11.02.2006 Theodor Ickler Kommentar zur revidierten GKSViele Fragen bleiben offenDie „Empfehlungen“ mögen gut genug für die KMK sein, für die Bevölkerung sind sie es nicht.Die Neuregelung der Groß- und Kleinschreibung erzeugte Grammatikfehler in reformierten Texten und war schon aus diesem Grunde ebenso dringend korrekturbedürftig wie die Getrennt- und Zusammenschreibung. Leider beschloß der Rat, nur einen Teil dieses Kapitels zu überarbeiten. Die Kultusministerkonferenz hatte sogar den ganzen Bereich für „unstrittig“ erklärt. Änderungsvorschläge seien vom Rat, so die KMK, „nicht zu erwarten“. Der folgende Kommentar bezieht auch die nichtkorrigierten Teile ein. In den Vorbemerkungen (3) wird die „Tradition der deutschen Orthographie“ beschworen, die es darzustellen gelte; in Wirklichkeit führt die Reform neue Schreibweisen ein oder setzt sich über die Entwicklung der letzten hundert Jahre hinweg. Zunächst wird die Großschreibung am Anfang von Sätzen, Überschriften usw. behandelt. Zu kritisieren ist, daß wie bei der Zeichensetzung der schulgrammatische Begriff des „Ganzsatzes“ verwendet, aber nicht definiert wird. (Bemerkenswerterweise hat der Sitta-Schüler Gallmann, auf den diese Reformteile hauptsächlich zurückgehen, in der letzten Bearbeitung der Dudengrammatik den Begriff des „Ganzsatzes“ aufgegeben.) Der Sachverhalt selbst ist weitgehend klar, doch ist unter § 54 (1) die problematische Bestimmung stehen geblieben: „Wird die nach dem Doppelpunkt folgende Ausführung als Ganzsatz verstanden, so schreibt man das erste Wort groß.“ Es scheint also nicht von der Grammatik, sondern von der Absicht des Sprechers abzuhängen, ob ein Gebilde ein Ganzsatz ist oder nicht. Allerdings richtet sich die Absicht des Sprechers, wenn er nicht gerade ein Schulgrammatiker ist, normalerweise nicht darauf, einen Ausdruck als Ganzsatz zu verstehen. Es bleibt also dunkel, was eigentlich gemeint ist. Paragraph 55 enthält ein überflüssiges Stück Metaphysik: „Substantive dienen der Bezeichnung von Gegenständen, Lebewesen und abstrakten Begriffen.“ Es ist ungeschickt, die Rechtschreiblehre mit solchen heute schwer nachvollziehbaren Konstruktionen zu belasten. Ungenau ist die darauf folgende Aussage: „Sie besitzen in der Regel ein festes Genus.“ Substantive „besitzen“ kein bestimmtes Genus, sondern regieren es. Numerus und Kasus haben sie als konkrete Textwörter (Wortformen), also nicht im gleichen Sinne wie das Genus, das sie als abstrakte Wörterbuchwörter (Lexeme) haben. Gallmann legt sonst auf diese Unterscheidung Wert und glaubt sogar die Großschreibung bei heute Abend usw. damit begründen zu können, s. u. Unter § 55 (3) steht weiterhin die unerhört schwierige neue Bestimmung, daß Substantive innerhalb mehrwortiger Entlehnungen groß geschrieben werden müssen, d. h. es wird dem Schreiber die Kenntnis der Wortart in der Herkunftssprache abverlangt: Corpus Delicti, Primus inter Pares, Dativus Commodi, Commedia dell'Arte usw. Bisher wurde nur das erste Wort solcher Verbindungen groß geschrieben und der ganze Rest klein; das war unüberbietbar einfach. Die neue Festlegung hat sich in der Praxis erwartungsgemäß als bedeutende Fehlerquelle erwiesen. Es ist auch paradox, für die substantivischen Bestandteile Großschreibung wie im Deutschen zu verlangen, für die nichtsubstantivischen Erstglieder aber ebenfalls: Ultima Ratio statt, wie es im Deutschen zu erwarten wäre, ultima Ratio; die bisherige, viel einfachere