03.01.2007 Theodor Ickler GermanistenNeuer Versuch, das Unbegreifliche zu erklärenUm zu verstehen, warum die meisten deutschen Germanisten und Sprachwissenschaftler die Rechtschreibreform so klaglos hingenommen haben, muß man einen Blick auf ihre geistigen Voraussetzungen werfen.Sehr viele, die sich der „Theoretischen Linguistik“ zurechnen, arbeiten grundsätzlich nur mit selbstgemachten Beispielsätzen. Chomsky hat ihnen eingeredet, die eigene Kompetenz sei die wahre Datenquelle. Sie argumentieren nur intra muros und kennen keine Fachliteratur außerhalb der generativen Tradition. „Um 500 v. Chr. begegnet in den Quellen ein altindischer Grammatiker namens Panini, der sich um die Analyse des Sanskrit verdient machte, wenn auch noch einigermaßen unsystematisch und ohne erkennbaren Einfluss auf die Entwicklung außerhalb Indiens.“ (Oliver Jungen/Horst Lohnstein: Einführung in die Grammatiktheorie. München 2006:34; natürlich in reformierter Rechtschreibung) Panini „begegnet in den Quellen“. Wo denn sonst? In Wirklichkeit ist Paninis Grammatik in Indien ein allgegenwärtiges Werk, die Grundlage der höheren Bildung. Es gibt leichter verständliche Aufbereitungen, Kommentare und Subkommentare, einige davon gehören zum Scharfsinnigsten, was die indische Kultur hervorgebracht hat (Patanjali, Bhartrhari). Ganze Philosophien setzen die Kenntnis Paninis voraus. Das „Unsystematische“ der Ashtadhyayi erscheint nur dem westlich geprägten Betrachter so. Unsere Argumentationsweisen sind an griechischen Vorbildern geschult, die sich an Beweisgängen wie bei Euklid orientieren. Paninis Grammatik mit ihrem extremen Streben nach Verknappung soll nach einer ansprechenden Vermutung die gleichzeitige Präsenz des Regelapparates im Kopf des Sprechers repräsentieren. Sie wird auswendig gelernt, bevor man den Sinn der viertausend Lehrsätze erklärt bekommt. Den Text allein kann auch der Klügste nicht verstehen, man braucht einen Lehrer bzw. entsprechende Hilfsliteratur. Es ist lächerlich, gegen dieses ganz andersartige Werk mit dem Vorwurf des „Unsystematischen“ zu kommen. Unsere neuere Sprachwissenschaft begann übrigens erst um 1800, als nicht nur die Sanskritsprache, sondern auch Paninis Grammatik im Westen bekannt wurde. Dort lernte man, wie Wörter ordentlich zerlegt werden, man fand eine Ablauttheorie und anderes, ohne dessen Kenntnis die Sprachwissenschaft nicht möglich gewesen wäre. Die Inder hatten schon vor Panini eine ausgefeilte Phonetik, und sie waren das einzige Volk, das das semitische Alphabet nach phonetischen Gesichtspunkten so „systematisch“ wie nur möglich anordnete, während wir bis zum heutigen Tage die absurde babylonische Verwirrung memorieren. In dem Buch von Jungen/Lohnstein ist, wie in so manchem anderen, die neueste Version der Chomsky-Linguistik („Optimalitätstheorie“ nennt sie sich einnehmenderweise) der Gipfelpunkt von mehreren Jahrtausenden der Geistesgeschichte. Selbstgerechtigkeit und Unwissenheit sind ja stets verbunden. (Wen es interessiert: In meinem Buch „Die Disziplinierung der Sprache“ habe ich unter dem Titel der kontrastiven Fachtextlinguistik ein kurzes und harmloses Stückchen aus Paninis Werk vorgestellt und die Andersartigkeit zu erklären versucht. Das Werk selbst findet man an verschiedenen Stellen im Internet, in Nagarischrift und Transkriptionen. Ich erwähne das nur für diejenigen, die sich von der totalen Unverständlichkeit überzeugen wollen …)
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