31.07.2006


Theodor Ickler

Hintertürchen

Aus der inoffiziellen „Handreichung“ der selbsternannten Wörterbuchgruppe im Rechtschreibrat

Wie das Statut und die Geschäftsordnung des Rechtschreibrates mit Füßen getreten werden, zeigt nicht nur die Absage der bereits anberaumten zweiten Anhörung. Auch der Umgang mit den beschlossenen Regeln ist von nichtautorisierten Eingriffen gekennzeichnet.

Wahrig: "Bezeichnet voll in einer Verbindung mit einem Verb eine Eigenschaft als Ergebnis dessen, was das Verb ausdrückt (volltanken, der Tank ist dann voll), so kann den Regeln entsprechend sowohl getrennt als auch zusammengeschrieben werden. – Bei Zusammensetzungen mit voll als erstem Bestandteil handelt es sich jedoch um eine Untergruppe, die reihenbildend (vollfüllen, vollmalen, vollstellen) und oftmals idiomatisiert ist. Diese Verbindungen sind fast ausschließlich in Zusammenschreibung belegt, während die Getrenntschreibung unüblich ist." (Ähnlich unter fest und tot.)

Duden: "In Fällen wie festtreten, totschlagen oder volltanken ist die (nach den Regeln nicht ausgeschlossene) Getrenntschreibung ungebräuchlich." (K 56, Erläuterung)

Die einzelnen Einträge mit fest-, tot- und voll- werden dann so behandelt, als ob nur die Zusammenschreibung korrekt wäre.

Man kann die statistische Behauptung über die Belegbarkeit auf sich beruhen lassen, denn die Neuregelung und die Empfehlungen setzen sich sonst bedenkenlos über die gebräuchlichen Schreibweisen hinweg, und auch Reihenbildung spielt in der Frage der Getrennt- und Zusammenschreibung sonst keine Rolle. Die drei Einträge in beiden Wörterbüchen finden ihre Erklärung im "Untergrund" der neuesten Revision. Nicht im amtlichen Regelwerk, sondern in einer inoffiziellen "Handreichung", die nachträglich von einer selbsternannten Wörterbuchgruppe im Rechtschreibrat – aber ohne Kenntnis des Rates – ausgearbeitet wurde, findet sich folgende Darstellung:
"(§ 34(2.1) ‹fest›, ‹tot› und ‹voll›
Zu den resultativen Prädikativen gehören auch Zusammensetzungen mit den ersten Bestandteilen ‹fest›, ‹tot› und ‹voll›. Diese bilden eine Untergruppe, da sie reihenbildend und oftmals idiomatisiert sind. Aus diesem Grunde sind sie fast ausschließlich nur in Zusammenschreibung belegt, während die Getrenntschreibung unüblich ist, vgl. (ein Brett) fest nageln, (einen Passanten) tot fahren, (einen Pkw) voll tanken. Dieser Befund legt es nahe, bei resultativen Prädikativen mit den ersten Bestandteilen ‹fest›, ‹tot› und ‹voll› im Wörterverzeichnis nur die Zusammenschreibung als die übliche Form anzuführen und einen Verweis auf den Regelteil zu geben.)"

Diese Sonderregel war in einer Beschlußvorlage der Arbeitsgruppe zur Getrennt- und Zusammenschreibung um Peter Eisenberg als E5 zu § 34 vorgesehen, fand jedoch im Plenum verständlicherweise keine Mehrheit. Nun ist sie durch ein Hintertürchen doch noch eingeschmuggelt worden und zeitigt Folgen in den Wörterbüchern.

Beide Wörterbücher lassen immerhin durch den Hinweis, die ausgeschlossenen Formen seien dennoch regelkonform, ein gewisses Unbehagen durchblicken, unterwerfen sich aber dennoch, statt die "Handreichung" einfach zu ignorieren. So kommt es zu drei ganz ungewöhnlichen Sondergruppen, die schon regeltechnisch keine Parallele im sonstigen Wörterverzeichnis haben.

Eine ähnliche Wirkung hat die folgende Festlegung aus der "Handreichung":
"§ 34(2.1) 'resultative Prädikative'
§ 34(2.1) sieht für resultative Prädikative die Getrennt- wie auch Zusammenschreibung vor. Wie bereits aus den Beispielen hervorgeht, bezieht sich die Regel auf Objektsprädikative, nicht aber auf Subjektsprädikative. Subjektsprädikative werden nach § 34(2.3) getrennt geschrieben, z.B. sich satt essen, warm laufen (Motor)."

Diese Unterscheidung von Subjekts- und Objektsprädikativen ist im Regelwerk nicht einmal andeutungsweise ausgesprochen und im Rat nicht diskutiert worden, hätte wohl auch keine Chance gehabt, beschlossen zu werden. Beide Wörterbücher versuchen ihr gleichwohl gerecht zu werden, wenn auch inkonsequent und mit etlichen widersprüchlichen Ergebnissen. (Vgl. Gütherts konfuse Äußerungen zu sich wund liegen.)

Daß eine nichtamtliche Notiz von den Wörterbüchern als verbindliche Anweisung befolgt wird, ist nicht neu.
Dudenredakteur Werner Scholze-Stubenrecht teilte in der Zeitschrift Sprachwissenschaft 2/2000 mit: "In Zweifelsfällen ist den Empfehlungen der Zwischenstaatlichen Kommission für Rechtschreibung zu folgen, soweit solche vorliegen. [Zwar] kann die Kommission nicht als beliebig abfragbare Auskunftsstelle für das lexikographische Tagesgeschäft angesehen werden, da sie nur in mehrmonatigen Abständen zusammentritt und dabei auch nicht ad hoc die verschiedensten Problemfälle abarbeiten kann. Deshalb berät sich die Dudenredaktion sporadisch mit einzelnen Kommissionsmitgliedern oder anderen Linguisten, natürlich unter dem Vorbehalt, dass in grundsätzlichen Fragen der Gesamtkommission nicht vorgegriffen, deren Entscheidung nicht vorweggenommen werden kann. Was hingegen von der Kommission selbst als verbindlich oder als Empfehlung verabschiedet wurde, wird von der Dudenredaktion als ebenso maßgeblich wie das amtliche Regelwerk angesehen." Nur daß die Öffentlichkeit von diesem Hintergrund nicht die leiseste Ahnung hatte und daher auch die Zuverlässigkeit der Wörterbücher nicht nachprüfen konnte.
Was die neue "Handreichung" betrifft, so ist besonders erstaunlich, daß der Rat für deutsche Rechtschreibung keinen Anstoß daran nimmt, von einzelnen Mitgliedern, die mit der Vermarktung der Reform beschäftigt sind, derart überfahren zu werden. Wozu die aufwendigen Sitzungen von Plenum und Arbeitsgruppen, wenn nachträglich noch so folgenreiche Änderungen und Ergänzungen des gemeinsam Beschlossenen vorgenommen werden können?


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