-Bertsch zitiert) Zweifel an dieser Darstellung zu wecken. „Wie mag das alles wohl zusammenpassen? Mag sich jeder (s)einen Vers darauf machen.“ (375) Mit dieser vagen Suggestion läßt er den Leser zurück. Birken-Bertsch hatte Mentrup offenherzig mitgeteilt, daß die beiden jungen Historiker ihr Vorhaben nicht an die große Glocke hängen wollten, bevor es fertiggestellt war; Mentrup konstruiert daraus eine geheimdienstähnliche politische Operation.
Mentrup schreibt: „... so haben weder die geistigen Wegbereiter Meier und Ickler noch Birken-Bertsch/Markner (...) bisher die von ihnen vor- und angegebene ideologische Nähe der Reformer zum Nationalsozialismus belegt.“ (211) Wenig später zitiert er jedoch meine oft wiederholte These, daß die Rustsche Reform „nichts spezifisch Nationalsozialistisches“ habe, sondern „in der Kontinuität der meisten Reformvorschläge seit mehr als 200 Jahren“ stehe. Ja, Mentrup zitiert mit besonderer Genugtuung meine Kritik an Birken-Bertsch/Markners These von den „Oralprimaten“ (in meinem ansonsten wohlwollenden Beitrag in der FAZ). Wie mag das alles wohl zusammenpassen? Die weitere Auseinandersetzung fand im Internet statt, Mentrup kennt diese Quellen und hätte sie nutzen können.
Zur Kennzeichnung von Mentrups Niveau noch diese Stelle über Birken-Bertsch und Markner:
„Die Vorstellung von der inhaltlichen Übereinstimmung [zwischen der heutigen Rechtschreibreform und der Rustschen] (...) bringt die zwei Autoren unversehens selbst ganz schön ins 'braune' Zwielicht. (...) Denn ihr Opus ist in der Antiqua geschrieben, die nach dem Jahrhunderte andauernden Schriftstreit ihren Sieg ja dem Führer höchstinstanzlich und höchstpersönlich verdankt. Und sollten sie auch noch die Autobahn benutzen ... - Wohin soll diese Geschichte nur noch führen?“ (31) Das fragt sich der Leser allerdings auch.
Birken-Bertsch und Markner haben irgendwo das Wort klandestin gebraucht. Mentrup bekennt, daß er diesem Wort noch nie zuvor begegnet sei, und widmet anderthalb dichtbedruckte Seiten seinen Recherchen über dieses Wort. Offenbar hat er herausgefunden, daß das Fremdwort so extrem selten gar nicht ist, aber es wirkt lächerlich, was er an Lesefrüchten alles ausschüttet. Außerdem sollte, wer mit maniabel, hic und illic um sich wirft, gegen den Fremdwortgebrauch anderer nicht so empfindlich sein.
Beschwerlich zu lesen ist Mentrup nicht zuletzt wegen seiner Vorliebe für ineinandergeschlungene Alternativlesarten, etwa so: „welche der beiden Kennzeichnungen (die) angemessen(ere) ist“ (140).
Wie Mentrup mit Texten umgeht, sei noch an einem Beispiel gezeigt. In meinem Schildbürgerbüchlein erwähne ich die Umstellung von Fraktur auf Antiqua – als Beispiel für ein Lesehindernis für nachkommende Generationen:
„Diesen Übergang haben die Nationalsozialisten durchgesetzt. In manchen Darstellungen wird diese etwas peinliche Tatsache vornehm umschrieben, so etwa in einem noch zu DDR-Zeiten erschienenen Buch: 'Noch bis zum Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts war die Fraktur die dominierende Schriftart.' (Nerius et al. 1989:218)“
(Die Bemerkung entspricht dem bereits zitierten Text aus meinem Buch „Regelungsgewalt“.) Dazu nun Mentrup: „Ickler lässt nichts – oder wenig? - aus und scheut vor wenig – oder vor nichts? - zurück. Er verschweigt oder weiß 1997 nicht, dass die Vorstellung, von der Fraktur auf die Antiqua umzustellen, weitaus älter ist als das 1000-jährige Reich.“ Usw.
In meinem Text ging es um etwas ganz anderes: Nerius hatte sich verhüllend ausgedrückt, um nicht den Nazis bescheinigen zu müssen, daß sie etwas so Begrüßenswertes wie die Antiqua eingeführt haben. Ebenso wie im Falle der Rustschen Reform kann Mentrup sich die späteren Stellen in meinen Schriften nur damit erklären, daß ich „dazu gelernt“ habe oder eben erst später mit meinem Wissen herausgerückt sei. In Wirklichkeit hat er selbst sich nur nicht die Mühe gemacht, die Texte in ihrem Zusammenhang zu verstehen. 1997 ging es darum, Götze und Nerius der falschen bzw. verhüllenden Darstellung zu überführen. Wie recht ich damit hatte, zeigte sich, als Götzes Ausführungen, wie erwähnt, aus der nächsten Ausgabe des Bertelsmann-Wörterbuchs spurlos getilgt wurden. Das erwähnt Mentrup leider nicht, so ausführlich er Götzes Text auch bespricht (287).
Mentrup straft mich, wie man sieht, mit äußerster Verachtung, führt aber außer meinem Schildbürger-Büchlein nur Zeitungs- und Internetbeiträge an, nicht meinen ausführlichen „Kritischen Kommentar“ (der die sachliche Grundlage meiner Reformkritik enthält) oder etwa die umfangreichen Dokumentationen „Regelungsgewalt“ oder „Rechtschreibreform in der Sackgasse“.
Was Mentrup für mitteilenswert hält, zeigt folgendes Beispiel:
„Erhellungen: In einem Telefonat (Mitte 1998) teilte mir Wolfgang Sauer auf Anfrage mit, er habe die Angabe über Baslers Mitgliedschaft in der NSDAP von Gerd Simon. Ein Anruf Kerstin Steigers bei diesem (24.8.1998) ergab, Sauer könne diese Angabe nicht von ihm haben.“ (116)
Der ungeduldige Leser fragt sich, warum Mentrup nicht die beiden Kollegen einfach angerufen und den Fall geklärt hat, statt ihn noch neun Jahre später als großes Rätsel mit pedantischer Genauigkeit zu dokumentieren. Aber selbst diesen simplen Kontakt zu den einschlägig befaßten Mitforschern scheint er zu scheuen.
Mentrup schreibt noch heute:
„Ich meine: Zu einer vernünftige(re)n Reform gehören vor allem, wenn auch nicht nur, die Kleinschreibung der Substantive sowie die Aufhebung der Unterscheidungsschreibung das (Artikel, Pronomen) – daß/dass (Konjunktion) zugunsten von einheitlich das.“
Weil dies „aufgrund der politischen Konstellation“ nicht durchzusetzen war, sei er 1993 aus dem Arbeitskreis ausgetreten. (25)
Es gibt praktisch niemanden, der diese Obsession für die Einheitsschreibung das teilt, so daß das Beharren darauf sehr merkwürdig anmutet. Übrigens: Was hindert Mentrup denn daran, so zu schreiben, wie er es für besser hält? Er hat früher doch kleine Probetexte mit der Einheitsschreibung das vorgelegt, warum bleibt er denn nicht dabei?
Drosdowskis Brief an mich wird an mehreren Stellen zitiert und zum Nachteil des Verfassers ausgebeutet. In einer Fußnote schreibt Mentrup dazu:
„So in einem handschriftlichen Brief Günther Drosdowskis vom 11. Oktober [richtig 11. November] 1996 an Theodor Ickler, den dieser ein Jahr nach dem Tode Drosdowskis als dessen Vermächtnis und als 'wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, das für ein volles Veständnis der Rechtschreibreform unentbehrlich ist,' glaubt 'der Öffentlichkeit in voller Länge zugänglich [...] machen zu sollen (Ickler 2002/12.3)
Ob Drosdowski gut beraten war, diesen Brief als sein Vermächtnis ausgerechnet an Ickler zu schreiben, und ob dieser mit seiner medienorientierten Vermächtnisverwaltung jenem weniger einen Freundschaftsdienst als eher einen Bärendienst erwiesen hat, sei dahingestellt.“ (506f.)
Günther Drosdowski steht neben Markner und Birken-Bertsch im Mittelpunkt von Mentrups Kritik. Er wird auf vielen Seiten mit Hohn und Spott übergossen. Besonders verübelt er Drosdowski, daß dieser seine Meinung zur gemäßigten Kleinschreibung im Laufe der Zeit geändert hat. Damit war Mentrups so leidenschaftlich verfolgtes Hauptziel erledigt. (Auch Augst gab in diesem Punkt nach und zählte Mentrup zu den Freunden, die er leider am Wegesrand zurücklassen mußte. Das Verhältnis der beiden einst führenden Reformer zueinander ist noch wenig erschlossen, aber von einiger Bedeutung für die Geschichte des Arbeitskreises.) Mentrups Krokodilstränen wirken auch daher wenig überzeugend. Drosdowski hat mir auch kein „Vermächtnis“ hinterlassen, sondern schlicht einen Brief geschrieben, weil er sich mit mir halt gut verstanden hat. Von Vermächtnis hat er selbst natürlich nicht gesprochen und ich auch nicht, dieses Wort steht nur in einem Vorspann des „Vereins für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege“ zur Wiedergabe des Textes auf der Internet-Seite des VRS. Mentrup wiederholt aber später noch einmal: „Drosdowski geht in seinem Brief vom November 1996, von Ickler 2002 als dessen orthographie-reformerisches 'Vermächtnis' der Öffentlichkeit zugänglich gemacht ...“ (546). Wie oben bemerkt, erwähnt Mentrup nicht den noch interessanteren Brief Drosdowskis an den schwedischen Germanisten Gustav Korlén, in dem Mentrup eine sehr unrühmliche Rolle spielt. Hier sind die wichtigsten Sätze daraus:

„Ich bin, wie Sie vermutlich wissen, Mitglied in mehreren Gremien, aber weder in der Göttinger Akademie der Wissenschaften noch in der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, weder im Beirat des DIN noch im Gesamtvorstand der GfdS (= Gesellschaft für deutsche Sprache) oder in einer anderen Kommission habe ich jemals eine so miserable und ineffiziente Zusammenarbeit und solche Unerquicklichkeiten erlebt wie in der Kommission für Rechtschreibfragen des IdS (= Institut für deutsche Sprache). Mit allen nur denkbaren Mitteln und Tricks hat man mich (übrigens auch Bernhard Weisgerber und andere Kommissionsmitglieder) zu isolieren und von der Mitarbeit auszuschließen versucht: Herr Nerius mußte seine Einladung an mich zu einem Arbeitsgespräch in Rostock auf Intervention der IdS-Kommission (Mentrup) rückgängig machen, auch gegen meine Teilnahme an der Orthographietagung in Rorschach ist von der IdS-Kommission (Mentrup) bei den zuständigen Schweizer Stellen interveniert worden, und auch von dem in Wien 1994 eingesetzten Redaktionskomitee für die Erarbeitung der endgültigen Fassung des Regelwerks und des Wörterverzeichnisses hat man mich fernzuhalten versucht, obwohl niemand außer mir über Erfahrungen in der Festlegung von Schreibweisen nach amtlichen Regeln und redaktionelle Routinen verfügte. Erst über die Schweizer Delegation bin ich dann doch noch in das Redaktionskomitee aufgenommen worden, wurde dann allerdings in geradezu skandalöser Weise von Herrn Heller in meiner Arbeit behindert: Herr Heller hat mich nicht ordnungsgemäß mit allen Unterlagen für die Sitzungen versorgt, er hat meine Stellungnahmen und Listen mit Korrekturen (das Regelwerk enthielt Versehen und Widersprüche, und das Wörterverzeichnis wimmelte nur so von Fehlern) gegen meinen ausdrücklichen Wunsch nicht abgelichtet und an die Mitglieder des Redaktionskomitees verteilt, er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, mich über den späteren Beginn von Sitzungen zu informieren, so daß ich in den Gängen des IdS meine Zeit vertrödeln mußte. Herrn Stickel waren diese Dinge aus Schreiben von mir oder aus Sitzungen, an denen er vorübergehend teilnahm, vertraut (auch Frau Ministerialrätin Lipowsky hat sich bei ihm über die miserable Vorbereitung und ineffiziente Arbeit beschwert) – geändert hat sich bis zuletzt nichts.“

