14.05.2005


Theodor Ickler

Laut-Buchstaben-Zuordnungen

Was ist bei der Revision zu beachten?

Obwohl es noch nicht auf der Agenda steht, habe ich schon mal ein Memorandum für die Revision des ersten Teils der Reform entworfen. (Neufassung 21.5.2005)
(Der Text enthält keine Kursivierungen, ist aber hoffentlich trotzdem verständlich. Für Hinweise, auch per Mail, bin ich dankbar.)


Was ist bei der Revision der Laut-Buchstaben-Entsprechung zu beachten?

1. Etymogeleien Internationaler Arbeitskreis und Zwischenstaatliche Kommission hatten sich nur widerstrebend dem Wunsch ihres Mitgliedes und Vorsitzenden Gerhard Augst gebeugt, etwa ein Dutzend etymologisch-volksetymologisch begründete Neuschreibungen in das Reformwerk aufzunehmen. Einige davon sollen sogar erst nach den dritten Wiener Gesprächen ohne Wissen der anderen Mitglieder eingeschleust worden sein. (Der Arbeitskreis trat danach nie wieder zusammen.) „Die Etymologie als sprachlich und kulturell spannendes Phänomen verkommt zur Bildungsdemonstration, wenn sie dazu herhalten muss, Ausnahmen in der Rechtschreibung zu legitimieren.“ (Augst/Schaeder S. 16) Dasselbe ließe sich aber sagen, wenn sie dazu herhalten muß, Zusammenhänge künstlich wiederzubeleben wie bei behende/behände, Stengel/Stängel, Stendel/Ständel oder umgekehrt Wächte/Wechte. (Hier wird behauptet, das Wort komme nicht von wachen; ob es aber von wehen kommt, ist laut Kluge/Seebold auch ungewiß, denn der Konsonantismus stimmt nicht.) Schon Adelung hatte diese Manier verurteilt: „Unverzeihlich aber sind alle im Schreiben vorgenommenen Veränderungen, wenn sie sich auf sehr entfernte, ungewisse oder gar willkührliche und unbegründete Ableitungen stützen, wie ämsig für emsig von Ameise usw.“ (Deutsche Sprachlehre für die Schulen, 3. Aufl. 1795)

Die hohe Selektivität der etymologisierenden Schreibungen ist unplausibel. Umlaut ohne graphische Markierung zeigen auch besser, best, Elster, Eltern, emsig, eng, Engel, Enkel, Ente, Erbe, Ernte, Esche, Espe, Estrich, Ferge, Ferse, fertig, fest, fremd, Gelenk, gerben, Gerte, Geselle, Gesetz, Gespenst, Grenze, Hechel, Hecke, Heft, Hemd, hemmen, Henne, kentern, klemmen, Krempe, Lerche, Menge, Mensch, Mergel, merken, messen, Metzger, Nelke, nennen, prellen, rechnen, renken, schellen, schenken, Scherflein, Scherge, Schnepfe, senden, senken, Spengler, sperren, sprengen, stemmen, strecken, Vetter, wecken, welsch, wenden, widerspenstig Noch 1985 hatte Augst folgende Wörter zur Änderung vorgesehen: ätzen, dämmern, Färse, Geländer, hätscheln, Käfferchen, kätschen, Lärm, päng, plänkeln, plärren, räuspern, Schächer, schächten, Schärpe, Zärte (Fisch); dräuen, Räude, räuspern, Säule, sträuben, täuschen; aufwendig (Variante), behende, belemmert, Bendel, Gemse, Hetze, hetzen, Kerner, kentern, kleckern, Krempel, Quentchen, Reps (süddt.f. Raps), Spengler, Spergel, Stengel, stremmen (stramm sitzen), überschwenglich; Beuche, bleuen, Greuel, greulich, Keulchen, schneuzen

Davon ist eine Zufallsauswahl durchgesetzt worden. Zu Ständelwurz schreibt Rolf Bergmann:

„Die Wiederzulassung der <ä>-Variante erscheint wenig sinnvoll, zumal die der Pflanze zugeschriebne aphrodisiakische Wirkung, durch die die Bezeichnung einmal motiviert war, heute nicht mehr bekannt sein dürfte. Den Reformkritikern ist die Änderung offenbar entgangen; Stellungnahmen sind mir nicht begegnet.“ (Sprachwissenschaft 1998, S. 255; in meinem Kritischen Kommentar von 1997 ist die Änderung kommentiert)