Schreibweise war Ultima ratio. Die reformierten Wörterbücher haben die neue Regel nur nach und nach umgesetzt (Herpes Zoster). Sie stimmen darin überein, daß es weiterhin L'art pour l'art heißen müsse; im neuesten Wahrig steht weiterhin Jus primae noctis, ebenso Just-in-Time-Produktion, aber In-vitro-Fertilisation usw. Die Ableitung aus den komplizierten Regeln ist längst nicht mehr nachvollziehbar. Die Kleinschreibung in entlehnten Wendungen ist entgegen E2 nicht auf „adverbiale Fügungen“ zu beschränken. Man kann selbstverständlich alle Zitatwörter wie in der Quellsprache klein schreiben: hysteron proteron, anima naturaliter christiana usw. Nach § 55 (4) gibt es eine Reihe von Großschreibungen innerhalb von festen Gefügen, die teils mit Zusammenschreibungen nach § 34 und § 39 alternieren, teils aber auch nicht, ohne daß hier die jeweils zutreffende Regelung vorhersehbar wäre: auf Grund/aufgrund, aber nur infolge und viele andere Fälle. Die Probe kann jeder leicht machen, indem er die Frage stellt, wie etwa zu Rate (zurate?) oder zu Leibe (zuleibe?) nun geschrieben wird. Warum ist unter § 55 (4) beiseite gestrichen? Soll etwa in Zukunft auch bei Seite gelten? Das niemals ausgesprochene, aber weiterhin angenommene Wüstersche Prinzip „Entweder klein und zusammen oder groß und getrennt“ führt die Reformer bekanntlich dazu, die üblichen Schreibweisen von seiten, auf seiten völlig zu beseitigen und statt dessen die beiden Schreibweisen von Seiten oder vonseiten zur Wahl anzubieten. Daran soll sich nichts ändern. Das grammatisch falsche Diät leben wird nicht zurückgenommen. Bisher unterschied man zwischen Diät kochen ('Schonkost kochen') und diät kochen ('den Regeln der Diät entsprechend kochen'). Die Neuregelung und danach alle Wörterbücher haben letzteres beseitigt. Im Duden-Fremdwörterbuch 2005 ist erstmals wieder diät zu finden, aber ohne amtlichen Rückhalt und ohne Hinweis auf die Verwendungsmöglichkeiten. Einige Fälle mit inkorporiertem Objekt (z. T. auch Rückbildungen) sind der Zusammenschreibung zugeschlagen, andere nicht. So soll es künftig kopfstehen heißen, aber Maß halten; der bisherig überwiegende Usus war maßhalten. Die Entscheidungen sind aber willkürlich und nie vorhersehbar: es heißt zwar kopfstehen, aber Rad fahren usw. Außerdem ist eine Abstimmung mit der Vorlage zur Getrennt- und Zusammenschreibung erforderlich, denn unter § 34 E6 heißt es ja: „In den nachstehenden Fällen ist bei den nicht näher bestimmten oder ergänzten Formen sowohl Zusammen- als auch Getrenntschreibung möglich, da ihnen eine Zusammensetzung oder eine Wortgruppe zugrunde liegen kann: achtgeben/Acht geben (aber nur: sehr achtgeben, allergrößte Acht geben), achthaben/Acht haben, haltmachen/Halt machen, maßhalten/Maß halten.“ Wie vorauszusehen war, wird sogar die Zusammenschreibung von pleitegehen und bankrottgehen vorgeschlagen. Die grammatisch falsche Großschreibung ist damit zwar endlich zurückgenommen; es ist aber nie begründet worden, warum die bisherige Schreibweise bankrott gehen usw. nicht mehr zulässig sein soll. Offenbar wirkt sich auch hier die willkürliche, dem Sprachgebrauch entgegengesetzte Wüstersche Regel aus (in § 56 E3 ist sie für einen Teilbereich immerhin angedeutet). Die Revision widerspricht der sonstigen Tendenz, für die Verbindung von Adjektiv und Verb Getrenntschreibung zu verordnen: verloren gehen usw. (pleite gehen und bankrott gehen gehören nicht unter § 34 (2.2), sondern