Der Brief an mich ist in Mentrups Dokumentensammlung auf der beilegenden CD-ROM aufgenommen; ganz so uninteressant kann er also nicht sein. Mentrup nutzt ihn an zahlreichen Stellen, um Drosdowski zu kritisieren, der Text ist eine durchaus bedeutsame Quelle für ihn. Das Gerede von Freundschafts- und Bärendiensten lasse ich auf sich beruhen, dem Verstorbenen kann es ohnehin gleichgültig sein. Übrigens hat Mentrup sich nicht darum bemüht, wenigstens eine Fotokopie des Briefes von mir zu bekommen, er verläßt sich auf die Zuverlässigkeit der Abschrift, was „ausgerechnet“ bei mir vielleicht ein bißchen riskant ist.
Mentrup wiederholt unentwegt seinen uralten Vorwurf gegen den Duden, er habe ungeachtet gegenteiliger Behauptungen nicht strikt am amtlichen Regelwerk von 1901 festgehalten. Natürlich nicht! Er hat die Rechtschreibung weiterentwickelt und sich schlecht und recht auch nach dem tatsächlichen Gebrauch gerichtet, der selbstverständlich auch nicht auf dem Stand von 1901 geblieben ist. Daß der Verlag gleichzeitig angeben mußte, er setze die Regeln von 1901 um, wenn er sein Privileg nicht verlieren wollte, ist verständlich genug. Man braucht den alten Duden nicht zu verteidigen, aber die Sprachgemeinschaft ist mit ihm nicht ganz schlecht gefahren. Die tatsächliche Flexibilität war allemal besser als das strikte Beharren auf einer uralten amtlichen Regelung.
Nun aber, nach der von Mentrup und den anderen Reformern herbeigesehnten Aufhebung der Duden-Amtlichkeit, wird der Vorwurf immer noch aufrechterhalten: der Duden wähle eigenmächtig aus, führe zum Beispiel nicht alle von der Neuregelung ermöglichten Trennstellen an, sondern beschränke sich auf diejenigen, die der Redaktion sinnvoll schienen. Das ist unverständlich. Jeder kann Wörterbücher auf den Markt bringen und sie nach Belieben mit Inhalt füllen. Solange die Kultusministerien sich weigern, die Schulgemäßheit der Wörterbücher zu prüfen, hat Mentrup keinen Grund, sich zu beklagen. Inzwischen ist ja auch ein Großteil jener Regeln, auf deren pünktlicher Umsetzung Mentrup einst bestand, von Kommission und Rat zurückgenommen worden, was den Dudenredakteuren nachträglich recht gibt (wenigstens ein ganz kleines bißchen, sie haben sich auch so noch genug kompromittiert). Der Vorwurf, daß der Duden die Regeln nicht haargenau umgesetzt habe, auch wenn ihre Unhaltbarkeit, ja objektive Fehlerhaftigkeit jederzeit deutlich war, nimmt sich im Rückblick noch abwegiger aus.
Vor ein Rätsel stellt Mentrup das Verhalten des Reformers Gerhard Augst, in dem er wohl gern einen Verbündeten gegen die dudentreuen Schweizer Reformer (und Dudenautoren) gesehen hätte. Besonders die von Augst mitverfaßte Dudenbroschüre ist ihm ein unbegreifliches Ärgernis (s. vor allem S. 541). Wenn ihm aber Augst ein solches Rätsel ist – warum fragt er ihn nicht einfach, nachdem er doch Jahrzehnte hindurch mit ihm aufs engste zusammengearbeitet hat? Nicht einmal im Vorwort wird Augst oder ein anderer der Mitstreiter aus dem Arbeitskreis erwähnt, Mentrup scheint alle Kontakte verloren zu haben.
Aus vollem Herzen übernimmt Mentrup die Stellungnahme des hessischen Kultusministeriums zum neuen Duden von 1996. Minister Holzapfel hatte sich hier offenbar von dem Reformer und Bertelsmann-Autor in spe, Hermann Zabel, überzeugen lassen. Die ministeriellen Texte dürften entweder von Ministerialrat Habedank oder dessen Mitarbeiter und Nachfolger Stillemunkes stammen (Dokumentation auf der CD-ROM).
Der bekannte IDS-Ton wird hörbar, wenn Mentrup fragt, „was von einem früheren Erwachen der Schriftsteller hätte erwartet oder gar erhofft werden können. Oder allgemeiner: Was überhaupt von Dichtern und Schriftstellern auf diesem Felde zu erwarten ist.“(546) Vgl. dazu die Schriftstellerbeschimpfung in der IDS-Presseerklärung „Was manche Schriftsteller alles nicht wissen“ vom 17.10.1997.
Übrigens wird der einstige Reformer und heutige Reformgegner Munske, mit dem Mentrup lange zusammengearbeitet hat, an keiner Stelle erwähnt und auch in der Bibliographie mit keiner Schrift angeführt, obwohl gerade er zu den Mentrupschen Reformideen Wesentliches gesagt hat.
Das Buch ist nicht die einzige unfreiwillige Selbstentblößung eines Rechtschreibreformers, und der Leser fragt sich nicht ohne Betroffenheit: Das sind also die Männer, denen das deutsche Sprachvolk den Eingriff in seine Schriftsprache verdankt?
Mentrup schreibt mehrmals Ergebnis-orientiert; wenn in einemTitel eine Präposition fehlt, ist er Präpositions-defizitär. Ferner: Funktions-orientiert, Duden-autark, Ideologie-trächtig, Ideologie-konform, Fraktur-positiv (gemeint ist frakturfreundlich), System-immanent usw.
die als langweilig verschrieene Orthographie (37)
Der damalige Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Christian Meier mutiert schon auf S. 30 zu Christoph Meier.
deutsch zu lernen (statt Deutsch zu lernen) (47)
StatioNen (32)
deren orthographischen Werke (29 statt orthographische)
ein Einschätzung (547)
von einzelnen (543)
... lässt sich Viererlei feststellen (87)
aufwändig
nhcht (526)
150jährige Geschichte (204)
Ortographie (218)
diese Posten (136 statt diesen Posten)
did Schweigespirale (204)
zvei (205)
Monströsität (passim, oft als „kuriose, skurrile, groteske Monströsität")
aus den beiden berufenen Munden (177)


Anhang:


(Maschinenschriftliches Dokument aus dem Reichspropagandaministerium, Abschrift von Th. Ickler:)

Herrn Leiter Rundfunk z.K.

