25.10.2016


Theodor Ickler

Desiderata

Wie könnte es weitergehen?

Ein realistischer Blick auf den gegenwärtigen Zustand der amtlichen Schulorthographie: Wünschenswertes und Machbares.


Die „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ ist auch nach den bisherigen Revisionsarbeiten noch verbesserungsbedürftig. Kollateralschäden wie eine erschwerte Lernbarkeit in gewissen Bereichen oder die problematische Umsetzung in Wörterbüchern sollen hier außer Betracht bleiben. Auch die Wiedereinführung der „Heyseschen s-Schreibung“, die zwar die allermeisten Änderungen in Texten ausmacht und das wichtigste Erkennungszeichen der Reform ist, soll hier nicht erörtert werden. (Eigentlich betrifft sie eine eher typographische Frage, nämlich die Auflösung der Ligatur ß in bestimmten Positionen.)
Es gibt aber einige reformierte Schreibweisen, die der sprachlichen Intuition gebildeter Sprachteilhaber widersprechen und linguistische Bedenken auslösen.

1. Großschreibung pronominaler Elemente

Die Neuregelung fordert Großschreibung bei folgendes, letzterer und einigen ähnlichen anaphorischen und kataphorischen Wörtern, falls sie nicht attributiv auf ein Substantiv bezogen werden können. Sogar der führende Rechtschreibreformer Peter Gallmann stellt jedoch in der Dudengrammatik zutreffend fest:
„Einige Adjektive nähern sich den Demonstrativen an, man spricht daher auch von demonstrativen Adjektiven (...) Das zeigt sich auch daran, dass sie schon überwiegend ohne definiten Artikel gebraucht werden. (...) folgender, obiger, ersterer, letzterer“ (Dudengrammatik 2016:280)
„Diese Wörter tendieren dazu, Artikelwörter bzw. Pronomen zu werden, was sich daran zeigt, dass der definite Artikel oft weggelassen wird:
Ich habe Edward und Alfred verwechselt. Nicht Ersterer ist mein Ahnherr, sondern Letzterer!“ (ebd. 286; beides schon in der 7. Auflage 2005)

Syntaktisch gesehen, ist der Gebrauch ganz und gar pronominal. Die Kleinschreibung scheint daher am angemessensten.
Dasselbe gilt für einige weitere Ausdrücke, die heute unterschiedlich geregelt sind, bisher aber einheitlich klein geschrieben wurden: jeder einzelne, der andere, jeder zweite (numerisch, also beim Abzählen).

2. Großschreibung adverbialer Elemente

In Wendungen wie (neuschreiblich) im Allgemeinen, im Wesentlichen, im Großen und Ganzen, jeweils mit verschmolzenem Artikel, sowie des Näheren, des Öfteren usw. stört die Großschreibung, weil sie textsemantisch in die Irre führt: Die formal substantivierten Adjektive referieren gar nicht auf wirkliche Größen (es gibt hier kein Allgemeines, Wesentliches, Großes und Ganzes), sondern die Wendungen sind insgesamt adverbial und sollten zur Unterscheidung klein geschrieben werden. Im Zuge der Revisionen ist die Großschreibung (fakultativ) auf ein Dutzend artikellose Fügungen ausgedehnt worden: seit Langem, bei Weitem usw. - Hier gelten dieselben Bedenken: es gibt kein „Langes“ und kein „Weites“, von dem die Rede wäre.

3. Groß- und Kleinschreibung in mehrteiligen Entlehnungen

Fülle wie Herpes zoster, Ultima ratio, Commedia dell'arte folgten bisher der einfachen Regel: das erste Wort groß, alles andere klein. Die Neuregelung schreibt vor, daß die Wortart der Ausgangssprache zu beachten und dann nach deutscher Weise jedes Substantiv groß zu schreiben sei: Herpes Zoster, Ultima Ratio, Commedia dell'Arte. Inkonsequenterweise sollen aber Adjektive am Anfang der Wendung keineswegs klein geschrieben werden, sonst müßte es nun ultima Ratio heißen. Aber auch sonst ist die neue Regelung so schwer anzuwenden, daß die Wörterbücher lange Zeit nicht wußten, wie Herpes zoster jetzt zu schreiben sei und Café crème heute im Duden nur die empfohlene Variante neben Café Crème ist – offenbar eine Variantenschreibung aus Verlegenheit. (Ähnlich Chapeau claque/Claque.) Wie Memento mori, Ars bene dicendi heute zu schreiben wären, ist nicht vorhersehbar. Auch und gerade in germanistischer Fachliteratur findet man ständig „Fehler“ wie Genitivus qualitatis usw.

4. Die Großschreibung der Tageszeiten (gestern Abend) ist auch nach den eigenen Grundsätzen der Reformer nicht gerechtfertigt; der Fallneulich abend/Abend ist weiterhin ungeklärt. Die Schreibweise Diät leben ist nicht zu begründen. pleite gehen/bankrott gehen wurden von der Reform in Pleite/Bankrott gehen geändert, die Revision führte obligatorisch pleitegehen, bankrottgehen ein. Warum die ursprüngliche Schreibweise nicht mehr zulässig sein soll, ist unerfindlich.

5. Die Getrennt- und Zusammenschreibung ist durch Reform und Revisionen nicht leichter geworden: eislaufen, Rad fahren (aber auch radfahrend); näher kommen (in nichträumlicher Bedeutung), aber weiterkommen (in jeder Bedeutung) und viele ähnliche Fälle. Aus gut tun, leid tun, not tun machte die Reform gut tun, Leid tun, Not tun; der Rat änderte in gut tun, leidtun, nottun. Dies und manches andere wirkt undurchdacht und kann nicht gelernt werden.

6. Weitere problematische Punkte der Neuregelung sind wegen der geringen Zahl betroffener Wörter oder der Seltenheit ihres Vorkommens weniger wichtig und könnten nebenbei bereinigt werden:
- die künstlich etymologisierenden, auch volksetymologischen Schreibungen (behände, Stängel, Gämse, Zierrat, belämmert, gräulich, einbläuen, aufwändig, Tollpatsch, schnäuzen u. a.) könnten freigestellt oder ganz aufgegeben werden.
- Nachdem der Rechtschreibrat bereits einige praktisch nirgendwo befolgte Eindeutschungen zur Disposition gestellt hat (Empfehlungen 2010: Streichung von Butike, Schose, transchieren usw.), könnten weitere Fälle bereinigt werden, z. B. das Nebeneinander von Schikoree, Kommunikee, aber Attaché, Abbé usw.
- Die Trennmöglichkeiten sollten auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten werden. Mit Diag-nose, Konst-ruktion usw. ist niemandem gedient.


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