17.01.2006


Theodor Ickler

dpa und Rechtschreibreform

Ungeklärtes und Undurchsichtiges

Das Verhalten der Nachrichtenagenturen gehört zu den ungeklärten Fragen der Rechtschreibreform.
Entscheidend ist die deutsche Presse-Agentur.
Sie gehört den Zeitungsverlegern, aber das Zusammen- und Gegeneinanderwirken bei der Durchsetzung der Rechtschreibreform ist undurchsichtig. Ich habe in "Regelungsgewalt" darüber gehandelt, möchte aber noch einmal meinen Text von 2000 samt einigen Dokumenten hierhersetzen, damit jeder sich selbst ein Bild machen kann. Im Buch sind noch mehr Stellungnahmen von Zeitungen abgedruckt.

Die Deutsche Presse-Agentur und die Rechtschreibreform

(Dezember 2000)

An den Schulen durfte die Rechtschreibreform eingeführt werden, weil allgemeine Akzeptanz der Neuregelung nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts wenn nicht gegeben, so doch für die Zukunft zu erwarten sei. Das Gericht schloß sich damit der – allerdings sehr vorsichtig formulierten – „positiven Akzeptanzprognose“ des Oberverwaltungsgerichts Schleswig an.
In diesem Zusammenhang kam der orthographischen Umstellung der Zeitungen zum 1. August 1999 besondere Bedeutung zu, erzeugte sie doch wenigstens äußerlich den Anschein, die Reformschreibung sei im deutschen Sprachraum akzeptiert. In Wirklichkeit wünschten die Bürger und ganz besonders die Zeitungsleser die Neuschreibung keineswegs; die Ablehnung ist auch heute noch unvermindert stark und erreicht bei Zeitungslesern bis zu 98 Prozent. Von den größeren Zeitungen wagte aber nur die „Presse“ (Wien) eine Leserbefragung. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen, und die Zeitung blieb bei der bewährten Orthographie. Alle anderen Zeitungen beriefen sich auf das Vorpreschen der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen; es sei technisch unmöglich oder zu kostenträchtig, deren Meldungen in „alte“ Rechtschreibung umzusetzen. Die Agenturen aber, unter Federführung der Deutschen Presse-Agentur, behaupten, mit der Reformschreibung lediglich dem Wunsch der Zeitungen nachgekommen zu sein. Dieses Paradoxon konnte erst nach dem Bekanntwerden gewisser Dokumente einigermaßen aufgeklärt werden.

Am 14. August 1996, also zu einem überraschend frühen Zeitpunkt, als noch nicht einmal der reformierte Duden vorlag und fast niemand wußte, was die Neuregelung inhaltlich bringen würde, verschickte die Deutsche Presse-Agentur das folgende Rundschreiben an die Bezieher ihres Basisdienstes:

»Die Vertreter der deutschen Länder und einiger deutschsprachiger Staaten haben am 1. Juli die Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung beschlossen.
Bereits ab Herbst dieses Jahres wird den Erstkläßlern in acht von 16 Bundesländern die neue Rechtschreibung gelehrt, in Bayern und Bremen gilt die Reform auch schon in den Abschlußklassen.
Mit Wirkung vom 1. August 1998 wird die neue Rechtschreibung in Ämtern und Schulen eingeführt und ist dort nach einer Übergangszeit ab 31. Juli 2005 verbindlich.
Dies bedeutet, daß spätestens im Jahre 2005 die meisten Schulabgänger – übrigens auch die neue Generation des journalistischen Nachwuchses – ausschließlich die neue Rechtschreibung beherrschen. Es ist anzunehmen, daß sich bis spätestens zu diesem Zeitpunkt das Bild der tatsächlich geschriebenen Sprache merklich verändert haben wird.
Wir haben bereits vor einiger Zeit versucht, bei Gesprächen mit unseren Kunden deren Vorstellungen von den Folgen, die diese politische Entscheidung für unser Metier haben wird, zu erkunden. Damals hatte eine Meinungsbildung offensichtlich entweder kaum stattgefunden oder beschränkte sich auf die Aufforderung, sich der Rechtschreibreform zu widersetzen.
Zahlreiche Anfragen aus dem Kreis unserer Kunden nach der Unterzeichnung vom 1. Juli lassen uns vermuten, daß sich zwischenzeitlich das allgemeine Problembewußtsein weiterentwickelt hat und Sie entsprechende Vorschläge von uns erwarten.
Unser heutiger Brief ist mit den anderen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen abgestimmt. Die Agenturen gehen davon aus, daß eine Veränderung der Rechtschreibung nur gemeinsam erfolgen kann. Voraussetzung für eine geänderte Rechtschreibung der deutschsprachigen Agenturen ist jedoch, daß diese Veränderung von den Kunden akzeptiert oder gewünscht wird. Dabei gehen wir davon aus, daß eine solche Änderung des Agenturmaterials bei den meisten unserer Kunden nur gleichzeitig mit einer Umstellung auf die neue Rechtschreibung im gesamten redaktionellen Teil von Zeitungen und Zeitschriften erfolgen kann. Voraussetzung dafür ist unter anderem die Umstellung von Redaktions- und Datenbanksystemen.
Das bedeutet, daß jeder Schritt der Agenturen nur im Einklang mit erheblichen Anstrengungen der Kunden vorgenommen werden kann. Abgesehen von der Akzeptanz durch die Leser handelt es sich hier vermutlich vor allem um ein Ausbildungsproblem sowie um möglicherweise nicht unerhebliche technische Veränderungen beispielsweise in den Rechtschreibprogrammen von Redaktionssystemen.
Unserer Ansicht nach ist eine Umstellung auf die neue Rechtschreibung letztlich unvermeidlich – vor allem, weil die nachwachsende Lesergeneration anderenfalls den Printmedien verlorengehen könnte.
Wie halten zwei Wege für denkbar:
1) Anwendung aller wesentlichen neuen Rechtschreibregeln ab einem festzulegenden Zeitpunkt.
Dies würde bedeuten: Schlagartige Veränderung des neuen Agenturmaterials über Nacht: Ausgenommen werden könnten einige neue Schreibweisen, deren Akzeptanz derzeit noch besonders fraglich erscheint.
Vorteil dieses Verfahrens wäre die relativ übersichtliche Umstellung von Redaktionssytemen und Datenbanken.
2) Schrittweise Anwendung der neuen Rechtschreibregeln in beispielsweise drei Erappen:
1. Etappe: Anwendung der Regeln zur Getrenntschreibung sowie zur Groß- und Kleinschreibung
2. Etappe: Anwendung der Regeln über den Gebrauch von „ss“ und „ß“
3. Etappe: Anwendung der Regeln über neue Schreibweisen von Wörtern, sofern diese nicht bereits durch die beiden vorhergegangenen Etappen erfaßt wurden.
Ein möglicher Vorteil wäre, die Einführung der überaus gewöhnungsbedürftigen neuen Rechtschreibung für all jene Leser zu erleichtern, die durch die Stichtagelösung möglicherweise verschreckt würden. Sie böte beispielsweise die Möglichkeit, die zweite Etappe erst dann einzuführen, wenn im öffentlich wahrnehmbaren Schriftbild die Akzeptanz erkennbar ist.
Ein möglicherweise gewichtiger Nachteil kann in den technischen Problemen liegen, die diese Staffelung mit sich brächte.
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen sind nun darauf angewiesen, daß Sie uns Ihre Wünsche mitteilen, Sie finden daher als Anlage einen Fragebogen. Bitte füllen Sie ihn sorgfältig aus, und schicken Sie ihn bis zum 31. August 1996 an die dpa-Chefredaktion zurück.
Anhand des Meinungsbildes werden wir – die deutschsprachigen Agenturen – dann entscheiden müssen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß diese Entscheidung dem Wunsch einer substantiellen Minderheit zuwiderläuft. Gerade deswegen sind wir in höchstem Maße daran interessiert, daß angesichts der Bedeutung des Themas möglichst alle unsere Kunden ihre Meinung äußern.«


In diesem Schreiben werden zwar die Wünsche der Leser beiläufig erwähnt, sie spielen aber im weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Nicht die Wünsche gegenwärtiger Leser, sondern die vermuteten Bedürfnisse kommender Generationen werden zum entscheidenden Argument. Die Warnung vor dem Verlust der künftigen Leserschaft kommt einem Menetekel gleich, das sicherlich den gewünschten Eindruck nicht verfehlte: Die Zeitungen werden, bei Strafe des Untergangs, zur Neuschreibung gedrängt.
Am 11. September 2000 konnte Chefredakteur Wilm Herlyn das Ergebnis mitteilen:

„Nach einer Auswertung dieses Fragebogen mit Stand 11. September votieren
77 Medienkunden dafür, die Rechtschreibreform mit Stichtag 1. August 1998 vollständig zu vollziehen.
17 Medienkunden haben sich entschieden, daß die Rechtschreibreform in drei Etappen vollzogen wird – und zwar mit einer noch genauer zu definierenden ersten Etappe vom 1. August 1998 an.
Insgesamt neun Medienkunden votieren für verschiedene Daten, vom 1. Juli 1997 (ein Kunde) bis 'so spät wie möglich' (ein Medienkunde).
Für die Aussetzung des Vollzugs der Rechtschreibreform bis auf weiteres plädieren insgesamt vier Medienkunden.“
Die Agenturen beauftragten Albrecht Nürnberger, den Vorsitzenden des Transkriptionsausschusses, mit der Ausarbeitung einer gemeinsamen Hausorthographie. Sie liegt, nach Korrektur der schlimmsten Fehler („Mode bewusst“), der Schreibweise der meisten reformierten Zeitungen zugrunde.
In einem oft vorgetragenen Rückblick gibt Nürnberger an, „mehr als 95 Prozent“ der Medien hätten sich seinerzeit für die Umstellung entschieden. Die oben wiedergegebenen Dokumente zeigen, wie diese Angabe zustande gekommen ist. In Wirklichkeit hat der dpa-Basisdienst mehr als 350 Bezieher, so daß nicht einmal ein Drittel überhaupt geantwortet und nur ein gutes Fünftel sich für die Umsetzung zum Stichtag ausgesprochen hat. Auf der Internetseite der dpa sprach Wilm Herlyn einige Monate lang von „mehr als 70 Prozent“ Zustimmung. Am 11. Dezember 2000 wurde der Text durch einen anderen ersetzt, in dem wieder von „mehr als 95 Prozent“ Zustimmung die Rede ist. Nachdem ich auf den Widerspruch hingewiesen hatte, bezeichnete Herlyn die Angabe „95 Prozent“ in einem Brief vom 14.12.2000 als „Tippfehler“ und ließ sie am selben Tage wieder in „70 Prozent“ ändern. Übrigens ist der Fragebogen bis heute nicht wieder aufgetaucht; die Deutsche Presse-Agentur zeigt sich bei der Aufhellung der Vorgänge, die ihr offensichtlich peinlich sind, wenig kooperativ. (Nachtrag: Nachdem ich dies im Internet veröffentlicht hatte, sandte mir ein hilfreicher Chefredakteur den Fragebogen doch noch zu; unten ist er wiedergegeben.)
Wegen der vielen anhängigen Volksbegehren und Gerichtsverfahren verschoben die Agenturen den Stichtag um ein Jahr. Daß seit der „Frankfurter Erklärung“ zur Buchmesse 1996 millionenfach die Nichtakzeptanz der Reform bekundet worden war, focht die Agenturen hingegen nicht an; man sah keine Notwendigkeit, die Befragung unter den völlig veränderten Umständen zu wiederholen. Aus dem erwähnten Internet-Text ist nicht ersichtlich, daß die einzige Kundenbefragung schon so früh stattgefunden hat.
Eine Ankündigung, den Volksentscheid in Schleswig-Holstein abwarten zu wollen, blieb folgenlos:
„Nachrichtenagenturen warten bei Rechtschreibreform ab
Hamburg (AP) 14.7.1998 Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen wollen über die Umsetzung der Rechtschreibreform erst nach der Volksabstimmung im deutschen Bundesland Schleswig-Holstein vom kommenden 27. September endgültig entscheiden. Die Agenturen beschlossen am Dienstag in Hamburg nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, wegen des erheblichen Aufwandes für die Medien abzuwarten, bis klar ist, ob es eine einheitliche Regelung in Deutschland geben wird. Mit der Umsetzung durch die Nachrichtenagenturen ist nicht vor Sommer 1999 zu rechnen. Rechtzeitig vorher werde eine gemeinsame Interpretation des Regelwerks durch die Agenturen vorgelegt, um den Medien hinreichend Zeit für die Umstellung beispielsweise von Redaktionssystemen und Datenbanken zu geben. In Deutschland hatte die Mehrheit der Printmedien bei Befragungen für die Umsetzung der Reform plädiert, jedoch ausreichend Vorbereitungszeit gefordert.“