unter (2.1)). Bei angst/Angst und bange/Bange sein/werden/machen wäre die Rückkehr zur durchgehenden Kleinschreibung sinnvoll, denn die drei Konstruktionen verhalten sich zueinander wie stative, inchoative und kausative Aktionsart. Die nun vorgesehene Ungleichbehandlung ist unnötig kompliziert. Um das grammatisch falsche Not tun nicht offen zurücknehmen zu müssen, schlägt der Rat jetzt nottun vor; das ebenso falsche Not sein wird jedoch nicht korrigiert, also: Schiff-Fahrt ist Not. Ein für jedermann erkennbarer Rückschritt gegenüber der bewährten Rechtschreibung. Unter § 55 (6) werden die groß geschriebenen Tageszeiten (gestern Abend) beibehalten, eine Rückentwicklung ins 19. Jahrhundert, wie sie besonders energisch von Peter Gallmann betrieben wird. Er argumentiert, daß die Wortart hier nicht deutlich sei und man sich daher nach einem gleichlautenden Lexem im deutschen Wortschatz umsehen müsse. Das seien die Substantive Abend, Morgen, Mittag usw. Die Kritiker im Rat, auch Peter Eisenberg, haben darauf hingewiesen, daß bei unklarer Wortart ohnehin klein geschrieben werden müsse, konnten sich aber nicht durchsetzen. Keines der drei Kriterien für Substantive, die unter § 57 angegeben werden, trifft hier zu. Gallmann selbst hat das 1991 überzeugend nachgewiesen. Die Verbindung heute früh zeigt, daß an dieser syntaktischen Stelle ein Adverb vorgesehen ist, die substantivischen Tageszeitbezeichnungen sind offensichtlich desubstantiviert. Auch der Reformer Klaus Heller stellt in einer millionenfach verbreiteten Ausgabe des „Sprachreports“ fest, daß die Bezeichnung der Tageszeiten hier „nichtsubstantivisch“ gebraucht werde und daher bisher klein geschrieben worden sei. Entscheidend ist die Frage nach der Wortart aber nicht; es genügt, daß sie nicht klar zu beantworten ist, um Kleinschreibung zu erzwingen. In der geschlossenen Aufzählung der Adverbien, die der Tageszeit vorangehen, fehlt neulich: neulich Abend wäre die entsprechende Reformschreibweise. Ich hatte mehrmals daran erinnert, offenbar vergeblich. Die Arbeitsgruppe GKS mußte von vornherein unter der Auflage arbeiten, diesen Teil der Reform nicht mehr anzurühren. § 56 enthielt bisher falsche Behauptungen über sprachgeschichtliche Vorgänge. Er ist jetzt in folgende unverfänglichere Form gebracht: „Klein schreibt man Wörter, die formgleich als Substantive vorkommen, aber selbst keine substantivischen Merkmale aufweisen.“ Die Liste in (1) soll vollständig sein, aber es fehlen Wörter wie wohl, not und vielleicht noch weitere. Außerdem ist nicht klar, wozu der Paragraph dient. Die Formgleichheit mit Substantiven ist für die Kleinschreibung der Adjektive (auch defektiver) ohne Belang. Die Regel reduziert sich in weniger geschraubter Ausdrucksweise auf die Trivialität, daß Nichtsubstantive klein geschrieben werden, auch wenn es gleichlautende Substantive gibt. Die formgleichen Substantive werden offenbar nur deshalb noch erwähnt, weil sie in der ursprünglichen Fassung eine so große Rolle spielten. Bei der Neuschreibung Recht haben, die schon Konrad Duden 1876 als nicht mehr haltbar bezeichnete, hat sich der Rat nur zu einer halben Rücknahme aufraffen können, indem er die kritisierte Großschreibung als Variante zuließ. Auch in Zukunft bleibt also möglich: wie Recht du hattest; die mit ihren Warnungen nur zu Recht behielten (Nürnberger Nachrichten) usw. Es ist erstaunlich, daß nicht einmal ein so offenkundiger Fehler korrigiert