07.06.2014 Theodor Ickler Grammatische Exerzitien 9Der ArtikelSehr kurze Übersicht über den Artikelgebrauch im DeutschenDer Artikel ist ein im Singular genusflektiertes Wort, das vor Substantiven bzw. Nominalgruppen steht. Er dient einerseits dazu, das Substantiv zu determinieren, andererseits verdeutlicht er dessen Kasus und Numerus, nachdem die Substantivendungen im Deutschen weitgehend abgebaut worden sind. Im engeren Sinne gibt es vier Artikel: den bestimmten Artikel (der) den unbestimmten Artikel (ein) den Negationsartikel (kein) den Possessivartikel (mein) Nicht damit zu verwechseln sind die Pronomina der, einer, keiner und meiner, die z. T. abweichende Flexionsformen haben (s. Anm. 6). Weitere Pronomina können in determinierender Funktion gebraucht werden (dieses Buch), z. T. auch in Verbindung mit dem Artikel (dieses mein Buch, manch ein Schriftsteller). Der bestimmte Artikel bezieht die Substantivgruppe auf einen für den Hörer bereits identifizierten (vorerwähnten oder anderweitig bekannten) Gegenstand, der unbestimmte Artikel führt einen Gegenstand neu in die Rede ein. Der bestimmte Artikel kann sich auf einen bestimmten Einzelgegenstand oder auf die Gattung beziehen (generischer Gebrauch). Der bestimmte Artikel kann mit Präpositionen verschmolzen auftreten, z. T. unauflösbar: zum Schluß. Der unbestimmte Artikel hat keine Pluralformen. Der unbestimmte Artikel ist ebenfalls zweideutig. Einerseits bezeichnet er beliebige Gegenstände, andererseits bestimmte für den Sprecher, aber nicht für den Hörer identifizierte Gegenstände: Ich suche ein Feuerzeug (1. 'irgendeines', 2. 'ein bestimmtes') Diese Zweideutigkeit entfällt bei Gib mir ein Feuerzeug! (nur = 'irgendeines') Der Hörer kann nicht aufgefordert werden, etwas zu identifizieren, was nur dem Sprecher bekannt ist. Wäre es auch dem Hörer bekannt, stünde der bestimmte Artikel. Artikellosigkeit ist bei Aufzählungen bekannter Gegenstände üblich: Sie nahmen darauf alle Korb und Seil und gingen zu der Felsenhöhle. Mit Messer und Gabel essen. Auch Koordination artikelloser mit artikelhaltigen Substantivgruppen ist möglich: Er beschrieb anschaulich, wie sich Bundestag und insbesondere der von ihm vertretene Europa-Ausschuss mit dem Gemeinschaftsrecht befasst hatten. (SZ 11.2.09) In Schlagzeilen wird der Artikel oft weggelassen: Mann erschießt in Heim Ehefrau und Pflegerin – Klage wegen Thrombose durch Pille gescheitert – Mutmaßlicher Dieb von Polizist erschossen (alle FAZ 30.7.02) Der Artikel fehlt in vielen verbalen Phraseologismen (auch Funktionsverbgefügen): Stellung nehmen, zu Papier bringen, in Schrecken versetzen, in Angriff nehmen. Man sagt Zeitung lesen, aber nicht *Buch lesen, denn die Zeitung ist weniger individualisiert, daher wird eher die Eigenart der Tätigkeit als deren Gegenstand hervorgehoben. Artikel bei Eigennamen Eigennamen sind inhärent determiniert, brauchen daher keinen Artikel. Der in Süddeutschland in gesprochener Sprache übliche bestimmte Artikel erhöht den Eindruck der Bekanntheit oder Vertraulichkeit: der Hans Der bestimmte Artikel zerlegt das Individuum in mehrere Phasen, Aspekte o. ä. („Alloindividuen“): der junge Goethe (spezifizierend) das heiße Indien (charakterisierend) Der unbestimmte Artikel macht aus der Individuenbezeichnung eine Typbezeichnung ein Mozart Personalartikel In Verbindung mit Nominalgruppen können die Personalpronomina artikelähnlich gebraucht werden. Im Singular liegt dann fast immer eine wertende Bedeutung vor: ich Dummkopf, du Esel: Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen! (FAZ 26.1.93) du ahnungsvoller Engel (Goethe) Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. (Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Hamburg 1953:1) Adjektive (auch substantivierte) werden im Singular stark, im Plural teils stark, teils schwach gebeugt: Lässig gehe ich moderner Mensch mit meiner Elektronik um. (SZ 10.5.85) Meine Mutter und ich Neugeborener kehrten nach getaner Arbeit in die DDR zurück. (Zeit 12.11.93) Wir Deutsche sind ein Volk von Kranken. (FAZ 22.7.82) Nur wir Deutschen, wir wollen alles anders und besser machen. (FAZ 28.12.84) Das Pronomen der dritten Person kommt fast nur in indirekter und erlebter Rede vor: Und er Idiot ist grusslos an ihnen vorbeigegangen. (Martin Suter: Richtig leben mit Geri Weibel - Die Supernova. NZZ Folio) Er äußerte sich ungehalten über die Zudringlichkeit, die man gegen ihn alten Mann ausübe ...(Karl August Varnhagen von Ense: Biographische Denkmale. Verlag G. Reimer, 1826) Anmerkungen 1. Zur Verschmelzung des Artikels mit Präpositionen s. Verschmelzung. 2. Bei Phraseologismen mit um steht der (verschmolzene) bestimmte Artikel: ums Leben kommen; solche mit außer und unter haben keinen Artikel: außer Gefecht/unter Druck setzen. 