Es gibt unzählige Belege dafür, daß der Zusammenhang zwischen behende und Hand nicht mehr empfunden wird: Der behände Läufer wurde nahezu unbeweglich. (Die Welt 1.3.2002) Behände springt er auf die Füße und rennt davon. (Agthe/Seck-Agthe: Flussfahrt mit Huhn. Rowohlt 2001)

(Augst hatte auch seelig geplant, obwohl es nicht mit Seele zusammenhängt; die Änderung ist nun für später in Aussicht gestellt. Statt Krebs will er Kreps schreiben, außerdem Apt, Biebel usw.) Die Änderung von Tolpatsch in Tollpatsch kann allenfalls geduldet, aber nicht vorgeschrieben werden. Es stimmt nicht, daß die meisten Menschen hier an Tollheit denken, viele assozieren auch den semantisch näherliegenden Tölpel oder einfach gar nichts Bestimmtes. Zierat wurde von Unwissenden gelegentlich mit zwei r geschrieben, weil die zugrunde liegende Ableitung nicht produktiv ist; aber auch dies kann nicht vorgeschrieben werden. Leider muß man feststellen, daß die Reformer hier wie auch sonst keinerlei sprachgeschichtliche Kenntnis hatten; sonst hätte Nerius nicht schreiben können, es solle nun „das r in Zierrat nicht mehr getilgt werden“ (Nerius 1996, S. 34; vgl. auch die ständig wiederholte Fehldeutung von selb(st)ständig). Augst irrt sich immer wieder, was die Herkunft der Wörter betrifft (Eidechse, Kleinod u. a.). Die Probleme, die das Augstsche Verfahren aufwirft und die zu verhängnisvollen Ergebnissen wie dem „Wortfamilienwörterbuch“ geführt haben, sind in meinem Diskussionsbeitrag „Spekulative Volkslinguistik“ (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 1999) dargestellt, den ich auf Wunsch gern übermittele. Von der Qualität der Augstschen Sprachkunde mag folgender Auszug aus seinem Wörterbuch einen Eindruck vermitteln: „a-, ab- an-, ana- /Präfix/ nicht; /oft mit der zusätzlichen Bed./: zuwiderlaufend: ahistorisch; apolitisch; asymmetrisch; abnormal; anorganisch; anachronistisch. Das Präfix verbindet sich (in geläufigen Wörtern) weniger häufig mit fremden Adjektiven u. ist kaum produktiv. Bem.: ab- ist etym. eine Variante des Negationspräfix a- (...).“ Da dies ohne jede Relativierung vorgetragen wird, muß man annehmen, daß der führende Rechtschreibreformer gar nicht weiß, wie falsch das alles ist. Schon deshalb sollte man sich nun endlich von den Augstschen Neuerungen grundsätzlich distanzieren. Es gibt keinen Grund, dem Adjektiv rauh sein h zu nehmen; es ist sowohl etymologisch berechtigt als auch in seiner Funktion als Blickfang-h, das die zum Vergleich herangezogenen Adjektive blau, schlau und genau nicht brauchen. (Sogar der SPIEGEL hat rauh am 25.4.2005 wiederhergestellt, und zwar demonstrativ auf der Titelseite, wie eine Woche zuvor schon recht haben. Die Wörterbücher hingegen haben sogar die Rauhnächte verkürzt, obwohl sie nicht mit rauh, sondern mit Weihrauch zusammenhängen.) Vgl. Meinhold/Stock in Nerius et al.: Deutsche Orthographie. Dudenverlag 2000, S. 391 über den Markantheitsgewinn durch das Blickfang-h.

Besonders ärgerlich ist, daß die Augstschen Einfälle bis auf wenige Ausnahmen allesamt obligatorisch sein sollen. Wer sprachrichtig Zierat, einbleuen usw. schreibt, bekommt also in Zukunft einen Fehler angerechnet. So weit darf es niemals kommen.

2. Dreibuchstabenregel

Die Erhaltung von drei gleichen Buchstaben an der Nahtstelle von Zusammensetzungen (Brennnessel, Missstand) greift auf alte Schreibgewohnheiten zurück, von denen man im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich abgekommen war. Jacob Grimm rechnete bekanntlich das Schreiben von drei gleichen Buchstaben, wo nur einer hörbar ist, zum Pedantischen der deutschen Sprache. Übrigens wäre die Vereinfachung in du reist (statt reisst), du musst (statt mussst) nach derselben Logik zu beanstanden, die auf die Beibehaltung aller Buchstaben in der Komposition drängt. Zu den ersten Ausdrücken, bei denen aus ästhetischen oder lesepsychologischen Erwägungen die Vereinfachung durchgeführt wurde, zählten Brennessel und Schiffahrt, weil sich hier eine selbständige Bedeutung eingestellt habe. Konrad Duden empfahl die Ausdehnung auf Bettuch und andere Wörter. Die bekannten Ausnahmen (Sauerstoffflasche) waren eine Konzession im Rahmen der Konferenz von 1901.