Nach dem höchst problematischen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Kultusministern termingerecht freie Hand gab, fand zwischen Nachrichtenagenturen, Zeitungsverlegern und Chefredakteuren ein Entscheidungsprozeß statt, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Es ist fast unmöglich, auch nur einen einzigen Chefredakteur zu finden, der sich dazu bekennen würde, die Umstellung gewünscht zu haben. Sie wurde von den Zeitungen vielmehr als unabwendbares Schicksal oder als Komplott der Agenturen erlebt und erlitten. Eine Zeitung teilte mit:
„Der ausschließliche Grund, warum auch wir zum 1. August auf die neuen Regeln, allerdings in der von den Agenturen modifizierten Version, umstellen müssen, liegt in eben diesen Nachrichtenagenturen, die sich auf diesen Termin geeinigt haben. Daß zu den allgemein verbindlichen Inkonsequenzen dadurch noch agenturspezifische gekommen sind, steht auf einem anderen Blatt. Es ist uns jedoch weder personell noch technisch möglich, hier einen Sonderweg zu gehen. Das letzte Wort ist hier sicher noch nicht gesprochen, da sich auch innerhalb der deutschen Zeitungsredaktionen erheblicher Widerstand gegen das selbstherrliche Vorgehen vor allem von dpa rührt.“
Eine Redakteurin von GEO versicherte telefonisch, man habe sich mit Händen und Füßen gegen die Umstellung gesträubt, sich jedoch schließlich der Anordnung des Verlags (Gruner & Jahr, also Bertelsmann) fügen müssen.
Der Vorstand der Axel Springer Verlag AG ließ mitteilen:
„Es war nicht so, daß die deutschsprachigen Zeitungen die Agenturen gezwungen haben, sich der Reform anzunehmen. Der Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger und die Agenturen haben gemeinsam den Beschluß gefaßt, 1999 die Rechtschreibreform einzuführen.“
Die Redaktion der „Hörzu“ schrieb:
„Die künstlerische Freiheit ist uns – den einzelnen Redaktionen – nicht erlaubt, da ein Beschluß der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger, sich der Reform anzuschließen, besteht.“
Damit konfrontiert, stellte der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. jedoch fest:
„Der BDZV hat niemals einen Beschluß zur Rechtschreibreform gefaßt.“
Dennoch muß es eine konzertierte Aktion der Zeitungsverleger gegeben haben, denn die synchronisierte Umstellung zum 1. August 1999 kann kein Zufall gewesen sein.
Entscheidend bleibt die Rolle der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen unter Führung der Deutschen Presse-Agentur. In ihrem Umsetzungsbeschluß schreiben sie zwar:
„Ausschlaggebend für den Umsetzungsbeschluß war die Überlegung, daß die neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden und daß die (Zeitungs-)Leser künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den neuen Regeln konfrontiert werden. Ein weiterer Punkt war, daß es nicht Aufgabe der Agenturen sein kann, die Reform zu steuern oder zu verhindern.“
Die hier zur Schau gestellte Neutralität ist jedoch nur eine scheinbare. Denn die Agenturen haben der Neuschreibung durch ihren Beschluß erst zu flächendeckender Präsenz verholfen und damit den trügerischen Schein geschaffen, daß die Reform allgemein akzeptiert sei. Neutralität war hier nie möglich. Die Umstellung der Zeitungen bedeutete – wie jederzeit klar gewesen sein dürfte – den (wenigstens vorläufigen) Sieg der Reform, Nichtumstellung ihr baldiges Ende. Indem die Agentur die Reform zwei Jahre vor ihrem Inkrafttreten als unausweichlich ansah, setzte sie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in die Welt. Schwer vorstellbar, daß sie sich dessen nicht bewußt gewesen sein sollte.
Die Verantwortung wird von den beteiligten Instanzen bis zur Unkenntlichkeit hin- und hergeschoben. Erleichtert wurde dieses Manöver durch frühzeitige Ausschaltung der einzigen Instanz, von der ein klares Votum zu erwarten – und, aus der Sicht interessierter Kreise, zu befürchten war: des Lesers und Bürgers. Wenn die Deutschen heute in aller Welt als das einzige Volk dastehen, das seine eigene Sprache nicht beherrscht, so ist „das selbstherrliche Vorgehen vor allem von dpa“ dafür mitverantwortlich.