3. Bei manchen Phraseologismen kann mit dem Negationsartikel verneint werden: Beide Firmen wollten zu dem genauen Kaufpreis keine Stellung nehmen. (SZ 2.1.98) Aber: Der als streng konservativ geltende Kardinal hatte zu den Beschuldigungen nicht Stellung genommen. (SZ 5.1.98) 4. Die Nichtsetzung des Artikels wird von manchen Grammatikern als Setzung eines „Nullartikels“ aufgefaßt. Diese Ansicht wird hier nicht geteilt. 5. Die Bezeichnung „unbestimmter“ oder „indefiniter“ Artikel ist etwas irreführend, da dieser Artikel in einer seiner Lesarten durchaus etwas Bestimmtes, nämlich dem Sprecher Bekanntes markiert. 6. Der bestimmte Artikel ist vom Demonstrativpronomen der/die/das zu unterscheiden, mit dem er in den meisten Formen übereinstimmt: Die Ohren des Esels sind länger als die des Pferdes. Hier nimmt Blatz das Pronomen (= diejenigen) und nicht den Artikel an (Blatz II 182). Das erkennt man auch an den eindeutigen Formen (denen). Die Fügung ist also nicht elliptisch zu verstehen. Die Verschmelzung ist schon mehrmals kurz besprochen worden: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1418 Ich fasse noch einmal zusammen: Der unbetonte bestimmte Artikel kann in verkürzter Form enklitisch an Präpositionen angehängt werden. Das m des maskulinen und neutralen Artikels tritt an die Präpositionen an, bei, hinter, in, über, unter, vor und zu, wobei es mit auslautendem n zu m verschmilzt: am, beim usw. Das s des neutralen Artikels verbindet sich mit an, auf, durch, für, hinter, in, über, um, unter, vor: ans, aufs usw. Das r des femininen Artikels verbindet sich mit zu: zur. Weitere Verbindungen treten in der Umgangssprache und den Dialekten auf: übern, in'n, gegen's usw. Verschmolzene und nicht verschmolzene Formen sind oft gleichwertig: Die durchschnittliche bundesdeutsche Hausarztpraxis ist aufs Abgeben von Arzneimitteln ausgerichtet und nicht auf das Ändern von Verhaltensweisen. (NN 6.3.90:26) In bestimmten Gruppen von Präpositionalphrasen ist die Verschmelzung nicht mehr auflösbar, so daß man hier die Entstehung eines neuen Formenparadigmas „flektierter Präpositionen“ zu erkennen glaubt, das allerdings aus lautlichen Gründen noch lückenhaft ist. Das gilt zunächst für die Superlativformen am schönsten usw., ferner für die Verlaufsform mit substantiviertem Infinitiv: die Sache am Laufen halten usw. In Verbindungen wie am Meer wohnen, am Himmel stehen wäre der bestimmte Artikel zu stark hinweisend; gemeint ist jeweils das bekannte singuläre Naturphänomen. In einigen Fällen wäre, wenn man die Wendung wieder auflösen wollte, eher der unbestimmte Artikel angebracht: sich zum Künstler ausbilden, jemanden zur Schnecke machen, zum Abschluß kommen. (Vgl. Blatz I:615 ) Das liegt daran, daß „der bestimmte Artikel seine hinweisende Kraft“ verloren hat (Blatz). Damit hängt das folgende Problem zusammen: Wird die Präpositionalphrase durch einen Attributsatz oder einen anderen Ausdruck näher erläutert, so daß der Artikel mehr oder weniger korrelative Funktion hat, dann gilt die Verschmelzung vielen präskriptiven Grammatiken als nicht korrekt. Nach Wahrig (Fehlerfrei 479) soll falsch sein: Er arbeitet im Garten, der seinem Vater gehört, nach Duden Fritz ist jetzt im Haus, das er sich letztes Jahr gebaut hat (Dudengrammatik 1998:324). „Die Verschmelzungsform kann nicht verwendet werden, wenn es sich um eine definite und spezifische Nominalgruppe handelt: Sie ging zu dem/*zum Zahnarzt, den man ihr empfohlen hatte.“ (Ludger Hoffmann: Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin 2007:313) Ebenso Helbig/Buscha 1984:389. Solche Konstruktionen sind jedoch durchaus üblich: Die Szene passte nicht ins Bild, das man sich von Michael Schumacher malt. (Welt 3.9.02) Es waren Franzosen, die als erste zur Überzeugung gelangten, notfalls müßten sozialer Fortschritt, Freiheit und Zivilisation auch mit Gewalt durchgesetzt werden. (Jb. 17 der Bayer. Akademie der Schönen Künste, 2003:139) Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die organische Kapitalzusammensetzung ständig steigt. (FAZ 4.7.13) Die Koordination von verschmolzenen und unverschmolzenen Formen bei Abhängigkeit von derselben Präposition gilt ebenfalls als anstößig. Blatz I:615 nennt sie lediglich „ungenau“ (Ich erkannte ihn gleich am Gange und der Haltung (statt an der). Vgl. Dudengrammatik 2005:624 („nicht üblich“). Sie ist gleichwohl sehr häufig: Interesse am Schicksal und der Meinung der einzelnen (Peter C. Ludz: Mechanismen:200) Zur Entwicklung des Dudens und seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie. (Buchtitel von Gunnar Böhme. Frankfurt 2001) Etwas anders: Herr Merlin im Gehrock und spitzer Magiermütze. (Kurt Tucholsky: Ges. Werke I:328)
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