werden konnte. Was wird übrigens aus der hat's Not (ÖWB)? Unter § 56 (3) wird eine Reihe von Wörtern aufgezählt, unter denen sich die „Adverbien“ rechtens und willens befinden. Diese Kategorisierung ist sehr problematisch, vgl. der Beschluß ist rechtens. Die Schreibweise der Uhrzeiten mit Bruchzahlen nach § 56 (6.2) ist nicht einfacher geworden: gegen drei viertel acht, aber um Viertel vor fünf. Auch sind zehntel Millimeter und Zehntelmillimeter keine orthographischen Varianten, wie E3 irrigerweise behauptet. § 57 handelt sehr breit von Substantivierungen. Das meiste versteht sich von selbst, weil Substantivierungen eben Substantive sind und deshalb groß geschrieben werden. Das Problem entsteht dadurch, daß die Neuregelung den formalen Gesichtspunkt verabsolutiert und andere Funktionen der Groß- und Kleinschreibung vernachlässigt. In einer Entwicklung von mehreren Jahrhunderten hatte sich jedoch eine Überlagerung der Wortartkennzeichnung durch textsemantische und daher besonders leserfreundliche Funktionen eingestellt. Sie führte nach einigen Rückschlägen im 19. Jahrhundert dazu, daß Substantivierungen klein geschrieben wurden, wenn sie in adverbiale Phraseologismen eingebunden waren oder pronominale Funktionen übernommen hatten. Die Reform macht diese Entwicklung teilweise rückgängig. Daher soll es laut § 57 (1) bei den archaisierenden Großschreibungen im Allgemeinen, des Öfteren, im Voraus, Letzerer, jeder Einzelne usw. bleiben, und zwar obligatorisch, nur bei aufs Schönste fakultativ. Sogar eindeutig pronominales, jedoch kaum konstruierbares unten Stehendes soll verpflichtend vorgeschrieben sein. Dasselbe gilt für die Großschreibung der Ordinalzahlwörter (jeder Zweite), wo die bisherige Unterscheidung zwischen Abzählen und Rangfolge aufgegeben wurde. Die Kardinalzahlwörter bleiben vorerst unverändert. Das sehr geläufige Wort jedesmal soll anscheinend weiterhin verboten bleiben. Endgültig kann erst ein neues Wörterverzeichnis Aufschluß geben. Schon nach den dritten Wiener Gesprächen 1994 und im späteren Fortgang der Reform sind immer wieder hinreichend umfassende Wörterverzeichnisse gefordert worden, und wenn die – durchweg zu knappen – Wortlisten dann erschienen, erwiesen sich viele Einträge als überraschend oder problematisch. Unter § 58 wird weiterhin behauptet, daß bei sie war die klügste meiner Zuhörerinnen und von fern klein geschrieben werde, obwohl die betreffenden Wörter „formale Merkmale der Substantivierung aufweisen“. Welche Merkmale sollen das sein? Die Darstellung bringt es mit sich, daß ganz normale und erwartbare Schreibungen wie von fern oder für dumm (verkaufen) nun als buchenswerte Ausnahmen erscheinen. Mit den seit 2004 geltenden (fakultativen) Großschreibungen von Weitem usw. kehrt die Reform ins 19. Jahrhundert zurück, wo die strikt wortartbezogene Großschreibung entgegen der tatsächlichen Sprachentwicklung u. a. von Daniel Sanders vertreten wurde. Sie folgt damit einem Wunsch des Reformers Peter Gallmann, der ein entsprechendes Konzept von „Nominalität“ entwickelt hat, das keine Rücksicht auf die textuelle Funktion solcher Adverbialien nimmt und damit den orthographischen Modernisierungsschub seit dem vorletzten Jahrhundert annulliert. Kommissions- und Ratsmitglied Richard Schrodt hat sogar wiederholt behauptet: „Präpositionen stehen eigentlich, wenn man diese Wortart universalgrammatisch fasst, immer nur vor Substantiven. Andere Wortarten werden substantiviert und müssten demgemäß auch groß geschrieben werden (zwischen Heute und Morgen, von Früh bis Spät).