Anhang: Dokumente

dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH Chefredakteur

An die
Chefredakteure
der Bezieher des Basisdienstes

Hamburg, 14. August 1996

Rechtschreibreform

Sehr verehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege,

die Vertreter der deutschen Länder und einiger deutschsprachiger Staaten haben am 1. Juli die Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung beschlossen.

Bereits ab Herbst dieses Jahres wird den Erstkläßlern in acht von 16 Bundesländern die neue Rechtschreibung gelehrt, in Bayern und Bremen gilt die Reform auch schon in den Abschlußklassen.

Mit Wirkung vom 1. August 1998 wird die neue Rechtschreibung in Ämtern und Schulen eingeführt und ist dort nach einer Übergangszeit ab 31. Juli 2005 verbindlich.

Dies bedeutet, daß spätestens im Jahre 2005 die meisten Schulabgänger – übrigens auch die neue Generation des journalistischen Nachwuchses – ausschließlich die neue Rechtschreibung beherrschen. Es ist anzunehmen, daß sich bis spätestens zu diesem Zeitpunkt das Bild der tatsächlich geschriebenen Sprache merklich verändert haben wird.

Wir haben bereits vor einiger Zeit versucht, bei Gesprächen mit unseren Kunden deren Vorstellungen von den Folgen, die diese politische Entscheidung für unser Metier haben wird, zu erkunden. Damals hatte eine Meinungsbildung offensichtlich entweder kaum stattgefunden oder beschränkte sich auf die Aufforderung, sich der Rechtschreibreform zu widersetzen.

Zahlreiche Anfragen aus dem Kreis unserer Kunden nach der Unterzeichnung vom 1. Juli lassen uns vermuten, daß sich zwischenzeitlich das allgemeine Problembewußtsein weiterentwickelt hat und Sie entsprechende Vorschläge von uns erwarten.

Unser heutiger Brief ist mit den anderen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen abgestimmt. Die Agenturen gehen davon aus, daß eine Veränderung der Rechtschreibung nur gemeinsam erfolgen kann. Voraussetzung für eine geänderte Rechtschreibung der deutschsprachigen Agenturen ist jedoch, daß diese Veränderung von den Kunden akzeptiert oder gewünscht wird. Dabei gehen wir davon aus, daß eine solche Änderung des Agenturmaterials bei den meisten unserer Kunden nur gleichzeitig mit einer Umstellung auf die neue Rechtschreibung im gesamten redaktionellen Teil von Zeitungen und Zeitschriften erfolgen kann. Voraussetzung dafür ist unter anderem die Umstellung von Redaktions- und Datenbanksystemen.

Das bedeutet, daß jeder Schritt der Agenturen nur im Einklang mit erheblichen Anstrengungen der Kunden vorgenommen werden kann. Abgesehen von der Akzeptanz durch die Leser handelt es sich hier vermutlich vor allem um ein Ausbildungsproblem sowie um möglicherweise nicht unerhebliche technische Veränderungen beispielsweise in den Rechtschreibprogrammen von Redaktionssystemen.

Unserer Ansicht nach ist eine Umstellung auf die neue Rechtschreibung letztlich unvermeidlich – vor allem, weil die nachwachsende Lesergeneration anderenfalls den Printmedien verlorengehen könnte.

Wie halten zwei Wege für denkbar:

2) Anwendung aller wesentlichen neuen Rechtschreibregeln ab einem festzulegenden Zeitpunkt.
Dies würde bedeuten: Schlagartige Veränderung des neuen Agenturmaterials über Nacht: Ausgenommen werden könnten einige neue Schreibweisen, deren Akzeptanz derzeit noch besonders fraglich erscheint.
Vorteil dieses Verfahrens wäre die relativ übersichtliche Umstellung von Redaktionssytemen und Datenbanken.

3) Schrittweise Anwendung der neuen Rechtschreibregeln in beispielsweise drei Eappen:
4. Etappe: Anwendung der Regeln zur Getrenntschreibung sowie zur Groß- und Kleinschreibung
5. Etappe: Anwendung der Regeln über den Gebrauch von „ss“ und „ß“
6. Etappe: Anwendung der Regeln über neue Schreibweisen von Wörtern, sofern diese nicht bereits durch die beiden vorhergegangenen Etappen erfaßt wurden.

