24.10.2014


Theodor Ickler

Sprache und Erinnerung

Bemerkungen zu einem alten Problem

Warum können wir uns im allgemeinen nicht an Ereignisse aus den ersten drei Lebensjahren erinnern? In einer populären Zeitschrift heißt es in Anlehnung an den Psychologen Hans Markowitsch:

So sehr Sie sich auch bemühen - an die ersten drei Jahre seines Lebens wird sich Ihr Kind später nicht erinnern können. (...)
Die Drei Faktoren für die Erinnerung

Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass drei Faktoren zusammenkommen müssen, damit man sich später an bestimmte Ereignisse erinnern kann:

1. Die Sprache
Erst wenn wir unsere Muttersprache nahezu beherrschen, fängt das autobiographische Gedächtnis, in dem wir persönliche Erlebnisse aufbewahren, an zu funktionieren. Hans Markowitsch: "Erlebnisse, die wir als Kinder noch nicht mit Worten beschreiben konnten, sind für uns als Erwachsene nicht mehr abrufbar." Das heißt: Die zerbrochenen Christbaumkugeln sind zwar irgendwo im Hirn ihres Kindes abgespeichert, aber es wird ihm nicht gelingen die Erinnerung später hervorzukramen.

2. Die Hirnreifung
Das Gehirn eines Kleinkindes ist mit dem eines Erwachsenen nicht vergleichbar. Erst in der Pubertät hat sich das Netzwerk von Nervenzellen so weit ausgebildet, dass die Bedingungen zur Abspeicherung von Erinnerungen optimal sind. Bei Babys und Kleinkindern funktioniert das Gedächtnis noch auf sehr einfache Art, es entwickelt sich erst über die Jahre hinweg zu einem komplexen System. Ganz am Anfang erinnern sich Babys nur an Dinge, die fast reflexhaft ablaufen: zum Beispiel daran, dass sie an der Brust saugen müssen, um satt zu werden. Oder an den Geruch der Mutter. Später erinnern sie sich daran, wer Opa ist und dass die Herdplatte heiß sein kann. Erst ab einem Alter von etwa drei Jahren ist die Hirnentwicklung so weit, dass auch das autobiographische Gedächtnis, das persönliche Erlebnisse speichert, zu funktionieren beginnt.

3. Die Ich-Entwicklung
Im Alter von zwei bis drei Jahren entwickeln Kinder eine Vorstellung davon, wer sie sind, und dass sie ein eigenständiges Leben führen. In dieser Phase lernen sie, sich in den großen Zusammenhang der Welt einzuordnen und zu erkennen, was gestern, heute oder morgen ist. "Solange Kinder kein Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben, können sie auch keine Erinnerungen abspeichern oder wieder hervorrufen", sagt Gedächtnisforscher Markowitsch.


Der dritte Punkt ist auffälligerweise nicht operationalisierbar. Verhaltensänderung, also Lernen findet schon im Mutterleib statt und ist von Dauer; das ist für alle Sinnesmodalitäten nachgewiesen. Nur die besondere Leistung des Berichtens aus der Kindheit – nur das nennen wir „Erinnerung“ (im Text „bewusste Erinnerung“) – reicht nicht so weit zurück.
Es käme nun darauf an, das Erlernen solcher Berichte zu studieren. (Das geschieht natürlich längst, ich weiß.) Interessant ist der Anfang, wenn man Kinder erzählen läßt, was "gestern" war, vor allem wenn man selbst dabeigewesen ist. Dann kann man beobachten, wie das Kind aus Gedächtnisspuren etwas konstruiert und stilisiert. Unter drei Jahren hat es noch nicht die "Kategorien". d. h. auch: die Interessen, die annähernd denen der Erwachsenen entsprechen, die eine verständliche Erzählung in unserer Sprache erst ermöglichen. Damit sind wir wieder bei Wittgensteins Löwen: Könnte er sprechen, wir würden ihn nicht verstehen.
Die mentalistische Darstellung unter Punkt 3 macht aber eine Forschung von vornherein unmöglich.

Es melden sich Leser, die ziemlich aufgebracht berichten, sie könnten sich an die ganze Zeit nach der Geburt genau erinnern, das Blaulicht über dem Frühgeborenen (offenbar gegen neonatalen Ikterus) usw. - das sind bestimmt Einbildungen.


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