10.11.2015


Theodor Ickler

Der False-belief-Test

Fragwürdiges Verfahren der mentalistischen Psychologie

In fast allen Arbeiten zur „Theorie des Geistes“ spielt der „False-belief-Test“ eine entscheidende Rolle. Er wurde, nach einer Anregung Daniel Dennetts, 1983 von Heinz Wimmer und Josef Perner vorgestellt („Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception“. Cognition 13, 1983:103-128).
Eine der vielen Darstellungen findet sich bei Wikipedia („Theory of mind“):

Vor dem Kind liegt eine Keksdose. Das Kind wird gefragt, was sich vermutlich darin befindet (zu erwartende Antwort: „Kekse“). Die Schachtel wird geöffnet - darin befinden sich jedoch keine Kekse, sondern etwas Unerwartetes (z. B. Buntstifte). Nun wird das Kind gefragt, was wohl eine andere Person in dieser Dose vermuten wird. Kinder, die noch keine Theory of Mind entwickelt haben, werden „Buntstifte“ antworten, weil sie noch nicht verstehen, dass andere Personen eine falsche Überzeugung über einen Sachverhalt haben können. ToM-fähige Kinder sagen hingegen „Kekse“. Interessanterweise haben die Kinder dabei nicht nur Schwierigkeiten zu verstehen, dass andere Personen eine falsche Überzeugung haben können, sondern auch, dass sie selbst eine falsche Überzeugung hatten und vorher dachten, dass in der Schachtel Kekse sind.

Das Bestehen des Tests gilt als Beweis dafür, daß das Kind eine „Theory of Mind“ (ToM) ausgebildet hat, d. h. die Zuschreibung geistiger oder „mentaler“ Vorgänge bei anderen. „The standard interpretation of the failure on false belief tasks is that children lack a ToM or, 'in more colorful words, cannot read other peoples’ minds' (Salzinger, 2006)“. (Schlinger) Ob es sich dabei um etwas Theorieähnliches handelt oder eine andersartige „Versetzung“, „Perspektivenübernahme“ oder „Simulation“, ist umstritten, soll hier aber nicht diskutiert werden. Das mentale Leben des anderen besteht mindestens aus Denken und Wollen („Intentionalität“), vielleicht noch Fühlen.

Allgemeiner läßt sich diese Auffassung so umschreiben: Das Kind entwickelt eine Art von „Psychologie“, ohne die es das Verhalten anderer nicht verstehen und sich in seinem Verhalten nicht darauf einstellen könnte.

Eine naheliegende Kritik hebt die Sprachlastigkeit des Tests hervor und wirft die Frage auf, ob und wie die Kinder die Aufgabenstellung überhaupt verstehen.
Es ist z. B. möglich, daß der kindliche Begriff von „suchen“ ein anderer als der erwachsenensprachliche ist. Die kleineren Kinder könnten darunter so etwas wie „erfolgreich suchen“ verstehen.

Möglicherweise verstehen die Kinder auch werden oder wollen als sollen o. ä. Bisher scheint nicht durch gesonderte Experimente sichergestellt zu sein, daß die Kinder die Wörter in genau demselben Sinn verstehen wie die untersuchenden Wissenschaftler.

Das Kind ist verschiedenen Reizen ausgesetzt, vor allem der gezeigten Episode und dem sprachlichen Reiz der Aufgabenstellung. Nach Schlinger und anderen Behavioristen reagiert das Kind je nach Lebensalter und Aufmerksamkeitsspanne teilweise stärker auf die Situation als auf die Fragestellung. Auch spielt die Zeit eine Rolle, die zwischen dem Manipulieren der Gegenstände und der Frage vergeht. Schlinger zitiert auch Studien, wonach die Formulierung der Aufgabe Einfluß auf die Antwort des Kindes hat. Außerdem hängt es davon ab, wieviel Erfahrung das Kind in der Familie mit ähnlichen Aufgaben bereits hat. Schlinger verbindet den Test mit den Entwicklungsstadien nach Piaget. Auch das Kind selbst sucht in frühen Phasen einen Gegenstand dort, wo er gewöhnlich ist, obwohl es gesehen hat, daß sein Ort verändert worden ist. In einigen Varianten wird dem Kind die Testfrage als irrealer Konditionalsatz vorgelegt. Das ist die schwierigste, von Kindern zuletzt erworbene Satzkonstruktion, mit der sich auch Erwachsene schwertun.
Ähnliche Bedenken bestehen gegen kulturvergleichende Untersuchungen, weil die Aufgabenstellung in sehr verschiedenen folkpsychologischen Systemen möglicherweise anders verstanden wird.
Andere Psychologen haben gefunden, daß schon viel jüngere Kinder ein Verständnis für False beliefs zeigen, vor allem wenn man den Test weniger sprachlastig anlegt. Dann schneiden schon 2½jährige recht gut ab.

„Contrary to traditional claims, the ability to attribute false beliefs to others is already present by the second year of life.“ (Renée Baillargeon/Rose M. Scott/Zijing He: „False-belief understanding in infants“. Trends in Cognitive Sciences 14/3, 2010:110-118, S. 116) Auch Birch und Bloom haben zeigen können, daß Kinder die Täuschung anderer schon viel früher beherrschen. Alle Verstellungsspiele beruhen ja darauf, daß man dem anderen eine falsche „Vorstellung“ vermittelt; es ist also derselbe Mechanismus wie beim False-belief-Test. Das Verstellungsspiel ist in natürlicher Umgebung leichter zu beobachten als die etwas künstlichen Bedingungen des Tests. Nach Nichols und Stich verstehen die Kinder das Verstellungsspiel (Pretending) zwei Jahre früher, als sie den False-belief-Test bestehen. Nach Hildegard Hetzer (Die symbolische Darstellung in der frühen Kindheit. Wien 1926:22) ist ein Knabe mit 1;5 schon imstande, ein "Tun-als-Ob" des Erwachsenen zu verstehen. Das Kind benutzt sehr früh seinen eigenen Körper und jeden beliebigen Gegenstand durch phantasievolle Umdeutung als Darstellungsmittel. Nach Bruners Beobachtung tritt das Versteckspiel (mit der Mutter) schon im ersten Lebensjahr auf.
Unsere Tochter Johanna (1;7) spielt mit einer blauen Plüschmaus, wirft sie hinter sich, bewegt den Kopf übertrieben hin und her, als suche sie danach, „entdeckt“ sie und krabbelt hin. Dabei ruft sie Maus oder Da-isse Maus.
Auf der anderen Seite hat man festgestellt, daß auch Erwachsene bei vergleichbaren Aufgaben unter gewissen Umständen versagen. Überhaupt scheint „Mindreading“ nicht so erfolgreich zu sein, wie der Laie sich einbildet. Die naturalistische Rekonstruktion von Verstellungsspielen geht nur von den Beobachtungsdaten aus, die auch dem Kind zugänglich sind. Bei Verstellungsspielen werden Signale wie Lachen ausgetauscht, die „nicht ernst“ anzeigen. Tiere begleiten das Spiel manchmal mit einem „Spielgesicht“; bei Hunden etwa deutet die ganze Körperhaltung an, daß sie spielen wollen (= daß Spielen in diesem Augenblick verstärkend wirkt) (www.zooschule-landau.de). Sozial lebende Tiere wie Hunde oder Affen scheinen mehr solche Spiele zu haben als andere, behalten sie auch über die Kindheit hinaus länger bei.
(Weiteres unter „Vormachen und Nachahmen“)


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