Ein möglicher Vorteil wäre, die Einführung der überaus gewöhnungsbedürftigen neuen Rechtschreibung für all jene Leser zu erleichtern, die durch die Stichtagelösung möglicherweise verschreckt würden. Sie böte beispielsweise die Möglichkeit, die zweite Etappe erst dann einzuführen, wenn im öffentlich wahrnehmbaren Schriftbild die Akzeptanz erkennbar ist.

Ein möglicherweise gewichtiger Nachteil kann in den technischen Problemen liegen, die diese Staffelung mit sich brächte.

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen sind nun darauf angewiesen, daß Sie uns Ihre Wünsche mitteilen, Sie finden daher als Anlage einen Fragebogen. Bitte füllen Sie ihn sorgfältig aus, und schicken Sie ihn bis zum 31. August 1996 an die dpa-Chefredaktion zurück.

Anhand des Meinungsbildes werden wir – die deutschsprachigen Agenturen – dann entscheiden müssen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß diese Entscheidung dem Wunsch einer substantiellen Minderheit zuwiderläuft. Gerade deswegen sind wir in höchstem Maße daran interessiert, daß angesichts der Bedeutung des Themas möglichst alle unsere Kunden ihre Meinung äußern.

Selbstverständlich werden wir Sie umgehend über das Ergebnis dieser Kundenbefragung informieren. Ich bedanke mich schon jetzt für die Mühe, der Sie sich unterziehen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Dr. Wilm Herlyn


Absender:
Antwort zur Umfrage Rechtschreibreform
1) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform von den deutschsprachigen Nachrichtenagenturen vollständig mit
Stichtag 1. August 1998
vollzogen wird.
2) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform von den deutschsprachigen Nachrichtenagenturen in drei Etappen vollzogen wird – und zwar mit einer noch genauer zu definierenden
ersten Etappe am 1. August 1998,
gefolgt von zwei weiteren Etappen, über deren Dauer und Zeitpunkt gemäß der tatsächlichen Akzeptanz der Rechtschreibreform später verbindlich entschieden wird.
3) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform am ... vollzogen wird.
4) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform ungeachtet der Veränderungen im amtlichen Gebrauch der deutschen Sprache von den Nachrichtenagenturen bis auf weiteres überhaupt nicht vollzogen wird.

(Unterschrift)
............., den .......... 1996



dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH Chefredakteur

An die
Chefredakteure
der Bezieher des Basisdienstes

Hamburg, 11. September 1996

Rechtschreibreform

Sehr verehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege,

mit Rundschreiben vom 14. August 1996 hatte ich Sie gebeten, bis zum 31. August einen Fragebogen zur Rechtschreibreform auszufüllen.

Nach einer Auswertung dieses Fragebogen mit Stand 11. September votieren

77 Medienkunden dafür, die Rechtschreibreform mit Stichtag 1. August 1998 vollständig zu vollziehen.
17 Medienkunden haben sich entschieden, daß die Rechtschreibreform in drei Etappen vollzogen wird – und zwar mit einer noch genauer zu definierenden ersten Etappe vom 1. August 1998 an.
Insgesamt neun Medienkunden votieren für verschiedene Daten, vom 1. Juli 1997 (ein Kunde) bis „so spät wie möglich“ (ein Medienkunde).
Für die Aussetzung des Vollzugs der Rechtschreibreform bis auf weiteres plädieren insgesamt vier Medienkunden.

Über den Fortgang der Diskussion werden wir Sie weiter informieren.

Mit freundlichem Gruß
Dr. Wilm Herlyn



Internetseite der Deutschen Presse-Agentur (Sommer und Herbst 2000):