Die Rechtschreibreformer empfehlen den Bindestrich zur gefälligen Entzerrung der gerade erst eingeführten Dreifachbuchstaben; noch im Duden von 2004 steht: Eisschnelllauf, auch Eisschnell-Lauf. Unangenehmerweise sitzt der Bindestrich gerade an einer Stelle, an der nicht die primären Konstituenten des Kompositums zusammenstoßen. Der Duden gibt zwar noch Schiff-Fahrt an, traut sich aber nicht, die weiteren Zusammensetzungen ebenso zu gliedern, also Schiff-Fahrtsrecht, Großschiff-Fahrtsweg usw. Der Kalamität wäre nur durch noch mehr Bindestriche (Durchkupplung) zu entgehen (Groß-Schiff-Fahrts-Weg), womit aber gleich eine neue entstünde. Bei den Adjektiven ist es eher noch schlimmer. Die Reformer mußten erörtern, ob bei der Entzerrung von genusssüchtig das erste Glied nun nicht wortartgemäß groß geschrieben werden müsse; sie bejahten dies schließlich und empfahlen angesichts so unerwünschter Ergebnisse wie Genuss-süchtig (ÖWB) dann doch lieber, bei Adjektiven keinen Gebrauch vom sonst wohltätigen Bindestrich zu machen. Im Duden wird zwar die Still-Legung empfohlen, aber nicht still-legen.

Es sei noch erwähnt, daß Mehrfachanschlagen derselben Taste ergonomisch ungünstig ist, da anders als beim Klavier kein Fingerwechsel möglich ist. Bei Christoph Hein, einem der ganz wenigen Autoren, die bei Suhrkamp in Reformorthographie gedruckt werden wollten, liest man – neben vielen anderen Fehlern – gleich zweimal Gusstücke (Landnahme S. 175). Die Deutsche Bahn bietet im Speisewagen Pressack an (April 2004).

3. Fremdwortschreibung

Die Fremdworteindeutschung ist äußerst unsystematisch durchgeführt. Das soll an einigen Beispielen gezeigt werden. Geplant waren: Bopp (statt Bob!), fitt, Flopp, Frittfliege, Hitt, Mopp, Pepp, Popp, Sett, Stepp, Stopp, Stripp, Tipp, Topp. Davon sind übriggeblieben: Mopp, Stopp und Tipp. Das beweist, wie prinzipienlos die Neuregelung auch auf diesem Gebiet ist – ein Zufallsprodukt, von dem man ebensogut wieder Abstand nehmen könnte. Die Integration englischer Fremdwörter ist heute kaum noch üblich. Die Neuregelung führt zu so problematischen Einträgen wie „Tipp – engl. Bez. für Trinkgeld“ (Duden Universalwörterbuch). Stop ist international gebräuchlich, es gibt keinen Grund, es weiter einzudeutschen. Der Mop bot Schülern gewiß keine relevanten Schwierigkeiten, zumal der Staubbesen im Zeitalter der Staubsauger kaum noch gebräuchlich ist (weshalb in der Süddeutschen Zeitung am 8.1.2005 auch schon vom Vileda-Patent-Wischmob zu lesen war). Die Fritfliege ist samt der geplanten Schreibänderung aus den meisten Wörterbüchern wieder verschwunden. Wer Bopp statt Bob schreiben will, müßte eigentlich den Pub zum Papp machen, aber das scheint nie erwogen worden zu sein.

Völlig überflüssig ist die – außerdem regelwidrige – Neuschreibung Grislibär (statt, wenn schon, Grissli). Der Reformer Heller hat sie ebenso wie das sonderbare Hämorriden (statt, wenn schon, Hämoriden) mit dem Hinweis auf den Kompromißcharakter der gesamten Neuregelung gerechtfertigt.