Leiter Pro i.V. Berlin, den 4.Juli 1944
und Chef des Propagandastabes

------

Ref.: Dr. Dietze

An
den Herrn Minister Geheim!

Betrifft: Tätigkeitsbericht.

In der Anlage wird der wöchentliche Tätigkeitsbericht überreicht, der die Zusammenfassung der einzelnen Berichte der Reichspropagandaämter, der Gaupropagandaleitungen, die Auswertung der Rednerberichte und der SD-Berichte enthält.

Heil Hitler !

gez. Sondermann gez. Wächter
i.V.

5) Neuregelung für die Rechtschreibung.

Unter der Überschrift "der Filosof und das Plato" und ähnlichem veröffentlichen viele Zeitungen in der vergangenen Woche Artikel zu den neuen im Auftrage der Reichserziehungsministeriums bearbeiteten 96 Seiten starken "Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis", die den Schulkindern in den kommenden Wochen in die Hand gegeben werden sollen. Schon diese Artikel hätten in der Bevölkerung, vor allen Dingen bei der Intelligenz, Verwunderung und starkes Befremden hervorgerufen. Es werde geäussert: 'Hat das Reichserziehungsministerium im fünften Kriegsjahr keine anderen Sorgen? Es sollte sich lieber eine schnelle Lösung des Schulbuchproblems angelegen sein lassen.' Auch die Eindeutschung und Vereinfachung von Fremdwörtern vollzieht sich, wie jede sprachliche Entwicklung, nach einem organischen Gesetz. Man brauchte sie weder zu forcieren noch zu erleichtern. Die neuen Regeln greifen einer Entwicklung um Jahrzehnte voraus. Dieses Verfahren lasse jedes Verständnis für das Werden und Wesen einer Sprache vermissen. Von wem hat der Reichserziehungsminister sich dabei bloß beraten lassen? Bei dieser Gelegenheit seien auch witzige Äusserungen über den Reichserziehungsminister geäussert worden. Frage: 'Was ist ein Rust?' - Antwort: 'Ein Rust ist die Zeitspanne zwischen dem Erlaß einer Verordnung und ihrer Wiederzurücknahme.' Ein Witz, der zweifellos auch auf das Regelbuch für die deutsche Rechtschreibung gemünzt sei (Münster).





