16.03.2014


Theodor Ickler

Grammatische Exerzitien 7

Verkappte Relativsätze

Ein vernachlässigter Satztyp mit interessanten Eigenschaften

Bevor ich ausführlicher auf die Relativsätze eingehe, möchte ich auf einen Satztyp hinweisen, der auf den ersten Blick nicht dazugehört und den ich als "verkappten Relativsatz" bezeichne. Man könnte ihn als Fall von "Herausstellung" (nämlich Linksversetzung) auffassen und auch zur "syntaktischen Ruhelage" stellen. Bekanntlich ist der Relativsatz in gesprochener Sprache nicht besonders beliebt, wie überhaupt jeder durchkonstruierte Nebensatz. ("Die Volkssprache hat sich mit dem Relativpronomen bis jetzt noch nicht befreundet; sie ersetzt es, so gut es geht, durch Demonstrative oder wendet die Partikel wo an." (Blatz I:427))

Hier einige Beispiele:

Es gibt Organismen, die entpuppen sich bei näherem Hinsehen als wahre Multitalente. (FAZ 2.2.05)
Es gibt Lösungswege, die führen direkt in die Sackgasse. (SZ 24.6.89)
Es gibt Tage, an denen kann nichts mehr schief gehen. (SZ 31.12.01)
Es gibt Tage, da haben die Bagdader das Gefühl, es gehe aufwärts. (FAZ 22.6.04)
Es gab eine Zeit, in der galten die Weißen als Götter. (SZ 31.12.01)
Es gibt eine ganze Reihe von Verben, die haben eine Präposition bei sich (...) (Karl D. Bünting: Auf gut deutsch: 175)
Es gibt Redner, denen hilft kein Redenschreiber. Einen kenne ich, dessen Redenschreiber möchte ich nicht sein. (Werner Perger in Kursbuch 84, 1986:139)
Es gibt Leute, die werden den Verdacht nicht los, die Esel seien heimlich die wirklichen Beherrscher der Erde. (SZ 7.12.85)
Es gibt bedeutende Dichter, die haben nicht allzuviel geschrieben. (FAZ 28.7.84)
Es gibt Rentner, die haben vieles, aber ganz sicher keine Zeit. (SZ 14.1.08)
Es gibt Zeiten, zu denen ist nur eine Versorgung aus der Luft möglich. (FAS 1.8.04)
Es gibt Situationen, in denen bringt der Streit um Symbole ganze Staaten zum Erzittern. (SZ 1.3.08)
Es gibt viele Menschen in Bayern, die haben bei ihrer Wahl sehr strategisch gedacht. (SZ 28.10.08)
Es gibt Bücher, die werden hunderttausendfach verkauft, und keiner will sie gelesen haben. (FAZ 2.2.04)
Manchmal gerät man an Bücher, die sind nicht für den Sofortverbrauch bestimmt. (ZEIT 3.8.84)
„Die CDU regiert mit einem Selbstverständnis, das ist schon demokratieschädlich“, schimpft ein Genosse. (FAS 14.9.08)
Es gab eine Zeit, da sorgten sich die Deutschen um dieses neue Ding, Europas gemeinsame Währung. (SZ 20.10.09)
Es gibt Wörter in der deutschen Sprache, die sind eindeutig. (SZ 10.3.10)
Auf meinem Nachttisch haben viele Bücher gelegen, in denen waren Schilderungen von Zeitungsredaktionen zu finden. (Kurt Tucholsky, Weltbühne 19.1.32)

Kennzeichnend ist die progrediente Intonation es ersten Teils, der meistens eine Existenzaussage (bzw. "thetische" Aussage im weiteren Sinn) enthält, die aber fast keinen Mitteilungswert hat (es gab eine Zeit), sondern auf den zweiten Teil wartet (daher die Intonation und der restriktive Charakter des zweiten Teils).
Besonders wichtig ist aber, daß im zweiten Teil, der als Hauptsatz auftritt, logisch aber der Relativsatz zum ersten ist, gegebenenfalls das Demonstrativum dér stehen muß, auch wenn von Personen die Rede ist; in den Grammatiken und Stilratgebern steht ja, daß man sich damit höflicherweise nicht auf Personen beziehen soll. Ausländer setzen hier sehr oft das Personalpronomen: Ich habe einen Bruder, er ist Automechaniker - was meistens geradezu falsch ist; in diesem Fall z. B. hat der Sprecher vielleicht mehrere Brüder, will aber nur von einem sprechen.
Obwohl dieser Satztyp ungemein häufig ist, versäumen es die Grammatiken oft, auf diesen Gebrauch der Pronomina hinzuweisen. Knapp erwähnt bei Hardarik Blühdorn: Zur Struktur und Interpretation von Relativsätzen (Deutsche Sprache 35/4, 2007:287-314). Horst Sitta führt den Satz von Tucholsky ausgerechnet als Beispiel einer Satzreihe an (Praxis Deutsch 68, 1984:22)! Ähnlich bei Altmann/Hahnemann 127: Es gibt Leute, die haben noch nie einen Wal gesehen als Beispiel einer asyndetischen Satzreihe.


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