03.07.2005


Theodor Ickler

Stillemunkesland

Hessen hat sich die Bezeichnung Bildungsland® Hessen patentieren lassen.
Unter diesem Etikett hat sich die hessische Landesregierung mehr und mehr zum Agitationszentrum der Rechtschreibreform entwickelt. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff, vom Verband der Schulbuchverleger (VdS Bildungsmedien) mit Recht als „Meinungsführerin“ der Rechtschreibreform in Anspruch genommen, verweist in ihren „Zehn Gründen“ auf die Broschüre „Rechtschreibung gut erklärt“, die ihr Ministerium im November 2003 herausgegeben hat. Die Verfasser sind Uta Jeide-Stengel und Ministerialrat Christoph Stillemunkes, der Hauptverantwortliche für die praktische Durchsetzung der Rechtschreibreform in Hessen und führende Verfasser von einschlägigen KMK-Verlautbarungen. Er wird auch von der KMK als Beobachter in die Sitzungen des Rates für deutsche Rechtschreibung entsandt.

Die nach dem vierten Bericht der Kommission beschlossenen Änderungen sind noch nicht berücksichtigt, obwohl sie sich im November 2003 durchaus schon absehen ließen.

Schon das Vorwort von Ministerin Wolff enthält einen Kommafehler:

„Dabei geht es auch darum die Chancen der Rechtschreibreform richtig zu nutzen.“

Kommas sind im allgemeinen weggelassen, wo es nach der Neuregelung möglich ist:

„Da musste der Herr über die listige Antwort seines Knechtes lachen und er beschloss sich in Zukunft besser zu benehmen.“

Es gibt fast niemanden, der die „erleichterte“ Kommasetzung, die hier noch als Renommierstück vorgeführt wird, nicht als verfehlt ansehen würde. Die Verfasser schießen aber wie die Ministerin selbst weit übers Ziel hinaus, indem sie obligatorische Kommas nach einem vorausweisenden Korrelat ebenfalls weglassen:

„Ammen erzogen Säuglinge dazu das vorgesetzte Essen allein zu sich zu nehmen.“ (21)
„Die Erziehung bestand vor allem darin das Gehorchen zu erlernen.“ (21)

und weitere Fälle (25, 42).

In der Einführung wird „sogenannt“ zusammengeschrieben – was nach der jüngsten Revision wieder zulässig ist, 2003 aber noch nicht richtig war. Weitere Fehler: „um so“ (11, 13), „gespen-stisch“ (15). Der Plural von „Fremdwort“ lautet „Fremdwörter“, nicht „Fremdworte“ (47). Die Regeln auf S. 30 sind zum Teil durch die jüngste Revision überholt.

„Richtig“ im Sinne der Neuregelung, aber grammatisch falsch: „Das tat seiner Frau so Leid.“ (16)

Eine irreführende Erklärung findet man auf S. 33:

„Wie zwei Fliesen durch die Fugenmasse miteinander verbunden werden, so verbindet der Konsonant in einer Fuge zwei ursprünglich eigenständige Wörter zu einem neuen Begriff; dieser muss deshalb zusammengeschrieben werden.“

Die Zusammenschreibung hat nichts mit einem „neuen Begriff“ zu tun, und es entsteht auch kein neuer Begriff, ob man nun ein Fugenzeichen setzt oder nicht, vgl. arbeitsuchend/arbeitssuchend.

Zehn von 27 auf die Rechtschreibung bezogenen Seiten (die letzten zehn Seiten der Broschüre behandeln die Wörterbuchbenutzung) gelten der angeblich so leicht gewordenen s-Schreibung. Die Zeichensetzung ist gar nicht behandelt, wohl aber die verhältnismäßig unwichtige Silbentrennung. Dabei wird ausdrücklich die Sprech- oder Klatschprobe empfohlen, nicht aber ihr Widerspruch zu der Sonderregel „Trenne ck wie ch und sch“ erörtert.

