26.06.2006


Theodor Ickler

Komplexer Murks

Neuer Versuch, den Stand der Dinge zu verstehen

Die Reformbestimmung, daß Adjektive auf ig/isch/lich weder mit Verben noch mit Adjektiven zusammengeschrieben werden dürfen, ist gestrichen, aber nicht ersatzlos. Bei den Adjektiven als Zweitgliedern lautet die Nachfolgebestimmung:
„§ 36 (2.2) Verbindungen mit einem einfachen unflektierten Adjektiv als
graduierender Bestimmung, zum Beispiel:
allgemein gültig/allgemeingültig, eng verwandt/engverwandt, schwer
verständlich/schwerverständlich, schwer krank/schwerkrank

E4: Ist der erste Bestandteil erweitert oder gesteigert, dann wird getrennt geschrieben,
zum Beispiel: leichter verdaulich, besonders schwer verständlich, höchst erfreulich
In Zweifelsfällen entscheidet die Akzentplatzierung, vgl. er ist höchstpersönlich
gekommen – das ist eine höchst persönliche Angelegenheit
.“


Zunächst ist unklar, wieso die Akzentplazierung entscheiden kann, was durch die übergeordnete Regel bereits entschieden ist. Bei Komparationsformen im ersten Teil ist die Zusammenschreibung kategorisch ausgeschlossen, das kann der Akzent nicht mehr ändern.
Der behauptete Akzentunterschied trifft aber gar nicht zu. Wahrig setzt korrekterweise auch im ersten Fall zwei Betonungsgipfel an: höchstpersönlich. Damit widerspricht aber die Zusammenschreibung der Regel, denn der erste Teil ist ein morphologisch komplexes Adjektiv.

schmutzig gelb muß weiterhin getrennt geschrieben werden, nach Wahrig jetzt mit der neuen, aber ebenso willkürlichen Begründung, es handele sich beim ersten Teil „nicht um ein einfaches, sondern um ein abgeleitetes Adjektiv“. Selbst wenn schmutzig einfach wäre, könnte es nicht mit gelb zusammengeschrieben werden, weil man es kaum als „graduierend“ bezeichnen dürfte. Demgegenüber gilt allgemein offenbar nicht nur als einfach, sondern außerdem als „graduierend“, was einigermaßen zweifelhaft ist. allgemeinbildend, das jetzt wieder erlaubt ist, stellt ja keine Steigerung von bildend dar. Übrigens setzt Wahrig allgemein verständlich und allgemeinverständlich als gleichwertige Varianten an. Aber soll man noch allgemein verständlicher wirklich für korrektes Deutsch halten? Die beiden blauen Infokästen lassen es zu.

„Erweitert oder gesteigert“ scheint die Negativfolie zu sein, vor der man verstehen muß, was „einfach“ bedeutet. Bei den Verben lautet die entsprechende Formulierung allerdings „morphologisch komplex“ (§ 34 [2.2.]) – ein Ausdruck, der nur an dieser Stelle vorkommt und sich offenbar auch auf die Wortbildung (Ableitung und Zusammensetzung) bezieht.

Mit dem Verb fakultativ zusammengeschrieben wird nach § 34 (2.1) ein einfaches Adjektiv als Resultatsbezeichnung, nach der inoffiziellen „Handreichung“ aber nur als Objektsprädikativ. Ergibt sich eine idiomatische Gesamtbedeutung, gilt die Beschränkung auf einfache Adjektive nicht mehr: schuldigsprechen, madigmachen. Auch für tieferlegen (ein Auto tieferlegen) nimmt Wahrig offenbar eine idiomatisierte Bedeutung an, die sich aus den Bestandteilen nicht erschließen läßt. Nach E5 gilt: „Lässt sich in einzelnen Fällen keine klare Entscheidung darüber treffen, ob eine idiomatisierte Gesamtbedeutung vorliegt, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben.“ Dabei muß er aber, falls er sich für nichtidiomatisierte Gesamtbedeutung entscheidet, wieder die Einschränkung auf „einfache“ Adjektive beachten.

Kein Wunder, daß die Wahrigredaktion Schwierigkeiten hatte, die neuen Regeln zu interpretieren, und daß es sich als notwendig erwies, den Empfehlungen des Rechtschreibrates inoffizielle Handreichungen beizugeben, die erst während der Arbeit am Wörterbuch entwickelt wurden und zum Teil ganz überraschende Zusatzregeln enthalten.


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