“ (informationen zur deutschdidaktik 1997/3) Das zeigt, wohin die Reise gehen könnte: von Nah und Fern (Deutsche Bahn 2004); ab Heute, Anna und Benno wollen auf Ewig beisammen bleiben, ich halte Ottos Vorschlag für Riskant (adaptierte Beispiele nach Dudengrammatik 2005, S. 849). Die obligatorische Großschreibung der Sprachbezeichnungen (auf Deutsch) ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Die (unveränderte) Regel § 58 E2 führt zwar durch konsequentere Anwendung in einigen Fällen wieder zu besseren Ergebnissen (es heißt wieder jenseits von Gut und Böse), ist aber ungemein kompliziert: „Substantivierungen, die auch ohne Präposition üblich sind, werden nach § 57(1) auch dann großgeschrieben, wenn sie mit einer Präposition verbunden werden.“ Hier muß zuerst ermittelt werden, ob es sich überhaupt um eine Substantivierung handelt, dann muß der Präpositionstest durchgeführt werden. Trotzdem bleibt weiterhin unklar, warum es heißt schwarz auf weiß, grau in grau (nach 3.1), aber auf Rot, in Grau (nach E2) usw. In Wirklichkeit hat die Groß- und Kleinschreibung nichts mit der Präposition zu tun. Der Test ist daher sachfremd und widerspricht der Intuition der Sprecher. Zu den vermeintlichen Ausnahmen gehört weiterhin die Kleinschreibung von Pronomina, „auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden“. Pronomina werden niemals als Stellvertreter von Substantiven gebraucht, sondern allenfalls von Substantivgruppen (bzw. Determinativphrasen); das kann man dann allerdings von allen Pronomina der dritten Person sagen. Warum sollte mancher oder jeder ein Substantiv bzw. eine Substantivgruppe „vertreten“? Am ehesten gilt das noch für anaphorische Pronomina wie er, aber gerade für diese wird Großschreibung (selbstverständlich) nicht erwogen. Man findet in Druckschriften des 19. Jahrhundert verallgemeinerte Großschreibung der Pronomina wie Niemand, Keiner, Jemand, Jedermann, der Eine, der Andere, Nichts, Etwas, Manche, Einige, Etliche, Viele usw. Tendenziell strebt die Neuregelung die Wiederherstellung dieser überholten Zustände an. Bei grüß mir die Deinen und jedem das Seine war hingegen die Großschreibung allgemein üblich, die Einführung der fakultativen Kleinschreibung scheint überflüssig. Seit der Revision von 2004 können manche „Zahladjektive“ auch groß geschrieben werden, „wenn der Schreibende zum Ausdruck bringen will, dass das Zahladjektiv substantivisch gebraucht ist“ (5). Das ist wieder eine von den problematischen Bezugnahmen auf Intentionen, die kein normaler Sprecher haben kann. Die fakultative Kleinschreibung des Substantivs Dutzend (angesichts dutzender von Augenzeugen) nach E5 ist ebenfalls unnötig. Die Großschreibung von Nominationsstereotypen und Antonomasien kann nicht abschließend geregelt werden. Der Eigennamenbegriff ist so unklar wie seit je, die umfangreichen Listen mit verschiedenen Typen von Eigennamen sind wenig hilfreich. Der Schwarze Kontinent zum Beispiel wurde bisher überwiegend klein geschrieben, soll aber nur noch groß geschrieben zulässig sein. Erst in der Wörterliste, die von den drei privilegierten Verlagen angefertigt wird, letzten Endes aber erst in den Wörterbüchern selbst wird man erfahren, welche Einzelentscheidungen getroffen worden sind. § 60 E2 ist überflüssig, da solche Schreibweisen (konkret als Zeitschriftentitel usw.) nicht