10.09.2006


Theodor Ickler

Junge Wilde – nach elf Jahren

Einknicken trotz Klarsicht

Zum elften Jahrestag ihres Schreibens an Manfred Kanther ist ein Blick auf die ehemals „Jungen Wilden“ der CDU ganz aufschlußreich.
Auf den kuriosen Anfang des Briefes wurde schon hingewiesen, aber ich weiß nicht, ob der gesamte Text leicht greifbar ist. Man wundert sich einerseits über die Klarsicht der Leute, andererseits natürlich über ihr Einknicken. Koch ist der Eingeknickteste. Die Gründe sind unbekannt. Hier also noch einmal der ganze Brief:


Christoph Böhr
Roland Koch
Peter Müller
Günther H. Oettinger
Christian Wulff

14. September 1995


An den
Bundesminister des Innern
Herrn Manfred Kanther MdB
Graurheindorfer Str. 198

53117 Bonn


Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister,
lieber Herr Kanther,

wir wenden uns heute gemeinsam als Fraktionsvorsitzende aus sechs Bundesländern wegen der Frage der Inkraftsetzung der sogenannten „Rechtschreibreform“ an Sie.

In wenigen Tagen sollen die Kultusminister der Bundesländer über die Inkraftsetzung der neuen Rechtschreibregeln entscheiden. Wir haben gleichzeitig mit getrennten Schreiben die Kultusminister unserer Bundesländer aufgefordert, in der Kultusministerkonferenz am 28. September 1995 die Zustimmung zur Inkraftsetzung der neuen Rechtschreibregeln nicht zu erteilen. Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Innenminister, bezüglich der Entscheidung über die deutsche Amtssprache ebenfalls einer Inkraftsetzung vorläufig nicht zuzustimmen.

Wir sind uns sehr wohl der Tatsache bewußt, daß dieser Appell zu einem späten Zeitpunkt erfolgt. Uns ist bekannt, daß die Internationale Kommission bereits seit dem Jahr 1988 mit der Erarbeitung neuer Rechtschreibregeln befaßt ist. Allerdings ist bei dieser Diskussion jegliche breite Beteiligung der Öffentlichkeit unterblieben. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist die komplette Fassung der [der] Kultusministerkonferenz zur Änderung vorliegenden Rechtschreibregelungen nur inoffiziell und unter durchaus erschwerten Bedingungen erhältlich. Für die Mehrzahl der beruflich mit der deutschen Sprache befaßten Menschen in unserem Land, schon gar für Eltern, Lehrer und Schüler, wird das neue Regelwerk zu beträchtlichen Überraschungen führen. Es ist nach unserer Überzeugung ein unakzeptabler Vorgang, daß in einem Land, das sich die Zeit nimmt, monatelang über die Einführung eines neuen Postleitzahlensystems zu streiten, möglich sein soll, ohne jeden rationalen öffentlichen Diskurs und ohne jede Beteiligung der deutschen Parlamente eine grundlegende Veränderung der Schreibweise der deutschen Sprache vorzunehmen.

Unsere Bitte hat keineswegs zum Ziel, dauerhaft jegliche Veränderung von Rechtschreibregeln zu verhindern. Wir vertreten allerdings die Auffassung, daß eine Veränderung der Regeln nachhaltig begründet und auch weiterhin die Ausnahme sein muß. Die jetzt vorgesehene Rechtschreibreform hat zur Folge, daß Eltern ihren Kindern in den kommenden ein bis zwei Jahrzehnten ihren Buchbestand nur noch mit der Sorge übergeben können, daß sie dort mit einer „falschen“ deutschen Sprache konfrontiert werden. Diese Überlegung hat neben volkswirtschaftlichen Dimensionen durchaus auch konkrete Folgen für die Staatshaushalte. Unseres Erachtens haben alle Kinder unverzüglich Asnspruch darauf, Schulbücher zu erhalten, die sich vom ersten Tag an konsequent an die in Zukunft geltenden verbindlichen Rechtschreibregeln halten. Dieses bedeutet für einige Jahre die Vervielfachung des derzeitigen Lehr- und Lernmitteletats in allen Landeshaushalten. Um es klar zu sagen, uns erscheinen im Moment andere Aufgaben wichtiger zu sein als die Rechtschreibreform.

Auf zwei wesentliche Besonderheiten, die unsere Kritik erfahren, soll zusätzlich hingewiesen werden. Nach den derzeitigen Vorstellungen sollen die Rechtschreibregeln zum 1. August 1997 eingeführt werden. Ab dem Jahr 2001 sollen sie jedoch erst verbindlich werden. Dies könnte bedeuten, daß für eine ganze Grundschul-Generation keine verbindlichen Rechtschreibregeln bestehen. Ob ein Wort „richtig“ oder „falsch“ geschrieben ist, kann man bei einer sehr beträchtlichen Anzahl von Worten und für eine nennenswerte Anzahl von Jahren objektiv nicht mehr feststellen. Andererseits beklagen wir immer wieder mangelnde Qualität der Rechtschreib-Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Zustand wird nach unserer Überzeugung durch den unüberschaubaren Zustand der Rechtschreibregelungen für mehrere Jahre erheblich verschlimmert werden.

Wenn es dennoch in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Rechtschreibreform kommen soll, dann bedarf dieses einer politischen Legitimation. Die Kultushoheit liegt bei den Ländern, daher bedarf es der Zustimmung der Parlamente und der Form eines Staatsvertrages, um so weitreichende Veränderungen der deutschen Schriftsprache ins Werk zu setzen. Es hilft niemandem in der deutschen Politik, komplizierte neue Regeln ohne nennenswerte Beteiligung der Öffentlichkeit und unter Ausschluß der Parlamente rechtsverbindlich werden zu lassen.

Aus diesem Grund wiederholen wir unsere eingangs geäußerte Bitte, vorläufig auf die Verabschiedung der neuen Rechtschreibregeln zu verzichten und der parlamentarischen Diskussion in den Bundesländern die Möglichkeit zu geben, Sinn, Nutzen und Folgen der Veränderung der deutschen Schriftsprache ausgiebig zu erörtern. Wir sind uns sehr wohl bewußt, daß eine solche Vertagung nicht nur eine Verzögerung von einigen Monaten, sondern möglicherweise von einer erheblich längeren Zeit bedeutet. Dennoch scheint uns dieses Verfahren wesentlich ertragbringender als eine kurzfristige Verabschiedung eines bisher weitgehend geheimgehaltenen Regelwerkes.

Beim Übergang in die Informationsgesellschaft haben wir es heute schon bei Jugendlichen mit Modernitätsverweigerung und Modernitätsverlierern zu tun. Eine Rechtschreibreform führt zu zusätzlicher Verunsicherung und gefährdet die Autorität im Generationenverhältnis.

Mit freundlichen Grüßen

(Fünf Unterschriften: Christoph Böhr, Roland Koch, Peter Müller, Günther H. Oettinger, Christian Wulff; der sechste Mitverfasser [es ist ja von sechs Bundesländern die Rede] war Ole von Beust. Er zog seine Unterschrift zurück.)


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