Brief an Wolfgang Mentrup vom 22.5.1998

Lieber Herr Mentrup,
schon vor langer Zeit wollte ich Ihnen einmal schreiben, hauptsächlich um Sie zu fragen, was eigentlich mit dem IDS los ist. Inzwischen interessiert mich diese Frage nicht mehr so besonders. Anlaß meines Briefes sind nun Ihre Internet-Impressionen [sc. von der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht].
So sehr ich immer Ihr Engagement für eine Rechtschreibreform verstanden habe, so wenig verstehe ich Ihr Eintreten für diese Reform.
Was Sie in Karlsruhe gesagt haben, hat mir großenteils gefallen. Im Tatsächlichen stimmen Sie weitestgehend mit uns Kritikern überein. Nur Ihre Bewertung der Tatsachen mag abweichen, aber selbst da war ich nicht ganz sicher. Herr Augst glaubt hingegen offenbar, wenn er über den alten Duden lamentiert, werde dies als Pluspunkt für die Neuregelung verbucht, und in bezug auf ganz Unwissende mag er recht haben.
In dem von Ihnen und Herrn Stickel unterzeichneten Papier für Karlsruhe wird philologische Genauigkeit bis zur Pedanterie gefordert, wenn es darum geht, der Gegenseite Ungenauigkeiten nachzuweisen. Aber nun schreiben Sie selbst, Herr Meier habe die Befürworter der Reform ideologisch in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt und als Deppen abqualifiziert. Beides trifft nicht zu. Sonst müßten Sie gleichzeitig behaupten, Meier habe die Reformer als Gärtner bezeichnet usw. Ich erspare mir weitere Einzelheiten. Sie wissen ja, daß es nicht so war.
Die Rustsche Reform ist inhaltlich und nach der Art ihrer Durchführung sehr interessant und kann in einer Geschichte der Rechtschreibung nicht übergangen werden. Nur Leo Weisgerber brachte es seinerzeit fertig, diese Episode auszusparen (er hatte es nötig!), aber heutzutage geht es nicht an, jede Erwähnung gleich mit dem Totschlagargument zu kontern, man fühle sich dadurch diffamiert („verunglimpft“ hätte Augst im Jargon der verfolgten Unschuld sicherlich gesagt). Die Magisterarbeit von Mlinarzik kenne ich nicht, wäre aber nicht überrascht, wenn darin mein „menschenverachtendes Massenexperiment“ eine wichtige Rolle spielen würde ...
Ich könnte Ihnen übrigens Akten zeigen, die dokumentieren, wie ein Reformer-Trio vor einem Jahr versuchte, mich bei Universität und Kultusministerium anzuschwärzen, um mich auf disziplinarischem Wege zum Schweigen zu bringen, dazu auch aktenkundige Versuche von Herrn Zabel persönlich, mich zu „verunglimpfen“. Nun, das Bertelsmann-Geschäft in Sachen Rechtschreibung läuft nicht mehr so gut, und so hat auch diese Aktion an Schwung verloren, aber was die Angriffe unter der Gürtellinie betrifft, so haben es manche Reformer und Reformgewinnler darin sehr weit gebracht, ohne daß wir die gekränkte Leberwurst spielen und dies an die große Glocke hängen würden. Und noch eins sollten Sie bedenken: Die Reformer stehen im Bund mit der Staatsmacht, aber Polemik ist die Waffe der Schwachen. Die bayerische Staatsregierung hat es fertiggebracht, gegen ihre reformkritischen Beamten zu polemisieren, und das werden auch Sie doch wohl unverzeihlich finden.
Der Vorwurf der Wortvernichtung ist berechtigt. Wenn Wörter amtlich aus der Schriftsprache getilgt werden, ist das der Versuch ihrer Beseitigung. Daß er nicht gelingt, ist eine andere Sache. In den neuen Wörterbüchern sind viele bisher übliche Wörter (nicht nur Schreibweisen) nicht mehr zu finden. Sie gehen gewissermaßen in den Untergrund (wo auch das gute alte Wort selbstständig überwintert hat). Staatliche verordnete Nichtlemmatisierung - ich habe es kurz Wortvernichtung genannt und bleibe dabei.
Glauben Sie etwa die von Ihnen beschworenen Erfolgsmeldungen der Kultusministerinnen von der Schulfront? Das würde mich freilich sehr wundern. In unseren Vereinen und Initiativen sind hauptsächlich Lehrer organisiert, sie singen ein ganz anderes Lied. Bei dieser Gelegenheit will ich erwähnen, daß ein Urteil, das die Reform unbeanstandet passieren läßt, keineswegs eine Niederlage für uns wäre. Im Gegenteil, sobald der öffentliche Dienst die Neuschreibung übernehmen müßte, hätten wir endgültig gewonnen, denn Millionen erwachsenen Menschen kann man die Unsinnsschreibungen gewiß nicht abverlangen, ohne daß sie auf die Barrikaden gehen.
Daß die Reform ein Reförmchen und dennoch tiefgreifend ist, widerspricht sich keineswegs. Sie ändert wenig, geht aber in wenigstens drei Bereichen an Grundsätzliches (GZS, GKS, Komma). In meinen ausführlichen Kommentaren ist das alles dargestellt, noch besser in Munskes Beitrag zu Eroms/Munske, deshalb verzichte ich hier auf eine Wiederholung. Außerdem wissen Sie das alles sehr genau. Hier einen Widerspruch zu konstruieren, ist populistisch und oberflächlich.
Daß die Neuregelung gestoppt werden kann, zeigt Niedersachsen. Daß und wie eine Lösung ohne Wiederherstellung des Dudenprivilegs möglich ist, haben ich und andere (vor allem die Dt. Akademie) gezeigt, sogar durch ganz konkrete praktische Vorschläge. Auch dies wissen Sie; es steht zudem in den Akten.
Zum Verschwinden des th haben Sie „recht willkürlich“ vier (!) Texte herausgegriffen. Das th war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts teils noch anzutreffen, teils nicht mehr. Na und? Das sagen wir doch auch. Duden stellte schon 1876 fest, die vollständige Tilgung sei hinreichend vorbereitet, Wilmanns sagte wenig später dasselbe. 1901 war es dann ganz vorbei. Zuvor hatten die Schulorthographien (auch die bayerische, die Sie erwähnen) es sachte beseitigt, weil die Schreiber (Drucker usw.) es nicht mehr wollten und teilweise nicht mehr gebrauchten.
Wieso ist die „unsichtbare Hand“ „mythisch“!? Keine Spur! Wenn sie den Nationalökonomen und Soziologen gute Dienste leistet - als Abkürzung für kollektive Prozesse einer bestimmten Art -, dann brauchen auch Sie nicht die Nase zu rümpfen. Es geht doch um das Erklärungsmuster für Sprachwandel überhaupt, Rudi Keller hat es umfassend dargestellt (nicht sehr gut, aber immerhin).
Herr Wermke hat die Praxis des Duden im wesentlichen richtig wiedergegeben, die Werbesprüche von Herrn Drosdowski zählen dagegen nicht, sie müssen aus der Textsorte verstanden werden.
Das Komma vor und zu streichen, weil es sich um eine Aufzählung handele (wie von seiten der Reformer oft gesagt worden ist), bleibt fragwürdig, weil eine Hauptsatzreihe keineswegs eine Aufzählung ist und weil gerade dann, wenn es eine wäre, das Komma nicht einmal zulässig sein dürfte. Darauf ist bisher kein Reformer eingegangen.
Man muß geradezu dankbar sein, daß Sie nicht auch noch einmal die Dreibuchstabenregel breittreten.
Am Ende holen Sie die IDS-typische Formel hervor, unsere Einwände stünden „neben der Sache“. Das habe ich nun schon so oft gelesen, aber was heißt es eigentlich? Wenn Sie von wahr und falsch redeten, wüßte man, welche Argumente in Betracht kämen. Aber mit „daneben stehen“ liegen Sie natürlich immer richtig, weil alles, was es gibt, neben etwas anderem steht, was es auch noch gibt.
In Ihren Impressionen gehen Sie leider gar nicht auf die entzückende Frau Demmer ein. Ich habe allerdings bemerkt, wie Sie und Herr Augst zusammenzuckten, als diese Dame, die einst unter Kennern als der weibliche Dutschke von Siegen galt, ihre Unwissenheit zur Schau stellte. Der kleine Herr Stillemunkes war ja auch nicht wenig peinlich, oder? Pflug erledigt sich von selbst, auch durch das, was er zwei Tage vorher in Wiesbaden einstecken mußte. Hoderlein schließlich griff am tiefsten in die Märchentruhe, ihm war wohl schon alles einerlei. Man könnte eben auch ganz andere Impressionen ins Internet bringen. Das Interessanteste haben Sie gar nicht erwähnt: den offenkundigen Widerstand seitens der Bundesregierung.
Lieber Herr Mentrup, Sie haben so viel Bemerkenswertes zur Orthographie geschrieben. Es ist doch ganz ausgeschlossen, daß Sie die Minderwertigkeit der Neuregelung nicht mindestens ebensogut durchschauen wie z.B. ich als Nichtspezialist und Quereinsteiger! Und es gibt doch noch mehr kluge Grammatiker am IDS, für die das ebenso zutrifft. Also nun doch: Was ist eigentlich los am IDS?