Französische Wörter auf -é sollen künftig auch mit -ee geschrieben werden können, doch ist dies weder eine allgemeine Regel (denn zahlreiche Wörter wie Abbé, Attaché, Protegé, Rosé sind davon nicht betroffen), noch liegt der selektiven Eindeutschung eine empirische Erhebung zugrunde. Man muß vielmehr Wort für Wort im Wörterverzeichnis nachschlagen. Buklee, Exposee, Kommunikee, Kupee, Negligee, passee, Varietee, Schikoree u. a. waren keineswegs schon so weit üblich, daß die Neuschreibung wörterbuchreif genannt werden könnte.

Es soll heißen Nessessär, aber Glacé bzw. Glacee (nicht Glassee). Nur weil der Volksmund aus den Pommes frites die Fritten gemacht hat, soll das französische Wort Friteuse obligatorisch (!) durch Fritteuse ersetzt werden. Das gelehrte Wort Solstitium wird schon lange zu Solstiz verkürzt, aber deshalb muß man nicht die Variante Solstizium einführen; die Wörterbücher kennen neuerdings auch das Justizium ('Stillstand der Rechtspflege'), wegen Justiz, das aber ganz anders gebildet ist. In beiden Fällen kann man kaum sagen, daß mit der Neuerung einem dringenden Bedürfnis abgeholfen worden wäre.

plazieren/placieren ist nicht von Platz abgeleitet. Die neuschreibliche Form deplatziert sieht deshalb so ungeschickt aus, weil von deutschen Stämmen nur wenige Ableitungen mit dem Lehnsuffix -ieren und praktisch überhaupt keine mit dem Lehnpräfix de- gebildet werden (W. Fleischer in P. O. Müller [Hg.]: Fremdwortbildung, Frankfurt 2005, S. 73f.). Es gibt hausieren, grundieren, hofieren, stolzieren, buchstabieren und inhaftieren, aber die vielen Ad-hoc-Bildungen dieser Art, die Emil Öhmann in seinen Suffixstudien anführt, haben sich aus gutem Grund nicht eingebürgert. Wenn Joachim Fest deplaciert schreibt, will er es bestimmt mit scharfem s gesprochen wissen, aber das 10bändige Dudenwörterbuch ändert den Beleg in deplatziert.

Daß numerieren zwangseingedeutscht wird (nummerieren), bereitet dem Lexikographen Schwierigkeiten, wie schon Dudenredakteur Scholze-Stubenrecht beklagte: „So kann man allein dem amtlichen Wörterverzeichnis entnehmen, dass die Beziehungskette Nummer – nummerieren nicht weitergeführt werden soll zu Numero und Numerale, die von vielen Sprachteilhabern sicher als nicht allzu weit entfernt von Nummer angesehen werden dürften.“ (Sprachwissenschaft 2/2000)

Eine durchgreifendere, aber keineswegs überzeugender Fremdworteindeutschung war geplant. Bekanntlich wurden nach einer Intervention von Minister Zehetmair 35 Schreibungen durch die Amtschefkommission der Kultusministerkonferenz am 18.10.1995 in München abgelehnt,fast ausschließlich Fremdwörter: Karrosse, Karrosserie, Packet, Pot, Jackpott, Zigarrette, Zigarrillo, Restorant, Alfabet, Asfalt, Katastrofe, Apostrof, Strofe, Triumpf, Zellofan, Rabarber, Reuma, Rytmus, Eurytmie, Astma, Atlet, Biatlon, Triatlon, Teke, Apoteke, Artotek, Bibliotek, Diskotek, Hypotek, Kartotek, Videotek, Ortografie, Tron; dazu die einheimischen Wörter Frefel und Fede. (Eigentlich wäre Triumf zu erwarten gewesen, wenn ph durch f ersetzt wird.)

Geblieben sind Katarr, Myrre, -graf-, -fon-: Orthografie usw. - Kolofonium ist seltsam, weil im Eigennamen der kleinasiatischen Stadt Kolophon gar nicht das griechische Element phon vorliegt. (Die Litfaßsäule hat ja auch nichts mit dem Faß zu tun.) Die Maßnahme erweist sich als prinzipienlos, sonst wäre in allen griechischen Wörtern ph und th vereinfacht worden. Das Unberechenbare macht es schwieriger als zuvor, die richtigen Schreibweisen zu erahnen. (Der Umgang der Reform mit den Fremdwörtern ist von Grund auf widersprüchlich: Während die Fremdwörter bei der Silbentrennung als grundsätzlich undurchschaubar angesehen und entsprechend behandelt werden (Res-pekt, Mikros-kop, malt-rätieren, Tee-nager), soll man bei mehrteiligen Entlehnungen die Wortart in der Quellsprache kennen, um entsprechend groß schreiben zu können: Herpes Zoster, Dativus Commodi, Primus inter Pares, L'Art pour l'Art.)