„Die Deutsche Presse-Agentur hatte zusammen mit den anderen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen die neue Schreibung zum 1. August 1999 eingeführt. Sie tat dieses - wie die anderen - auf Wunsch ihrer Medienkunden. Grundlage dafür legte zum einen das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe vom 14. Juli 1998. Zum anderen startete die dpa eine breit angelegte Umfrage unter ihren Kunden. In dieser Umfrage wurden die Medien befragt, ob und zu welchem Zeitpunkt sie die Umstellung auf eine neue Rechtschreibung wünschten.
Eine überwiegende Mehrheit - weit mehr als 70 Prozent - entschloss sich zum grundsätzlichen Ja für die neue Schreibung und für die Einführung zum 1. August 1999. Sie forderten gleichzeitig die Agenturen auf, sich auf eine einheitliche Form zu einigen. Denn die neuen Regeln ließen Spielräume zu, die jedermann interpretieren konnte.
Seit langer Zeit schon besteht ein Transkriptionsausschuss der Agenturen mit dem Auftrag, auch im Tagesgeschäft einheitliche Definitionen zu finden. Der Sinn einer solchen Vorgehensweise ist eindeutig: Die Medien in Deutschland, Österreich und in der Schweiz möchten nicht, dass die eine Agentur einen Begriff, eine Bezeichnung, ein Wort anders schreibt als die andere. Alles andere würde die Redaktionscomputer verwirren, die Redakteure und die Leser. In diesem Transkriptionsausschuss hat jede Agentur einen Sitz und eine Stimme – unabhängig von ihrer Größe oder Verbreitung.
Dieser Ausschuss befasste sich auch mit dem neuen Regelwerk und definierte die Grauzonen. Die
Festlegungen wurden wiederum mit den Kunden auf ihre Durchsetzbarkeit überprüft, abgestimmt und erst dann eingeführt. Das Verfahren scheint umständlich, ist aber dennoch effektiv und sinnvoll. Denn die Nachrichtenagenturen sind für ihre Medien da. Sie können, dürfen und wollen nicht als Sprachlenker in der Schreibung ihre Kunden bevormunden.
In der neuen Debatte um die Rechtschreibung haben sich die Agenturen darauf verständigt, die
Diskussionen aufmerksam zu beobachten. Bei einer noch anzuberaumenden Sitzung des Transkriptionsausschusses im Herbst sollen Erfahrungen ausgetauscht werden. Sollte der Streit eskalieren, wird die dpa im Transkriptionsausschuss wiederum eine detaillierte Kundenumfrage anregen.
Wilm Herlyn
dpa-Chefredakteur“

(Anmerkung: Wie Dr. Herlyn am 12.12.2000 brieflich mitteilt, ist der Transkriptionsausschuß nicht zusammengetreten, weil er „zur Zeit keinen Anlass“ dazu sieht.)



Internetseite der Deutschen Presse-Agentur (Text vom 11.12.2000, ersetzt den vorigen)

„Achtung Chefredaktionen und Chefs vom Dienst

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen geben Ihnen nachfolgend eine Stellungnahme, wie sie zur Umsetzung der Rechtschreibreform stehen:
Die Agenturen haben die neue Schreibung zum 1. August 1999 eingeführt. Grundlage dafür war unter anderem auch eine breit angelegte Umfrage der dpa vom Sommer 1996, bei der sich mehr als 95 Prozent der Kunden für eine Umsetzung der Reform ausgesprochen hatten.
Am 1. August 2000 beschloss die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), zu den herkömmlichen Regeln der Rechtschreibung zurückzukehren. In der Folge dieses Beschlusses entwickelte sich in der Öffentlichkeit kurzzeitig eine Diskussion um die Rechtschreibreform. Die Nachrichtenagenturen verständigten sich darauf, im Sinne ihrer Kunden bei ihrem Beschluss zu bleiben und die Diskussion aufmerksam zu beobachten. Seitens der Medien gab es bisher gegenüber den Agenturen kaum Forderungen, zu den alten Schreibweisen zurückzukehren. Die wenigen den Agenturen bewussten Schwächen des Agenturbeschlusses und die Grauzonen des Reformwerks werden weiterhin, wie im vergangenen Jahr angekündigt, beobachtet und mit der für die Reform verantwortlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung geklärt. Dieser Prozess wird sich nach heutigem Stand bis zum Ende 2001 hinziehen. Änderungen des Agenturbeschlusses auf der Basis neuer Entscheidungen und Empfehlungen der Kommission werden rechtzeitig den Kunden mitgeteilt. Sämtliche Aktivitäten in Fragen der Rechtschreibreform werden von einer Arbeitsgruppe begleitet, in der die Agenturen gleichberechtigt vertreten sind. Dieser Gruppe gehören die Agenturen AFP, AP, dpa, ddp, epd, KNA, Reuters, sid, vwd, APA (Österreich) und sda (Schweiz) an.“
(Anmerkung: Am 14.12.2000 wurde die Angabe „95 Prozent“ wieder in „70 Prozent“ geändert.)



Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen

Beschluß zur Umsetzung der Rechtschreibreform
(Mit ergänzendem Hinweis zur Einführung ab 31. Juli 1999)
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben am 16. Dezember 1998 in Frankfurt einvernehmlich nach intensiver Beratung beschlossen, die Reform der deutschen Rechtschreibung weitestgehend und in einem Schritt umzusetzen. Wichtigstes Ziel war, die Rechtschreibung im Sinne der (gemeinsamen) Kunden nicht nur einheitlich, sondern auch eindeutig festzulegen. Die Notwendigkeit der Eindeutigkeit ergibt sich vor allem daraus, daß die eingesetzten elektronischen Systeme bei der Nutzung von Schreibvarianten in ihren Suchfunktionen behindert würden. Zudem müssen Schreibweisen "mit einem Blick" optisch identifiziert und zugeordnet werden können.
Ausschlaggebend für den Umsetzungsbeschluß war die Überlegung, daß die neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden und daß die (Zeitungs-) Leser künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den neuen Regeln konfrontiert werden. Ein weiterer Punkt war, daß es nicht Aufgabe der Agenturen sein kann, die Reform zu steuern oder zu verhindern. Bei ihren Beratungen haben sich die Agenturen an der Systematik des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie, der die Reform erarbeitet hat, orientiert.
An der Erarbeitung des Beschlusses waren die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (AFP, AP, dpa, ddpADN, epd, KNA, Reuters, sid, vwd, APA (Österreich) und SDA (Schweiz)) gleichberechtigt beteiligt.
Die Agenturen sind sich bewußt, daß sie mit ihrem Beschluß lediglich einen ersten Schritt für eine einheitliche und eindeutige Schreibung in ihren Häusern tun können. Die genannten Festlegungen für Schreibweisen können nur exemplarischen Charakter haben. Die Vorlage einer vollständigen Liste sämtlicher neuer Schreibweisen liegt außerhalb der Möglichkeiten der Agenturen.
Die Agenturen werden künftig die Rechtschreibung aufmerksam beobachten und gegebenenfalls auf neue Entwicklungen reagieren.
Die Umstellung auf die neue Rechtschreibung wird seitens der Agenturen am 1. August 1999 erfolgen. Bis dahin werden sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Häusern auf die neuen Schreibweisen einstellen müssen. Aber auch die eingesetzten elektronischen Systeme müssen "lernen", ihre Rechtschreibprüfprogramme und die elektronischen Wörterbücher von Datenbanksystemen müssen angepaßt werden.

Hinweis
Auf einem Seminar der Ifra in Darmstadt hat die Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen am 10.6.1999 ihren Beschluß zur Umsetzung der Reform bestätigt. Die Beispielliste der neuen Schreibweisen, die zuletzt Mitte Februar 1999 verbreitet wurde, ist überprüft und ergänzt worden. Sie entspricht damit der endgültigen Fassung zur Einführung der Rechtschreibreform am 1. August 1999. Vereinbarungsgemäß wurde sie um eine Liste der feststehenden Begriffe und eine Ausnahmeliste zur Getrennt- und Zusammenschreibung erweitert.

Die Nachrichtenagenturen werden die neue Schreibweise vom 31. Juli 1999 an in ihren Diensten anwenden.

Die Agenturen haben den Beschluß bestätigt, Wörter mit den Silben "phon”, "phot” und "graph” dann in der alten Form zu schreiben, wenn sie im Wissenschaftsbetrieb gebräuchlich sind. Wünsche, hier eine klare Regelung für die generelle Schreibweise "fon”, ”fot” und "graf” zu wählen, wurden zurückgestellt, weil viele Verlagshäuser bereits die Ausnahme-Regelungen angekündigt und veröffentlicht und weil Schulungen begonnen haben.

Die Agenturen beabsichtigen, mit dem 1. August eine Beobachtungphase zu beginnen, deren Dauer noch nicht festgelegt ist. In dieser Phase soll die Anwendung der neuen Rechtschreibregelungen beobachtet werden, bevor über eine neue Überarbeitung der Wortlisten entschieden wird. Über eine neue Überarbeitung soll ein noch zu bildendes Gremium befinden, dem neben den Agenturen Vertreter der Medien und der Wissenschaft angehören sollen.

(Es folgte die Darstellung der Neuschreibungen; Abweichungen von der amtlichen Regelung waren gekennzeichnet. Die krassen Fehler in den beigefügten Wortlisten sind später nur teilweise korrigiert worden.)


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