Mit freundlichen Grüßen
Theodor Ickler





Leserbrief von Theodor Ickler in der Süddeutschen Zeitung 8.6.1998

Als Verfahrensbeteiligter hatte ich eigentlich nicht die Absicht, mich vor dem 14. Juli, dem Tag der Urteilsverkündung, zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über die Rechtschreibreform zu äußern. Nun scheint aber insbesondere über die Rustsche Reform von 1944 eine derartige Unkenntnis zu herrschen, daß die KMK-Vorsitzende auf deren bloße Erwähnung durch den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit (wahrscheinlich gespielter) Empörung reagieren und damit bei wenig informierten Journalisten einen gewissen Eindruck erzielten konnte.
Nun denn: Die Rustsche Reform ist nicht nur – wie Wolfgang Kopke in seiner vielbeachteten Dissertation gezeigt hat – aus juristischer Sicht bedeutsam, sondern auch wegen ihres Inhalts. Ein kurzer Aufsatz, der Anfang 1944 in vielen Zeitungen erschien, faßt das Wesentliche zusammen und ist auch heute noch lesenswert:

„Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt. Er ist bei der Einführung neuer Schreibweisen dem Sprachgebrauch nachgegangen, der sich ganz unabhängig von der gesetzlichen Regelung bereits herausgebildet hat. (…)
Im praktischen Leben haben sich schon längst die Schreibungen Fotograf, Telefon, Frisör, Keks (für Cakes), Schal durchgesetzt. Diese neuen Schreibungen waren auch schon halbamtlich anerkannt. Das neue Regelwerk dehnt nunmehr die eingedeutschte Schreibweise auf alle Fremdwörter aus und ordnet folgerichtig an, daß die Buchstaben ph und th in Fremdwörtern durch f und t ersetzt werden und daß auch das h nach r wegfällt. Da der Gesetzgeber die allmähliche Anpassung an die neue Schreibung ermöglichen will, fügt er dieser Bestimmung hinzu, daß der bisherige Schreibgebrauch mit ph, th und rh weiter zulässig ist. (…) Es kann also nunmehr geschrieben werden: Filosof, Fosfor, Rabarber, rytmisch, Teater, Tese, teoretisch.
Das neue Regelbuch (…) bringt eine erfreuliche Klärung in der Schreibung einiger Redewendungen: Ich fahre Rad, ich fahre Schlitten, ich schreibe Maschine. Bisher schrieb man: ich fahre rad, aber: Ich fahre Schlitten. In diesen Fällen wird die einheitliche Großschreibung angeordnet. Es wird darüber hinaus empfohlen, die Grudform auseinanderzuschreiben, also: Rad fahren, Schlitten fahren usw.
Die Frage der allgemeinen Groß- und Kleinschreibung ist in dieser kleinen Reform noch nicht geregelt worden, sie bleibt für Lehrer und Schüler noch das Schulkreuz. Wir müssen weiterhin in der Schreibung unterscheiden: Er ist schuld,es ist seine Schuld, mir ist Angst, ich habe Angst. Der Gesetzgeber lockert aber die Bestimmungen auf. Da sich diese Unterschiede nur schwer in Regeln fassen lassen, sollen die Abweichungen nicht als Rechtschreibfehler gelten. Die Schüler werden diese Großzügigkeit des Gesetzgebers dankbar begrüßen. (…)
Auch für das Silbentrennen bringt das Regelbuch eine Erleichterung. Die Silbentrennung erfolgt grundsätzlich nach Sprechsilben. Von Mitlautverbindungen kommt nur der letzte Mitlaut zur nächsten Silbe. Darum teilen wir nunmehr ab: wa-rum, da-rüber, aber auch Fens-ter, Rüs-tung, Karp-fen. Die Lautverbindung st wird also getrennt! (…)
Neu ist die Regel, daß in Satzverbindungen vor ,und‘ oder ,oder‘ kein Beistrich mehr gesetzt wird. Wir schreiben von nun an ohne Beistrich: Mein Bruder sucht Pilze und ich pflücke Heidelbeeren. Ich verbringe meinen Urlaub an der Ostsee oder ich fahre mit dem Rad durch Ostpreußen.“

Die Übereinstimmung mit der heute geplanten Neuregelung ist in der Tat verblüffend. Auch Eindeutschungen wie Rabarber, rytmisch, Strofe stehen ja ausdrücklich im Regelbuch von 1995 und wurden erst nach Minister Zehetmairs Intervention gestrichen.
Man kann nicht genug betonen, daß die Rustsche Reform keineswegs spezifisch nationalsozialistisch ist. Sie liegt vielmehr ganz auf der Linie der meisten Reformbewegungen seit über 200 Jahren. Dem Zeitgeist (und gewissen Vorgaben in Hitlers „Mein Kampf“) entspricht allenfalls der unbedingte Vorrang, der dem gesprochenen Wort vor dem geschriebenen eingeräumt wird: „Das gesprochene Wort ist der Ausgangspunkt für alle Spracherziehung.“
Bemerkenswert ist aber gewiß das übereinstimmende Propagandavokabular: Seit 1994, als die „gemäßigte Kleinschreibung“ aufgegeben werden mußte, wird die heutige Reform als „behutsam“ und als „kleine Reform der Vernunft“ angepriesen. Fast genauso - und zwar aus denselben Gründen - drückte sich schon der Verfasser unseres Aufsatzes aus. Auch die Schutzbehauptung, man gehe nur dem ohnehin feststellbaren Sprachwandel nach, ist gleich geblieben und war damals sogar weniger unzutreffend als heute. In gewissem Sinne ist die Reform von 1944 „liberaler“ als die heutige, weil sie weniger verbietet und mehr Varianten zuläßt. Gerade diese Variantenfülle wurde übrigens schon damals scharf kritisiert, u. a. im Schweizer Sprachspiegel.
Genauer zu erforschen bleibt noch die personelle Kontinuität. Die Sprachwissenschaftler, die für den Reichserziehungsminister gearbeitet hatten, waren nach dem Kriege auch die ersten, die einen Neuansatz versuchten und damit die Grundlinien der heutigen Rechtschreibreform vorzeichneten.
Fazit: Die Rustsche Reform war bis heute die einzig wirkliche Rechtschreibreform in Deutschland, und wenn sie nicht durch die bekannten historischen Ereignisse in den Orkus gefahren wäre, hätte sie die heutigen Reformpläne schlicht überflüssig gemacht. Damals wie heute versuchte der Staat, die Schreibweise des gesamten Volkes mit obrigkeitlichen Mitteln und mit Hilfe der Schule zu verändern; Richtung und Tiefe des Einschnitts waren nahezu identisch. Es kann nicht verboten sein, diese interessanten Tatsachen in Erinnerung zu rufen.





„Was habt ihr denn da angestellt?“
Gedanken zum Erscheinen von „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“

von Theodor Ickler
(Abgedruckt unter dem Titel „Zermürbung der Hirne durch Schreibreform“ in der FAZ vom 10.11.2000; diesen Text führt Mentrup in der Bibliographie an.)