4. s – ss – ß: Zur Problematik der „Heyseschen s-Schreibung“

1. Mancher Kritiker der Rechtschreibreform hat den Eindruck, die neue s-Schreibung sei so schlecht nicht und man könne den Kultusministern durch Kompromißbereitschaft in diesem Punkt entgegenkommen. Dem entspricht die Neigung der Kultusminister, gerade in dieser Neuerung, die einen großen Teil der Änderungen in reformierten Texten ausmacht, den Prüfstein der Unterwerfungsbereitschaft zu sehen. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat daher in einem „Kompromißvorschlag“ über die reformierte s-Schreibung mit Recht gesagt: „Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft.“ Sie ist der Geßlerhut der Reform, und die Frage ist nur, ob man aufgrund dieser Einsicht das Knie davor beugen soll oder eben gerade nicht. Man stößt auf studentische Arbeiten, in denen lediglich die Konjunktion dass automatisch an die Neuregelung angeglichen und damit für den Prüfer die Anpassung an die Rechtschreibreform signalisiert ist. Ähnlich verfahren manche Wissenschaftler, die sich die Förderung aus öffentlichen Mittel nicht verscherzen wollen.

Oft hört man auch, die ss-Schreibung sei akzeptiert, sie gehöre zu den unstrittigen oder weniger strittigen Neuerungen. Wahr ist, daß sie in vielen Bereichen durchgesetzt ist, aber akzeptiert ist sie deshalb nicht. Die meisten Schriftsteller z. B. lehnen sie entschieden ab. Aber auch Kenner der Orthographie und ihrer Geschichte haben ihre Bedenken so oft vorgetragen, daß der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes zu Unrecht behauptet: „Es gibt Teile der Rechtschreibreform, die unter Fachleuten weitgehend unumstritten sind wie etwa die neue ss/ß-Regelung.“

2. Worum geht es überhaupt? Nach der bisher üblichen Schreibweise (sie wird auch die Adelungsche genannt) gilt folgendes: Silbengelenke schreibt man mit ss: hassen, Flüsse (mit Buchstabenverdoppelung wie in hemmen, Latte usw.). Die Ligatur ß tritt ein, wenn stellungsbedingt kein Silbengelenk mehr vorliegt: Haß, Fluß; haßt. Faustregel für Grundschüler: „ss am Schluß bringt Verdruß.“ Die Heysesche Regel in der Fassung der heutigen Reformer sieht vor, daß nach betonten kurzen Vokalen ss geschrieben wird, nach langen Vokalen und Diphthongen ß für das stimmlose und s für das stimmhafte s. In beiden Schreibweisen dient der Buchstabe ß dazu, stimmloses s an denjenigen Stellen zu bezeichnen, an denen auch ein stimmhaftes s stehen kann, also nach langen Vokalen und Diphthongen; so werden reißen und reisen unterschieden. (Dieser Behelf wäre nicht nötig gewesen, wenn das Deutsche – wie einige andere Sprachen – den Buchstaben z für das stimmhafte s verwendet hätte und nicht zur Bezeichnung der Konsonantenverbindung ts. Die Zahl der Minimalpaare nach dem Muster reißen/reisen ist übrigens sehr gering, und in weiten Teilen des deutschen Sprachgebietes wird überhaupt nicht unterschieden.)

Die Heysesche s-Schreibung beseitigt also im wesentlichen die Schlußbuchstabigkeit und damit eine typographische Gefälligkeit gegenüber dem Leser. (Auch andere Schriftsysteme wie das hebräische und arabische kennen eine mehr oder weniger elaborierte Schlußbuchstabigkeit. Sie verleiht den Wörtern zusätzliche Prägnanz und erleichtert damit das Lesen.) Übrig bleibt die phonematische Verwendung des ß, die beiden Schreibweisen gemeinsam ist.

Beide Regeln kennen zahlreiche Ausnahmen wie Bus, das. Was das einfache s am Ende von Erkenntnis usw. betrifft, so bringt es zum Ausdruck, daß nur Stämme, nicht aber Suffixe mit der vollen Kennzeichnung ausgestattet werden; das entspricht der sparsamen Bezeichnungsweise in Funktionswörtern wie das, es, bis. Dieser moderne textsemantische Grundsatz hat sich erst in neuerer Zeit durchgesetzt; bis ins 19. Jahrhundert hinein schrieb man durchaus Erkenntniß (wie auch Freundinn wegen Freundinnen usw.). Dieser Gesichtspunkt wird in der Neuregelung im großen und ganzen durch das Zusatzkriterium der Betontheit berücksichtigt.

