25.07.2005


Theodor Ickler

Unser Vorgarten

Sommerstück

Unser Vorgarten ist wie die Rechtschreibung.
Er ist allerdings sehr klein, höchstens 40 Quadratmeter, der kleinste der ganzen Reihenhaussiedlung. Er ist anders als die anderen Vorgärten. Das Normale ist hier kurzgeschorener brauner Rasen. Wir haben keinen Rasenmäher, machen daher auch keinen Lärm; wir reinigen Gehsteig, Jägerzaun und Gartenweg auch nicht mit einem Hochdruckreiniger vom OBI. Das dauert bei Nachbarn immer so um die sieben Stunden und ist dank Sound design sehr geräuschvoll. Schade, daß man wegen der vereinigten Maschinengeräusche die Terrasse immer nur an bestimmten Tagen benutzen kann, denn ansonsten ist die Wohngegend sehr ruhig, am Ortsrand in der Nähe des Friedhofs und dicht am Wald gelegen.
Der Boden ist eigentlich schlecht, Sand auf Bauschutt. Durch Kompostwirtschaft kann man aber doch einiges erreichen. Der ganze Garten liegt übrigens auf der Nordseite, also halb im Schatten, was die Möglichkeiten weiter einschränkt. Vor dem Haus wächst ein prächtiger Haselstrauch, seit wir die Zeder gefällt haben, die unser Vorgänger dort gepflanzt hatte, ohne zu bedenken, daß ein solcher Riese aus dem Libanon in 1 m Entfernung vom Haus wohl nicht das Richtige ist. Der Haselstrauch ist von selbst gekommen, ebenso die Himbeeren auf der anderen Seite des Gartenwegs, die für unsere Kinder und ihre Gäste schmackhafte große Beeren tragen; man muß sie natürlich in Schach halten, sonst bedecken sie bald alles. Dazwischen gibt es auch einen Komposter und daneben jedes Jahr einen Kürbis, ein Vergißmeinnicht und ein paar Brennesseln (mit zwei n), daraus kann man einen Aufguß bereiten. Drei junge Apfelbäume versprechen irgendwann zu tragen, der hübsche Säulenapfel ist ein Geschenk der Kollegen zum Sechzigsten gewesen. Den Giersch kann man auch essen, aber hauptsächlich bedeckt er den ganzen Boden und hält die Feuchtigkeit fest. Am Haus vor dem Küchenfenster gibt es auch noch einen riesigen Strauch mit kleinen roten Beeren und eine unverwüstliche Kletterhortensie.
Sehr auffällig das gewaltige Liebstöckel, das wie alle anderen Gewürzpflanzen auch blühen darf, obwohl die richtigen Nutzgärtner das natürlich nicht zulassen. Der Beinwell muß streng gebändigt werden, er wuchert sonst ungeheuerlich. Eigentlich haben wir dafür keine Verwendung mehr, aber er ist ein Geschenk von einem lieben Freund, als ich mir damals den Arm gebrochen hatte. Borretsch gefällt mir ganz besonders, es ist ein wunderbares Blau – ich verstehe die Leute, die sich an Kornblumen gar nicht sattsehen können –, und außerdem liebe ich den Geschmack im Salat. Diesen Salat ernten wir auch selbst, heuer einen Pflücksalat, manchmal auch Endivien. Kresse wird an freigewordene Stellen gesät, auch Rauke, die aber nicht jeder gern ißt. Irgendwann hat sich direkt neben der Mülltonnenbox auf einem Nichts an Erde ein winterhartes Bohnenkraut angesiedelt und wächst wie verrückt, blüht auch hübsch und duftet. Der Schnittlauch wächst sehr gut, die Petersilie leider nicht, die müssen wir immer kaufen. Ein paar alte gekeimte Zwiebeln stecken wir in die Erde und lassen sie wachsen und blühen, was auch schön aussieht. Der Koriander schmeckt frisch ganz anders als die Samen, ich schätze ihn seit meinen Aufenthalten in Indien und China.