Am 1. Juli 1996 sollen die Kultusminister der deutschsprachigen Länder gezögert haben, ihre Unterschrift unter die Absichtserklärung zur Durchführung einer offenkundig unausgereiften Rechtschreibreform zu setzen. Erst als eine der anwesenden Personen einwarf, Bertelsmann habe schon gedruckt, unterschrieben sie. Tatsächlich lag am nächsten Morgen die „Neue deutsche Rechtschreibung“ des Medienkonzerns in allen Buchläden.
Der Bearbeiter, Professor Lutz Götze, schrieb in einer geschichtlichen Einleitung, auch der „Nazi-Reichsminister Bernhard Rust“ habe 1944 eine Rechtschreibreform durchführen wollen. „Das Kriegsende verhinderte diesen Plan zum Glück.“ Da der Leser nicht erfuhr, worin die Rustsche Reform bestanden hätte, konnte er auch nicht beurteilen, ob ihre Verhinderung (übrigens durch einen Führerbefehl) ein Glück gewesen war. Darauf hingewiesen, daß die Rustsche Reform weitgehend identisch war mit dem, was die heutigen Reformer wollen, und noch deutlicher mit dem übereinstimmte, was sie ursprünglich wollten, aber aufgrund politischer Widerstände nicht durchzusetzen vermochten, strich Götze den ganzen Abschnitt kurzerhand aus dem nächsten Nachdruck derselben Auflage. Zugleich bedankte er sich bei dem Reformer Hermann Zabel. Seither klafft in der Chronologie der Reformversuche hier dieselbe Lücke wie in fast allen Arbeiten der Reformer. Zabel hat viele Male über die historischen Hintergründe berichtet, stets unter Aussparung des Dritten Reiches, obwohl gerade er sich anderweitig Verdienste um die deutsche Vergangenheitsbewältigung erworben hat. Auch das Rechtschreiburteil des Bundesverfassungsgerichts übergeht den Präzendenzfall mit der oberflächlichen Wendung, eine Neubearbeitung der Regeln habe sich 1944 „nicht durchgesetzt“. Schämt man sich der buckligen Verwandtschaft?
Dazu besteht kein Anlaß. Die Rustsche Reform hat nichts spezifisch Nationalsozialistisches. Ihre Verfasser verstanden etwas von der Sache, sogar mehr als die heutigen Reformer. Die große Übereinstimmung ist weder zufällig noch kompromittierend. In der jahrhundertelangen Diskussion um die deutsche Orthographie gibt es eben nur einen begrenzten Vorrat an Argumenten. Im wesentlichen stehen sich zwei große Schulen gegenüber, die phonetische und die historische, wie man sie vergröbernd nennt. Die „Phonetiker“, meistens Lehrer, die von der schreibdidaktischen Ursituation des Diktats geprägt sind, möchten erreichen, daß man jedes Wort nach Gehör schreiben kann. Dazu wäre ein völliger Umbau, die Einführung gänzlich ungewohnter Schreibweisen erforderlich. Das ist jedesmal der Hauptgrund ihres Scheiterns. Ihre Gegner, vor allem Schriftsteller und deren Leser, fürchten den Traditionsbruch und bestehen außerdem darauf, daß das Schriftbild weiterhin die Herkunft der Wörter, damit aber – und das ist das Entscheidende – auch die semantischen Zusammenhänge sichtbar werden lasse. Dies verbindet die drei großen europäischen Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch, in denen das richtige Schreiben daher ungleich schwieriger ist als etwa im Italienischen oder Finnischen. Im Deutschen ist der Streit während des 19. Jahrhunderts beigelegt worden, und zwar zugunsten einer eher pragmatisch als theoretisch begründeten Absage an die Lautschrift. Die grundsätzlich historisch-semantische Schreibweise wurde nur um solche Schnörkel erleichtert, deren Beseitigung sich ohnehin schon angebahnt hatte (th in deutschen Wörtern, einige Buchstabenverdoppelungen). Die Reform oder besser Nicht-Reform von 1902 änderte nichts, sondern schützte die längst herrschende Einheitsorthographie vor Eingriffen der phonetischen Schule, die natürlich nicht aufhörte, ihr schülerfreundliches Ziel weiterzuverfolgen.
Dabei wurde der rationale Kern durch jeweils passende ideologische Hüllen eher verborgen als freigelegt. Unsere heutigen Reformer, die vom lautschriftlichen Gedanken nur sehr wenig retten konnten, leiten ihre Grundorientierung aus der emanzipatorischen Pädagogik der frühen siebziger Jahre her. Unterschichtkinder waren an die höhere Bildung heranzuführen und zugleich die repressiven Herrschaftsstrukturen durch den Nachweis ihrer „Veränderbarkeit“ aufzubrechen. An der Rechtschreibreform wollte man, wie es sich für eine von Lehrern veranstaltete Revolution gehörte, ein Exempel statuieren. (Die Einzelheiten kann man nachlesen in der Dokumentation zum GEW-Kongreß „vernünftiger schreiben“, Frankfurt 1973.)
Im Dritten Reich, das im Gegensatz zu den lückenhaften Darstellungen Zabels und seiner Mitstreiter fast vom ersten bis zum letzten Tag die große Zeit der Rechtschreibreformer war, hieß die zeitgemäße Verbrämung „Vorrang des Gesprochenen“, insbesondere der „Führerrede“. Der Kern war aber immer noch derselbe, die Verhüllung etwas ganz Oberflächliches, woran die Reformtheoretiker natürlich selbst nicht glaubten. Deshalb konnten sie auch nach Kriegsende unbefangen weitermachen: Franz Thierfelder, Fritz Rahn, Otto Basler usw. Zwar konnte der „Ahnenerbe“-Keltologe Leo Weisgerber seine durch Geringschätzung der Schrift geprägte „arteigene Sprachlehre“ von den „volkhaften Kräften der Muttersprache“ in der jungen Bundesrepublik mit etwas geänderter Terminologie ungestört und mit noch viel größeren Einfluß auf die Deutschdidaktik weiterverfolgen, aber für die Begründung der Reform spielte sie keine Rolle mehr. Zum Vorkämpfer der heutigen Reform wurde Weisgerber auf andere Weise.