Die Heysesche Konstruktion ist ausschließlich auf die phonographische Komponente unseres Schriftsystems fixiert. Darauf beruht ihre augenscheinliche Überzeugungskraft und zugleich ihre Schwäche. Ginge es nur darum, die Kürze und Länge der Vokale zu kennzeichnen, wäre die ss-Schreibung tatsächlich etwas besser als die auf den ersten Blick verwirrende Verwendung eines dritten Buchstabens ß. Der Leser ist jedoch primär nicht am Klang des Gelesenen interessiert, sondern am Sinn, d. h. an der raschen Erfassung der Wörter oder Morpheme. Unter diesem Aspekt ist die Schlußbuchstabigkeit des ß vorteilhaft.

3. Für die Heysesche s-Schreibung wurde nachträglich das Stammprinzip, die sog. Schemakonstanz, bemüht. In der letzten Äußerung der bald danach aufgelösten Zwischenstaatlichen Kommission (Sprachreport-Extraausgabe Juli 2004) wird das Stammprinzip sogar zum Hauptgrund der Änderung stilisiert, was nachweislich falsch ist. Versteht man den Buchstaben ß als Ligatur für ss in Nichtgelenk-Position, ist das Stammprinzip auch in der Adelungschen Tradition gewahrt. Die Anhänger der Neuschreibung müssen für Fälle wie fließen-Fluss eine Ausnahmeregel ansetzen. Burkhard Schaeder schreibt:

„Auch weiterhin gilt selbstverständlich die Regel, dass nach langem Vokal ß steht: Fuß – Füße, Gruß – Grüße – grüßen – mit gelegentlichem Wechsel von ss und ß im selben Stamm entsprechend einem Wechsel von kurzem und langem Vokal, z. B. essen – aß – gegessen, fließen – floss – geflossen, der Fluss.“ (Burkhard Schaeder, hg.: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Frankfurt 1999, 44) Auch in anderen frühen Darstellungen wird der Widerspruch durch Überdetermination gar nicht bemerkt: „Die auffälligste Neuregelung zur Erhöhung der Wirksamkeit des Stammprinzips betrifft den bisherigen Wechsel von ß und ss, wie z.B. Flüsse-Fluß, Nässe-naß, Wasser-wäßrig, essen-ißt. Nach der Neuregelung gilt, dass nach kurzem Vokal generell ss zu schreiben ist, also z.B. Fluss/Flüsse, Nässe-nass, Wasser-wässrig, essen-isst-gegessen, müssen/muss/musste. In der Folge dieser Regelung wird die Konjunktion jetzt dass geschrieben. Nach langem Vokal steht weiterhin ß, also z.B. Fuß/Füße, Maß/Maße; zwar essen-isst-gegessen, aber ich aß.“ (Augst/Schaeder: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung - Die wichtigsten Neuerungen im Überblick. KMK 1996)

Schaeder hat nie verstanden, daß dies keineswegs mit dem Stammprinzip übereinstimmt. Augst sieht die Sache richtiger: „Grundsätzlich hat die graphische Kennzeichnung der Vokalquantität Vorrang vor der Schemakonstanz.“ (ebd. S. 90; vgl. auch ders. in Augst et al. 1997, S. 122) Er schlägt daher vor, die häufigsten 25 Einzelschreibungen auswendig lernen zu lassen: groß, weiß usw. (vgl. Augst/Dehn 1998) – im Grunde eine Bankrotterklärung für die angeblich so hilfreiche neue Regel. Es trifft zu, daß in einigen Fällen als zufälliger Nebeneffekt auch die Stammschreibung augenfällig verstärkt wird – jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung und in durchaus trügerischer Weise.