Am Zaun wächst Kapuzinerkresse, ferner gibt es zwei verschiedene Arten Salbei und einen mächtigen Estragon, der den Fliederbusch umwuchert; diesen Flieder will ich aber schon lange ausrotten, ich mag ihn nicht, er steht auch bloß noch vom Vorbesitzer da. Demnächst kommt er weg, die Blüten sind sowieso nicht der Rede wert. An zwei Stellen hat sich dieses Jahr die Kanadische Goldrute angesiedelt und wird jetzt bald blühen. Weil sie an Bahndämmen, Baustellen und auf Schutthaufen wächst, gilt sie als Unkraut, aber das ist wie mit dem Klatschmohn Ansichtssache. Die Tulpen, Primeln, Traubenhyazinthen und Narzissen sind natürlich längst verblüht. Aus dem Zaun hängen weiße Glockenblumen nach draußen, wo die wohl herkommen? Berberitzen stehen auch dort. Wermut wächst in der sonnigen Ecke, Melisse im Halbschatten; Basilikum ebenfalls, dieses aber in Töpfen, wegen der Schnecken. Pfefferminze gibt es in mehreren Sorten, daraus bereite ich jeden Abend zusammen mit Melisse und Salbei den ganzen Sommer über einen erfrischenden Tee. Das Ganze fällt wenig auf, weil über allem die Klatschmohnblüten schweben, eine wahre Pracht, und Ringelblumen natürlich. Das alles vermehrt sich von selbst, aber die Tagetes am Wegrand habe ich gesät, das war ein kostenloses Probetütchen; die Sache bleibt auch ziemlich mickrig, müßte wohl stärker gedüngt werden. Am Zaun zur Straße hin wächst ein mühsam aufgepäppelter Stachelbeerstrauch, den ich beim Einzug vor 18 Jahren ganz verkrebst und halbtot hinter dem Haus gefunden hatte (den rückwärtigen kleinen Garten beschreibe ich aber nicht näher, da stehen hauptsächlich Kletterbäume für die Kinder). Ich kann solche kranken Pflanzen nicht vernichten, sondern sorge dafür, daß sie auch noch etwas vom Leben haben. Die Stachelbeeren sind köstlich. Die Brombeeren sollten eigentlich stachellos sein, aber irgendwann sind sie zur Wildform zurückgekehrt und mit wahrhaft teuflischen Dornen bewehrt. Ein blauer Hibiskusstrauch und ein von mir nicht sehr geschätzter, zum Glück absterbender gefüllter Jasmin überragen die Ranken; sie werden ihrerseits durch einen vom Nachbarn herüberwuchernden Bodendecker gewürgt. Weiter zum Nachbarn hin gibt es auch drei Preiselbeeren, aber die wollen nicht recht wachsen, der Boden behagt ihnen wohl nicht, obwohl eine Azalee daneben recht gut gedeiht. Aber ganz beherrschend entwickelt sich die schwarze Johannisbeere, auch von selbst zu uns gekommen und durch Stecklinge vermehrt. An verschiedenen Stellen rankt jedes Jahr eine Feuerbohne an einer Stange empor, mehr wegen der Blüten als wegen der Früchte.
Mancher wundert sich auch über die riesigen Kartoffelpflanzen, diesmal sind es drei, aus übriggebliebenen Kellerkartoffeln vom letzten Herbst; es ist den Kindern eine liebe Gewohnheit, gleich nach der Rückkehr aus dem Sommerurlaub die neuen Kartoffeln auszugraben und eine leckere Pellkartoffelmahlzeit daraus zu bereiten, mit Butter, Schnittlauch und Salz. Etwas Besseres gibt es nicht. Es hat mich schon immer gewundert und befriedigt, wie viele verschiedene Aromen und Geschmäcker aus demselben Boden hervorgehen.
Das sogenannte Unkraut ist auch interessant, Ackergauchheil, Odermennig, Gänsefingerkraut, Hauhechel, Ackerwinde, Wiesenknöterich, Vogelmiere, Hirtentäschel, Augentrost, Storchschnabel, Quecke; ich habe noch gar nicht alles bestimmen können, es ändert sich auch ständig. Aus irgendeinem Grunde haben die Nacktschnecken sich in den letzten Jahren nicht mehr so stark vermehrt, vielleicht weil unter einem Haufen abgeschnittener Himbeerranken und anderer Zweige dicht an der Hauswand regelmäßig ein Igel überwintert. Dort halten sich auch gern Erdkröten auf, die manchmal erstaunlich groß werden.

Kürzlich besuchte der SPIEGEL unseren Vorgarten und fand ihn „verwildert“.

Unser Vorgarten ist wie die Rechtschreibung.


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