zum Regelungsbereich einer allgemeinen Orthographie gehören, sondern wie die Werbetextgestaltung frei bleiben müssen. Die vielkritisierte Neuregelung der von Eigennamen abgeleiteten Adjektive (nur noch goethesche oder Goethe'sche Gedichte) nach § 62 soll unverändert bleiben. Während 1996 und auch noch 2004 der Paragraph 63 sich zu § 64 ungefähr wie die Regel zur Ausnahme verhielt, behandeln nun beide großenteils dasselbe. Außerdem ist § 63 in sich unklar. Zunächst wird Kleinschreibung für „feste Verbindungen“ von Substantiven mit Adjektiven verordnet, unter E jedoch mit einer unklaren Kann-Bestimmung Großschreibung für zulässig erklärt, wenn „eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung“ vorliegt. Was ist der Unterschied zwischen einer festen Verbindung und einer idiomatisierten? Die Beispiele geben keinen Aufschluß, denn die festen Verbindungen bunter Hund, schöne Bescherung oder graue Maus sind ebenso idiomatisiert wie das Schwarze Brett oder der Weiße Tod. Der Paragraph schließt mit dem Satz: „Kleinschreibung des Adjektivs ist in diesen Fällen der Regelfall.“ Als Tatsachenbehauptung ist das sicher falsch, denn das Schwarze Brett zum Beispiel wird meistens groß geschrieben, und dasselbe gilt für unzählige andere Ausdrücke dieser Art. Was soll der Ratsuchende überhaupt mit einer solchen Bemerkung anfangen? § 64 behandelt nun die Großschreibungsfälle, die unter § 63 E bereits exemplarisch eingeführt, aber irgendwie als Ausnahmen stigmatisiert worden waren, noch einmal ausführlicher, nämlich nach Untergruppen aufgegliedert. Man erfährt daher, daß es doch nicht so wenige sind. Mit § 64 (3) wird überraschenderweise ein Abschnitt wiederaufgenommen, der 2004 schon gestrichen war: „fachsprachliche Bezeichnungen bestimmter Klassifizierungseinheiten, so von Arten, Unterarten oder Rassen in der Botanik und Zoologie“. Es ist nicht einzusehen, warum einzelne Fachgebiete eigens erwähnt werden, denn die Großschreibung der Nominationsstereotype beschränkt sich nicht auf Fachsprachen. Die Feststellung unter E, auch anderswo sei diese Großschreibung „belegt“, fällt schon stilistisch aus dem Rahmen eines Erlasses zur Rechtschreibnormierung. Dem Benutzer ist mit den Hinweisen und Beispielen unter E nicht gedient, da er in jedem Einzelfall das Wörterbuch konsultieren muß. Außerdem wird hier ein dritter Ausdruck für mutmaßlich denselben Gegenstand eingeführt: „begriffliche Einheit“ – das ist offenbar dasselbe wie die „feste Verbindung“ und die „idiomatisierte Gesamtbedeutung“ aus § 63. Die Beispiele lassen daran keinen Zweifel: Gelbe Karte, Kleine Anfrage, Erste Hilfe. Wieder schließt der Paragraph mit der änigmatischen Formel: „Im nichtfachsprachlichen Zusammenhang ist die Kleinschreibung der Adjektive in solchen Wortgruppen der Normalfall.“ Sollte gemeint sein, daß Karten, die zufällig gelb sind, oder eine Hilfe, die zufällig als erste geleistet wird, mit klein geschriebenen Adjektiven bezeichnet werden, so wäre das zwar richtig, aber so banal, daß man wohl nach einer anderen Deutung suchen muß. Die laienmedizinische Erstversorgung und die sportliche Verwarnung werden aber auch sonst groß geschrieben, nicht nur in Fachtexten. Dasselbe gilt natürlich für das Schwarze Brett aus § 63. In beiden Fällen wirkt die Schlußformel so, als könnten sich die Reformer nicht von ihrer einst gegen jeden Sprachgebrauch verhängten generellen Kleinschreibung der Nominationsstereotype lösen. Gleichsam