4. Die Heysesche s-Schreibung war im 19. Jahrhundert schon einmal erprobt worden, und zwar in der Schulorthographie Österreichs. Sie hatte sich jedoch nicht bewährt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus dem Protokoll der Ersten Orthographischen Konferenz (1876):

„Demnächst empfahl Hr. Scherer, für jetzt bei der allgemein verbreiteten Adelungschen Regel stehen zu bleiben; Heyse sei bisher im wesentlichen nur in Schulen durchgedrungen, und aus Österreich könne Redner bezeugen, daß auch wer danach unterrichtet werde, die Heysesche Regel später wieder aufzugeben pflege.“ (Verhandlungen ... S. 97)

Mit der Zweiten Orthographischen Konferenz 1901 kehrte Österreich zur Adelungschen s-Schreibung zurück. Im Protokoll der Zweiten Orthographischen Konferenz von 1901 liest man, daß sich Otto Lyon, also der Bearbeiter der Heyseschen Grammatik, „entschieden gegen die Einführung der Heyseschen Schreibweise erklärt“ habe. In der sechsundzwanzigsten Auflage von 1900 schreibt Lyon: „Der Schreibgebrauch hat sich in überwiegender Weise dafür entschieden, am Ende einer Silbe wie auch vor einem t, das ss in ein ß zu verwandeln.“ Die Beschlüsse der Konferenz trugen dem Rechnung. Im Jahr 1901 wurde also der Schreibgebrauch bestätigt; er ist seither natürlich noch allgemeiner geworden.

Die heutigen Befürworter der Heyeschen Regelung erwähnen niemals, daß es diese historischen Erfahrungen bereits gibt. Ein österreichischer Kenner stellte kühl fest: „Die 'neue' Regelung für ss und ß ist nicht wirklich neu, sie galt bis 1901, dem Jahr der letzten Rechtschreibreform, im gesamten altösterreichischen Staatsgebiet. Was damals in einem Teilgebiet der Deutschsprachigen abgeschafft wurde, wird heute als Neuerrungenschaft gefeiert. Absurd.“ (Horst Fröhler: Rechtschreibreform – Ja oder Nein? Wien, Sept. 1997, S. 51)

5. Der leichthin gemachte Vorschlag, bei der s-Schreibung nachzugeben, übersieht die Folgeprobleme, die sich inzwischen deutlicher gezeigt haben. Der deutsche Sprachbau bringt es mit sich, daß nun ungemein häufig drei gleiche Buchstaben geschrieben werden müssen: Schlusssatz, Missstand, Nussschokolade usw. (häufiger als alle anderen Verdreifachungen wie Kammmolch zusammengenommen!) Der reformierte Duden empfiehlt zur Entzerrung solcher Gebilde den Bindestrich: Miss-Stand (wie auch Still-Legung, Eisschnell-Lauf, Kamm-Macher usw.). Das ist der ziemlich linkische Versuch, ein Problem zu lösen, das es ohne die Reform überhaupt nicht gegeben hätte. Jahrelang konnten die Reformer sich nicht einigen, welche Folgen dieser Bindestrich für die Groß- und Kleinschreibung hat: genuss-süchtig oder Genuss-süchtig? Im dritten Bereicht entscheidet sich die Zwischenstaatliche Kommission dafür, wegen dieser unangenehmen Folgen bei Adjektiven (aber nicht bei Substantiven) vom Entzerrungsbindestrich abzuraten! (Vgl. auch ÖWB-Schulausgabe 2001, S. 752.) Solche Sorgen hatte man vorher nicht. Der Kompromiß der Akademie enthält den desperaten Vorschlag, in solchen Fällen doch wieder das ß zu verwenden: Mißstand. Damit würde jedoch die Logik, die man der Heyseschen Regel als einzigen Vorzug nachrühmen kann, gänzlich unterhöhlt.

6. Die Heysesche s-Schreibung ist erfahrungsgemäß überaus fehlerträchtig. Die zahllosen Beispiele fehlerhafter Anwendung (anschliessen, heisst, gross – alle aus: Mathematik – Exponentialfunktionen verstehen und anwenden. Ernst Klett Verlag) können auch bei Erwachsenen nicht mehr als Übergangsschwierigkeiten erklärt werden. Es sind auch keine Rückfälle in die „alte“ Orthographie, denn in den meisten Fällen wurde vor der Reform gar nicht so geschrieben, wie man es jetzt überall findet, sogar in Schul- und Fachbüchern angesehener Verlage. Einige Untersuchungen des Psychologen Harald Marx zeigen eine Zunahme der Fehler in diesem Bereich auch bei Kindern, die von Anfang an die Neuschreibung gelernt haben.