Bei der Groß- und Kleinschreibung wird die Artikelprobe empfohlen. Deren Anwendung ist bekanntlich mit großen Problemen behaftet. In der Broschüre wird mit Recht gemahnt: „Bei der Artikelprobe darf das zu bestimmende Wort niemals aus dem Satz herausgenommen werden.“ (19)

So kommt man allerdings niemals dazu, die Tageszeiten in Gefügen wie „heute Abend“ groß zu schreiben. Der verschmolzene Artikel wird zunächst wie der freie behandelt („beim Laufen“, „zum Kochen“ 20), obwohl er für Schüler nicht ohne weiteres zu erkennen ist. In einem besonderen Abschnitt werden dann „feste Wendungen“ angeführt: „im Allgemeinen“ usw. Warum aber auch „für Jung und Alt“ groß geschrieben wird, ist nicht ersichtlich.

Fazit: Diese Broschüre aus dem „Bildungsland® Hessen“ ist zwar großzügig gestaltet, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als arm an Gehalt, sachlich überholt und erstaunlich fehlerhaft. Sie ist geeignet, bei Lehrern weitgehend falsche Vorstellungen über die Rechtschreibreform zu erzeugen.

Erstaunlich ist aber auch, welchen Einfluß Stillemunkes auf seine Ministerin auszuüben scheint.

Wolff und Schavan waren die Kultusministerinnen, die auf den Einfall kamen, die diskreditierte Zwischenstaatliche Kommission samt Beiräten zu entlassen und einen neu betitelten „Rat für deutsche Rechtschreibung“ einzurichten. Er sollte unter neuem Namen die Reformdurchsetzung gewährleisten.

Am 1.10.2004 nahm Wolff neben KMK-Präsidentin Ahnen an einer Pressekonferenz teil, zu der der Verband der Schulbuchverleger seine „Verbändeallianz“ in Berlin zusammengetrommelt hatte. Alle Teilnehmer warnten einhellig vor den Folgen eines Rückbaus der Reform. Es fiel manchem Beobachter auf, wie umstandslos sich die Politikerinnen für die Interessen der Schulbuchverlage einspannen ließen.

Im November 2004 drohte eine nochmalige Befassung des Bundestages mit der Rechtschreibreform. Um dies zu verhindern, schrieb Wolff einen bemerkenswerten Brief an die CDU-Vorsitzende Angela Merkel. Darin heißt es:

„Ich streite nicht in der Frage, ob die Rechtschreibreform so hätte sein müssen/dürfen, ob der Bundestagsbeschluss von 1998 weise war oder dergleichen; ich stimme durchaus der Feststellung zu, dass eine gewisse Unsicherheit eingekehrt war – kein Wunder übrigens bei einer vergleichsweise so langen Übergangsfrist bei gleichzeitig tendenzieller Unlust von uns Erwachsenen, das selbst Gelernte zu verändern, und einem Stil der Auseinandersetzung, der glaubenskriegsähnliche Züge trug. Ich habe auch als später ins Amt Gekommene überhaupt keine Lust zu Wiederholung einer solchen Prozedur.
Also war unsere Aufgabe als Kultusminister – die Aufgabe war uns übrigens von der MPK 1996 zugewiesen, 1998 verfassungsgerichtlich bestätigt – , ein Procedere zu entwickeln, das Korrekturen und eine dezente Weiterentwicklung der Rechtschreibung ermöglichte und, da das Dudenmonopol unwiderbringlich verloren war, ein Gremium dafür zu finden, das möglichst (!) politikfern vorzubereiten. Zudem hatten die bisherigen Gremien keine ausreichende Akzeptanz.
Es war die Idee der Unionsseite in der KMK – Hessen und Baden-Württemberg dürfen hier durchaus genannt werden –, diese Aufgabe neu zu ordnen und einem Rat zuzuordnen. Das hat die KMK übrigens längst vor der MPK im Juni d.J. beschlossen. Die näheren Einzelheiten wurden auf der Grundlage eines Präsidiumsbeschlusses vom August im Oktober beschlossen. Die diesbezüglichen Formulierungen im Antrag sind leicht schräg.
Der KMK-Beschluss, bestätigt durch die MPK, hat Klarheit geschaffen:
1. Die Reform in der (vielfach bisher ignorierten) Fassung des 4. Berichts der Zwischenstaatlichen Kommission gilt ab 1.8.05. für Schule und öffentliche Verwaltung.
2. Der Rat wird umgehend eingesetzt.
3. Kann er bestimmte Punkte bis Sommer leisten, gehen sie in die geltende Fassung ein.
Damit kann ein Antrag im Bundestag jetzt keinen Fortschritt mehr erbringen. Das irgend Mögliche in Bezug auf die ersten beiden Punkte haben die Kultusminister in dieser wenig komfortablen Lage geleistet. Der dritte Aspekt geht an der Sache vorbei, da die Bundesregierung keine eigene zusätzliche Funktion hat.
Was die Handlungsweise einiger Verlage angeht, äußere ich mich nicht zu dem durchaus vorhandenen Reiz, einmal zu zeigen, dass die Medien die Politik nicht nach Belieben am Nasenring durch die Arena ziehen können. Berücksichtigen Sie aber, dass die Süddeutsche Zeitung längst Abstand vom Plan ihres Chefredakteurs genommen hat; auch beim Spiegel gibt es enorme innere Verwerfungen und Andeutungen möglichen Verzichts auf den Vollzug des Angekündigten. Selbst beim Springer-Verlag lässt man Bereitschaft spüren, im Rat mitzuarbeiten.
All dies führt mich zu der Frage: was will die Fraktion jetzt noch erreichen als neue Unsicherheit? Die Strukturen, innerhalb derer die unbezweifelbar wünschenswerten Korrekturen möglich sind, sind geschaffen – jetzt geht es höchstens noch darum, die Akademie für Sprache und Dichtung zu bewegen, ihre Pflicht an der Schriftsprache in diesem Rahmen zu tun.“


Die Deutsche Akademie entschloß sich erst Anfang Juni 2005, „ihre Pflicht zu tun“ und dem Rat beizutreten. Allerdings hatte dessen Arbeit inzwischen eine Wende genommen, die der Ministerin keineswegs gefiel. Deshalb war Wolff es, die zusammen mit ihren Kolleginnen Schavan und Ahnen den neuen Kurs der KMK vorgab, die vom Rat zufällig noch nicht bearbeiteten Bereiche für „unstrittig“ zu erklären und ihre Verbindlichkeit ab 1. August 2005 zu bekräftigen: „Der überwiegende Teil der neuen Regeln bleibt von den Änderungen unberührt. Ab dem kommenden Schuljahr können alle Schulen auf einer verlässlichen Grundlage unterrichten.“ Dem widersprach der Vorsitzende des Rates, indem er erklärte, daß z. B. die Groß- und Kleinschreibung noch im Laufe des Jahres 2005 bearbeitet werden solle.

Als der Rat für deutsche Rechtschreibung sich anschickte, die Fehler der Neuregelung zu korrigieren, war es Ministerin Wolff, die die Notbremse zog. Am 12.4.2005 erklärte sie wahrheitswidrig, „die vom Rat für deutsche Rechtschreibung am 8. April 2005 vorgeschlagenen Änderungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung seien keine Rücknahme der Rechtschreibreform, sondern Modifikationen im Sinne der Schülerinnen und Schüler“. In Wirklichkeit hat der Rat praktisch die gesamte GZS zurückreformiert. Die übrigen Propagandathesen der Erklärung kann man auf sich beruhen lassen.

Wie die hessische Landesregierung das Geschäft der Schulbuchverlage betreibt, ist in meiner Schrift „Die Schulbuchverleger und die Rechtschreibreform“ näher ausgeführt.


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