Sehr merkwürdig war die Rolle des nationalsozialistischen Volkskundlers und Germanisten Lutz Mackensen. Er verlegte sich nach dem Krieg auf weniger verfängliche Gebiete und verfaßte u. a. ein deutsches Wörterbuch, das die Dudenredaktion auf den Plan rief und zu einer politischen Intrige anregte. An deren Ende stand jene neuerliche Privilegierung des Duden, gegen die sich dann die jüngsten Reform in erster Linie richtete. Mackensen, dessen Vergangenheit stets unterbelichtet blieb, avancierte zum Schutzheiligen der Reformer; noch 1991 widmeten Gerhard Augst und Burkhard Schaeder ihm ein Buch zum neunzigsten Geburtstag. Warum auch nicht? Einen ähnlichen Mangel an Berührungsscheu wünschte man sich aber auch auf anderen Gebieten.
Neben der wesentlichen, auf dem alten phonetischen Prinzip beruhenden Übereinstimmung zwischen der Rustschen Reform und der heutigen gibt es einige weniger auffällige Ähnlichkeiten und Kontinuitäten. Bereits Rust wollte seine Zuständigkeit für die Schulen dazu benutzen, eine Schreibänderung für die ganze Gesellschaft durchzusetzen. Der führende Reformer Augst kannte das Rezept schon 1982: „Eine Änderung geltender Konventionen und Normen über den Schüler zu erreichen, ist zwar verlockend und wäre, wenn es gelänge, auch am erfolgversprechendsten, aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.“ Die Skrupel schwanden nach dem Scheitern der Reform von 1989, die Geiselnahme an den Schülern wurde ins Werk gesetzt und scheint ja soweit auch gelungen. Weisgerber hatte auch schon 1964 den Rat gegeben, sich rechtzeitig der Unterstützung durch Regierungsbehörden zu versichern, weil das Schreibvolk selbst viel zu „schrifthörig“ sei, um sich auf seine Verantwortung zu besinnen – und endlich die Kleinschreibung einzuführen. Ebenso argumentierte der besonders staatsgläubige DDR-Orthograph Dieter Nerius, der immer noch in der Rechtschreibkommission sitzt.
Damit hängt ein weiteres Leitmotiv zusammen, das zuerst in der Rechtschreibdiskussion der nationalsozialistischen Oligarchen auftauchte: daß die Reform nicht durch zu viel öffentliche Diskussion gefährdet werden dürfe. Denn nicht nur Schriftsteller und Intellektuelle gehören zu den Gegnern von Rechtschreibreformen, sondern die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die einfach am Gewohnten hängt und wohl oft auch ahnt, daß die geplante Änderung überflüssig und schädlich ist „wie ein Kropf“. (Deshalb haben sich kürzlich 98 Prozent der Zeitungsleser gegen die Reform ausgesprochen.) Die Reform von 1989 scheiterte einfach daran, daß die F. A. Z. ihren Inhalt vor der Zeit bekannt machte. Auch diese Lektion haben unsere Reformer gründlich gelernt. Einen noch früheren Reformversuch kommentiert die Augst-Schülerin Hiltraud Strunk so: „Der Verzicht auf jegliche inhaltliche Information war nach den bisherigen Erfahrungen sicher richtig.“ Es kam zu der bekannten Überrumpelungsaktion. Im Jahre 1995 gab Kultusminister Zehetmair dem „Spiegel“ auf die Frage „Wissen denn die Deutschen in etwa, was auf sie zukommt?“ in einem unbewachten Augenblick die klassisch gewordene Antwort: „Nein, überhaupt nicht. Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle Vorschläge gescheitert sind. Man wird uns, die Kultusminister, fragen: Was habt ihr denn da angestellt?“
Natürlich fiel schon im Dritten Reich mancher Seitenhieb auf die verkopften Bücherleser. Der Zusammenhang zwischen Bewahrung der gewachsenen Schrift und nationaler Identität war durchaus klar. Für die eroberten Völker schlugen manche Nationalsozialisten Schreibreformen „zur Zermürbung des Geschichtsbewußtseins“ vor. Unsere heutigen Schreibreformer haben diesen Gedanken kulturrevolutionär gewendet: Einen Kulturbruch durch Schreibreform brauche man nicht zu fürchten, denn Kinder würden ohnehin nur in Ausnahmefällen etwas lesen, was vor der Reform gedruckt sei, und außerdem sei die Richtigkeit von Schreibweisen allenfalls mit der Richtigkeit von Postleitzahlen zu vergleichen (so das Institut für deutsche Sprache). Auch dies glaubt die Mehrheit der Bevölkerung nicht, sondern ahnt, daß mit der künstlichen Veralterung des Gedruckten etwas verlorengeht, was besser nicht verlorenginge.
Durch die Untersuchung „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“ von Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner, die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausgegeben und anläßlich der Herbsttagung vorgestellt wurde, sehen wir klarer, was Götze damals hätte schreiben sollen: „Leider verhinderte das Kriegsende die Durchsetzung der Rustschen Reform, sonst hätte man sich die Rechtschreibreform von heute sparen können.“
Die heutigen Reformer haben mehr erreicht, als unter demokratischen Verhältnissen für möglich gehalten werden konnte. Aber eins haben sie noch nicht erreicht: Rust wollte ursprünglich auch die Kleinschreibung, nach wie vor das einstimmig erklärte Ziel aller Mitglieder der Reformkommission. Darauf arbeiten sie unbeirrt hin, auch durch eine grotesk übersteigerte Großschreibung, die als Lösung der künstlich erzeugten Verwirrung irgendwann nur noch den Weg zur Kleinschreibung offen zu lassen scheint. In diesem Sinne ist das Versprechen zu verstehen, mit dem die Reform 1994 auf den Plan trat: „Es ist ein Anfang gemacht worden, weitere Vereinfachungen und Verbesserungen können sich zu einem späteren Zeitpunkt anschließen.“ Wer mit solcher Zähigkeit 23 Jahre gekämpft hat, wie Augst es in einem Rückblick beschreibt, „viele geliebte Reformziele“ aufgeben und manchen Freund am Wegesrand zurücklassen mußte, der kann auch noch ein wenig länger warten.





(Ergänzende Beobachtungen findet der Leser weiter unten im Diskussionsstrang zu diesem Eintrag, Beiträge Nr. 9157, 9169 und 9172.)


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