7. Wenn so viele Fehler auch von professionellen Textverfassern gemacht werden, stellt sich die Frage nach den Ursachen. Zunächst ist zu erwähnen, daß die Vokallänge in den Regionen des deutschen Sprachraums oft nicht eindeutig feststeht. Viele Deutsche sprechen Spaß, Glas, Fußball usw. mit kurzem Stammvokal. Die herkömmliche Schreibweise ließ das nicht erkennen, und man brauchte sich auch als Schreibender keine Gedanken darüber zu machen.

Ein anderer Grund ist etwas subtiler: Diphthonge gelten zwar als metrisch lang, werden aber vom naiven Sprecher offenbar als eher kurz empfunden. Ein Grund mag sein, daß sie nicht emphatisch gedehnt werden können. Einfache Vokale werden in Wörtern wie groß oder riesig oft überlang gesprochen. Bei heiß u. ä. ist das nicht möglich. So findet man in Büchern zwar „korrekt“ lässt, dass usw., aber immer heisst, Zerreissprobe, die Weissen, Fleiss, ausserordentlich usw. (Beispiele aus „Wunschtraum und Wirklichkeit“ von Christa Meves, Christiana-Verlag1997) Sogar in der neuesten Dudengrammatik von 2005 findet man die Fehlschreibung weiss (S. 265). Die Überschrift Zerreissprobe (ZEIT vom 19.5.2005) ist nicht ungewöhnlich. Wegen der regelmäßigen Ersetzung des ß durch SS bei Schreibung in Großbuchstaben prägen sich einige Wörter mit ss ein: STRASSE, IMBISS, daher dann Strasse, Imbiss.

8. Die Wiedereinführung der Heyseschen s-Schreibung löst nicht das einzige nennenswerte Problem, das es außerhalb der Grundschule je mit der Wiedergabe des s-Lautes gegeben hat: Die Unterscheidung der Konjunktion daß bzw. nun dass von Artikel und Pronomen das ist ja eine grammatische und setzt entsprechende grammatische Kenntnisse voraus. Allerdings muß man sagen, daß es in Zeitungs- und anderen Texten erwachsener Autoren praktisch keine Verwechslungen mehr gab, während die Heysesche Regel selbst hier zur Verwirrung führt. Einer der Gründe mag sein, daß nun am Ende eines Wortes drei verschiedene s-Buchstaben in Frage kommen, während es bei der Adelungschen Schreibweise nur zwei waren und die Buchstabenkombination ss am Schluß eines Wortes intuitiv überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen wurde, weil sie eben schlechterdings nie vorkam und daher für den routinierten Leser „unmöglich“ aussah.

9. Die Reformer hatten ursprünglich nicht die Absicht, ausgerechnet die Heysesche s-Schreibung wiedereinzuführen, sondern wollten die Einheitsschreibung das (auch für die Konjunktion). Das war sogar einer der wichtigsten Programmpunkte: „Von großer Bedeutung sei der Vorschlag, die Schreibung der Konjunktion daß zu ändern, betonte Mentrup.“ (dpa 29.9.92. Wolfgang Mentrup war damals ein führender Reformer. Gegen das Zeugnis der Sprachgemeinschaft, die vor 600 mit der Unterscheidungsschreibung das/daß anfing und sie seither mit zunehmender Konsequenz, in den letzten 300 Jahren praktisch ohne jedes Schwanken beibehielt, setzte Mentrup eine einzige Ostberliner Dissertation, in der angeblich nachgewiesen wird, daß halbwüchsige Schüler ohne eine solche Unterscheidung weniger Fehler machen und beim Lesen nicht wesentlich langsamer sind. Das zeigt noch einmal, welcher Geist die Reform beseelte.) Es wäre paradox, wenn von der ganzen Rechtschreibreform etwas übrigbliebe, was eigentlich niemand gewollt hat.

10. Der Kompromiß wäre zwar das Ende der Rechtschreibreform, zugleich aber der Beginn einer neuen – mit allen Konsequenzen, die eine Rechtschreibreform nach sich zieht. Nicht nur die bereits reformierten Texte würden ungültig, sondern auch die tausendmal umfangreicheren Bestände nichtreformierter Literatur. Der „Rechtschreibfriede“ würde gerade wegen der symbolischen Bedeutung dieses „roten Tuchs“ nicht wiederhergestellt. Kann man das ernsthaft wollen?

Fazit: Weder bei der Fremdwortschreibung noch im gesamten Bereich der „Laut-Buchstaben-Entsprechung“ gibt es einen Grund, von der bisher üblichen Regelung anzugehen. Eindeutschungen fanden immer statt, man braucht sie nicht zu forcieren.


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