trotzig rufen sie dem Leser zu, die Kleinschreibung sei eben doch das eigentlich Gebotene, „Normale“. Die Paragraphen 65 und 66 könnten zusammengezogen werden. Grundlage ist die selbstverständliche Kleinschreibung aller Pronomina. Erwähnung verdienen allein die Ausnahmen: generell Sie usw., in Briefen auch du usw. § 66 verteilt die Gewichte zwischen Hauptregel und Ausnahme falsch. Abschließende Würdigung: Die Empfehlung läßt viele Fragen offen. Die Entscheidung wird in solchen Fällen offenbar den im Rat vertretenen Wörterbuchredaktionen überlassen, die zusammen mit der Geschäftsführerin, aber ohne Mitsprache des Rates, an einer Wörterliste arbeiten, die von der KMK angenommen werden soll. Erst damit wird zum Beispiel geklärt werden, was mit den Neuschreibungen in Sonderheit, hier zu Lande, Vabanque spielen, jedes Mal usw. geschehen soll (sie sind auch von den Empfehlungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung offengelassen worden). Alle Reformer und fast alle Mitglieder des Rates für deutsche Rechtschreibung streben eigentlich die „gemäßigte Kleinschreibung“ an. Sie haben auch im Rat jüngst dieses Projekt als Thema für die nächste Zukunft ins Gespräch zu bringen versucht. Es ist schon deshalb zu bezweifeln, daß die moderne Groß- und Kleinschreibung bei ihnen in den besten Händen ist. Die Großschreibung hat sich von Luther bis Gottsched zunächst zur Substantivgroßschreibung (also zur Auszeichnung einer Wortart) entwickelt und ist im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einer textsemantischen Profilgebung weitergebildet worden: Die sinntragenden Einheiten sind durch große Anfangsbuchstaben visuell auffällig gemacht, das adverbiale und pronominale Beiwerk ist durch Kleinschreibung in den Hintergrund gedrängt worden. Die Neuregelung stemmte sich gegen diese Entwicklung, indem sie Kleinschreibung bei Nominationsstereotypen (erste Hilfe) und Großschreibung bei Adverbialien und Pronomina (im Allgemeinen, des Öfteren, bei Weitem; Folgendes, Letzterer, oder Ähnliches [o. Ä.]) durchzusetzen bzw. wiedereinzuführen versuchte. Vor allem im 19. Jahrhundert und bei einigen Autoren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde das formale Merkmal der Substantivierung tatsächlich stärker bewertet als die syntaktische und textsemantische Funktion: der Einzelne, etwas Anderes, zum Zweiten usw. Die Schulorthographie hat diese Entwicklung unter Mitwirkung v. Raumers und Wilmanns’ rückgängig zu machen versucht. Schon Lamprecht spricht 1857 von „Übertreibung“. Hugo Moser wies schon 1963 darauf hin, „daß die Vorschläge, die auf eine Vermehrung der Majuskel hinausgehen, rückwärts gerichtet sind und einer deutlichen Tendenz der deutschen Rechtschreibung zur Minuskel widersprechen.“ (Einzelheiten in Karin Rädle: Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert. Heidelberg 2003.) Nachteilig wirkt sich die Wüstersche Regel aus, die noch 1974 vom führenden Reformer Gerhard Augst entschieden abgelehnt wurde und deren Wiederbelebung zu den überraschendsten Zügen der Reform gehörte. Die Korrektur der Neuregelung in diesem Bereich bleibt leider auf halbem Wege stehen. Die Behauptung der Geschäftsführerin, die Vorschläge „seien sowohl der alten als auch der neuen Rechtschreibung überlegen“ (Der Standard 2.2.2006), ist offensichtlich unbegründet. Der fortschrittlichen „alten“ Regelung sind sie weit unterlegen.
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