27.09.2006


Theodor Ickler

Blankliegende Nerven

Eine Fallstudie – oder: Alles wird von Tag zu Tag einfacher und einfacher

Amtliches Wörterverzeichnis 2006:

blank [polieren, blankpolieren; putzen, blankputzen … § 34(2.1)]
blank [liegen, blankliegen [Nerven] § 34 E5]


Dies sind die angeführten Regeln, ergänzt um den Absatz (2.2), ohne den E5 nicht verständlich ist:

"§ 34 (2.1) Es kann zusammen- wie auch getrennt geschrieben werden, wenn ein einfaches Adjektiv eine Eigenschaft als Resultat des Verbalvorgangs bezeichnet (sog. resultative Prädikative), zum Beispiel:
blank putzen/blankputzen, glatt hobeln/glatthobeln, klein schneiden/kleinschneiden; kalt stellen/kaltstellen, kaputt machen/kaputtmachen, leer essen/leeressen
(2.2) Es wird zusammengeschrieben, wenn der adjektivische Bestandteil zusammen mit dem verbalen Bestandteil eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung bildet, die nicht auf der Basis der Bedeutungen der einzelnen Teile bestimmt werden kann, zum Beispiel:
krankschreiben, freisprechen, (sich) kranklachen; festnageln (= festlegen), heimlichtun (= geheimnisvoll tun), kaltstellen (= [politisch] ausschalten), kürzertreten (= sich einschränken), richtigstellen (= berichtigen), schwerfallen (= Mühe verursachen), heiligsprechen
E5: Lässt sich in einzelnen Fällen keine klare Entscheidung darüber treffen, ob eine idiomatisierte Gesamtbedeutung vorliegt, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben."


Das amtliche Wörterverzeichnis verweist ausdrücklich auf E5, postuliert also, daß bei blank liegen der idiomatische Charakter nicht klar ist und daher beide Schreibweisen möglich sind.

Der Fall ist so kompliziert, daß der Duden einen eigenen Kasten dafür eingerichtet hat; er ist 2006 schon dreimal so groß wie 2004. Auch dort heißt es ausdrücklich: "die Nerven haben blank gelegen od. blankgelegen". Da hier von adjektivischem Gebrauch keine Rede sein kann, muß man tatsächlich annehmen, daß entgegen (2.2) die Zusammenschreibung nicht obligatorisch eintritt. Es ist schwer einzusehen, wieso gerade die blankliegenden Nerven (außer im anatomischen Grundkurs) nicht idiomatisch gebraucht sein sollten.

Es wird aber noch komplizierter. Man sollte meinen, daß Verben mit bloß- sich ebenso verhalten wie die mit blank-. In diesem Fall hält der Duden keinen Kasten für nötig, stellt aber ausdrücklich fest, daß bloß liegen und sich bloß strampeln nur getrennt geschrieben werden dürfen. So will es auch das amtliche Wörterverzeichnis:

bloß [legen, bloßlegen [Mauern] … § 34(2.1); liegen, bloßliegen [Nerven] … § 34 E5; liegen
(unbedeckt), strampeln [sich] … § 34(2.3)]


Was zunächst das Bloßstrampeln betrifft, so sollte man meinen, daß es sich um eine mustergültige Resultativkonstruktion handelt, denn das Kind strampelt so lange, bis es bloß liegt. Der Verweis auf § 34 (2.3) hilft nicht weiter, denn dort steht nur:

"In den anderen Fällen wird getrennt geschrieben. Dazu zählen insbesondere Verbindungen mit morphologisch komplexen oder erweiterten Adjektiven, zum Beispiel:
bewusstlos schlagen, ultramarinblau streichen, ganz nahe kommen, dingfest machen, schachmatt setzen".


Die Beispiele sind alle nicht im entferntesten vergleichbar, bloß ist ja auch nicht morphologisch komplex (der Ausdruck kommt übrigens nur an dieser Stelle vor und wird leider nicht erklärt). Es kann sich also höchsten darum handeln, daß es ein "anderer Fall" ist, also nicht resultativ im Sinne von (2.1), aber gerade das leuchtet nicht ein.
Außerdem verschleiert der Dudeneintrag, was im amtlichen Wörterverzeichnis steht: daß nämlich bloß liegen im Gegensatz zu bloß legen nur getrennt geschrieben werden darf, falls es sich auf Drähte oder Mauern bezieht, also nichtidiomatisch gebraucht wird.
Des Rätsels Lösung findet sich in der dudeneigenen Regel K 56: "Ebenso gilt Getrenntschreibung bei intransitiven und reflexiven Verben." Diese Zusatzregel wird man im amtlichen Regelwerk so vergeblich suchen wie die Begriffe intransitiv und reflexiv. Sie kommen nur in einer nichtamtlichen "Handreichung" vor, die sich die Geschäftsführerin des Rechtschreibrates zusammen mit einigen Mitgliedern ausgedacht hat, ohne daß sie aber vom Rat insgesamt zur Kenntnis genommen oder gar ins Regelwerk aufgenommen worden wäre.
[Nachtrag: Hier hat mich mein Gedächtnis im Stich gelassen: In der Handreichung steht es auch nicht. Es muß im Hinterzimmer ausgebrütet worden sein.] Die Dudenredaktion scheint es aber trotz ihrer Mitwirkung an dieser Hintergrundaktivität nicht verstanden zu haben, denn im Kasten zu blank steht ausdrücklich, daß Drähte blank liegen oder blankliegen können, obwohl das Verb doch ebenso intransitiv ist wie bloß liegen.

In den bisherigen Versionen der Reform sah die Sache noch ganz anders aus:

2004: blank [polieren … § 34 E3(3); poliert … § 36 E1(1), adjektivisch auch blankpoliert … § 36 E2(2)]

1996: blank [polieren/poliert ...(*)] § 34 E3(3), § 36 E1(1.2)


Bei bloß wurde das Verzeichnis von 1996 (gleichlautend noch 2004) allerdings unverständlich:

bloß (nur) [liegen ... § 34 E3(2)] bloßliegen
bloßliegen (unbedeckt) ... § 34(2.2) bloß liegen


Sollte gemeint sein, daß durchgehend zusammengeschrieben wird außer wenn es sich um die Gradpartikel bloß = "nur" handelt?


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