27.05.2014 Theodor Ickler Grammatische Exerzitien 8Reflexiv (und reziprok)Vorläufige Übersicht1.Reflexive Verben sind solche Verben, die stets ein semantisch leeres, unbetontes, nicht vorfeldfähiges, mit dem Subjekt in Person und Numerus kongruierendes Pronomen im Dativ oder Akkusativ bei sich haben: sich aneignen, sich schämen. 2.In der ersten und zweiten Person werden die entsprechenden Formen des Personalpronomens (mir, mich, dir, dich, uns, euch) verwendet, in allen anderen Fällen das Reflexivpronomen sich. 3.In subjektlosen Konstruktionen richtet sich die Form des Pronomens nach einem zu erschließenden Subjekt, das im Obersatz erwähnt sein kann; fehlt es, steht sich: Es geht hier und jetzt nicht darum, uns im einzelnen mit Weinrichs Argumenten auseinanderzusetzen. (IF 73, 1968:283; im Obersatz ist uns aus dem Zusammenhang ergänzbar) Sie läßt ihn sich erholen. Du hast es nötig, dich gut zu erholen. Es fällt mir schwer, mich zu erholen. unsere Fähigkeit, uns gut zu erholen An der Nordsee haben wir, uns gut erholend, Urlaub gemacht. Hier besteht die Möglichkeit, sich gut zu erholen. 4.Zu den reflexiven Verben können auch Verbgefüge mit präpositional angeschlossenem Pronomen gezählt werden wie unter sich sein, mit sich ins reine kommen, zu sich kommen, außer sich geraten usw. 5.Bei pluralischem Subjekt (der Form oder dem Sinne nach) können reflexive Verben auch in reziproker Bedeutung verstanden werden; zur Vereindeutigung der unterwertigen Konstruktion kann (mit)einander hinzugefügt werden: sich anfreunden, einigen, überwerfen, verbrüdern, verfeinden 6.In reflexiven Konstruktionen kann das Reflexivum als reziprokes einander verstanden werden: Hier schenken sich links und rechts nicht viel, wenn sie die Demokratie in die Zange nehmen. (Welt 15.5.04) Anmerkungen: 1.Als reflexive Verben werden hier nur diejenigen aufgefaßt, die in einigen Grammatiken als „echt“ oder „inhärent reflexive Verben“ bezeichnet werden. Die sogenannten „unecht reflexiven“ oder „reflexiv gebrauchten“ Verben (reflexive Konstruktionen) verdienen keine besondere Auszeichnung, da ein solcher Gebrauch sich für alle geeigneten Verben von selbst versteht: sich etwas besorgen, sich verletzen usw. Beachtenswert ist hier nur die Setzung der verschiedenen Pronomina. 2.Das Reflexivpronomen füllt eine Valenzstelle, d. h. es kann keine Ergänzung im gleichen Kasus mehr hinzukommen. 3.Einige reflexive Verben haben nichtreflexive Dubletten mit gleicher Bedeutung: (sich) ausruhen, (sich) niederknien usw. 4.Reflexive Verben bilden ihr Perfekt meist mit haben: hat sich geschämt usw.; einige reflexive Konstruktionen, die eine Bewegung ausdrücken, bilden es mit sein: sind sich begegnet. 5.Reflexive Verben und Konstruktionen haben kein persönliches Passiv. Ausnahmsweise kommt der passivisch zu verstehende modale Infinitiv vor: Es hieß, der Genuß der günstigen Stunde sei sich zu gönnen, da das Jahr nicht mehr viele solcher Tage mehr brächte. (Gottfried Keller: Kleider machen Leute. München o. J.:14) 6.Das unpersönliche Passiv gilt schulgrammatisch als inkorrekt, kommt aber vor, besonders in der Alltagssprache: Jetzt wird sich gewaschen! Beiden Positionen soll sich in diesem Buch gewidmet werden. (Hans-Werner Eroms: Syntax der deutschen Sprache. Berlin, New York 2000:12) 7.Nicht selten werden die eigentlich geforderten Personalpronomina (besonders der 1. und 2. Pers. Pl.) – ebenfalls abweichend von der schulgrammatischen Norm – durch sich ersetzt: Es fällt uns ausgesprochen schwer, sich in das völlig andersartige Denken und Empfinden im ostasiatischen Raum einzufühlen. (Zs. f. Kulturaustausch 1991/2:195) Ein wenig irritiert ihn aber auch unsere Unfähigkeit, sich gegen Betrügerei zur Wehr zu setzen. (Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung. 1987:73) 8.Reflexive Konstruktionen dienen auch zur Aussparung eines Aktanten (rezessiver Gebrauch). Man unterscheidet drei Fälle: Die Sache findet sich. (Intransitivierung; täterfrei) Das Buch liest sich gut. (modales Medium) Geben Sie acht mit dem Rosé! Er trinkt sich, wie er aussieht: wie Himbeersaft. (Anna Seghers: Transit. Darmstadt 1983:6) (ebenso) Die Beispiele zeigen, daß die Ansetzung eines besonderen „fazilitativen“ Mediums nicht notwendig ist. Die Suppe läßt sich essen. (lassen-Diathese) 9.Bei Nominalisierungen fällt das Reflexivum oft weg: verliebte Paare, niedergelassener Arzt das Baden und Sonnen, das Benehmen, die Erholung Gegen das Aufbäumen der schlesischen Weber wußte der preußische Staat kein anderes Mittel als Soldaten. (FAZ 14.11.81) Bitte anschnallen! 10.Bei reflexiven Konstruktionen kann Kongruenz eines Prädikativums zum Subjekt oder zum Reflexivum hergestellt werden: Er betrachtet sich als wahren Freund/wahrer Freund; bei reflexiven Verben nur zum Subjekt: er gebärdet sich als wahrer Freund. 11.Es gibt keine reziproken Verben. Die reziproke Deutung reflexiver Verben hat nichts mit dem Reflexivum zu tun, sondern ist auch bei nichtreflexiven Verben möglich, vgl. sie versöhnen sich, aber sie heiraten. 12.Die reziproke Bedeutung ist nur bei einander eindeutig, nicht bei der reflexiven Konstruktion. 13.Reziproke Beziehungen können auch verstanden werden, wenn eine Mehrzahl von Beteiligten nur dem Sinne nach vorliegt, besonders oft bei man: Man ist ständig miteinander beschäftigt. (FAZ 24.10.02) ... ein Paar, das in Wiedersehensfreude einander schluchzend in die Arme fällt. (SZ 19.7.95) 14.Reflexive und reziproke Pronomina kommen nicht mit gleichem Bezug zusammen vor, doch es gibt umgangssprachlich und mundartlich Ausnahmen: Danach sagen 60 Prozent der Deutschen, sie seien mit ihren Nachbarn befreundet und würden sich einander helfen. (Bildwoche 22.8.02) „In dieser Ausnahme-Situation müssen wir uns einander helfen“, macht DSW-Präsident Hans-Dieter Rinkens deutlich. (Unicum 9/2002) Aber ohne weiteres mit verschiedenem Bezug: Wohlmeinende hatten die Führungen von SPD und Gewerkschaften aufgefordert, sich bei ihrem abendlichen Treffen einander anzunähern. (FAZ 7.7.04)
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