19.02.2014


Theodor Ickler

Grammatische Exerzitien 3

Das Passiv

Kurze Übersicht über die Hauptverwendungen
1.Das Passiv ist eine Diathese, bei der die Erwähnung des Agens fakultativ bleibt; es wird daher passend als „täterabgewandte Diathese“ bezeichnet. Die Funktion des Subjekts fällt einem anderen Handlungsbeteiligten zu; bei unpersönlichem Passiv fehlt das Subjekt überhaupt.
Vorgangspassiv
2.Das Passiv wird hauptsächlich durch das Hilfsverb werden und das Partizip II eines Vollverbs gebildet; alle anderen Formen des Passivs sind mehr oder weniger umstritten. Im Perfekt und Plusquamperfekt wird worden statt geworden verwendet.
Japan wurde von einer Katastrophe heimgesucht, die nicht von Menschen gemacht wurde und nicht von Menschen zu verhindern ist. (SZ 19.1.95)
Die Frau ist leicht verletzt worden.
Aber (als prädikative Konstruktion mit Adjektiv):
Die schwedische Hilfe für Vietnam ist umstritten geworden. (Tagesspiegel 11.1.79)
3.Transitive Handlungsverben bilden ein persönliches Passiv; dabei tritt das Akkusativobjekt des entsprechenden Aktivsatzes in den Nominativ:
Das Haus wird gebaut.
Die Wohnungen werden vermietet.

Unpersönlich:
Im Lesesaal wird weder gegessen noch geraucht.
4.Intransitive Handlungsverben bilden ein unpersönliches Passiv:
Es wird in der Dritten Welt heute dreimal so viel geboren wie gestorben. (Universitas 1990:356)
Am Freitag und Sonnabend wird tanzen gegangen. (Neues Deutschland 8.11.85)
5.Beim sogenannten Dativ- oder Rezipientenpassiv tritt das Dativobjekt des entsprechenden Aktivsatzes in den Nominativ; als Hilfsverb dienen kriegen, bekommen und erhalten:
Eine interessante Funktion hat das Deutsche im Laufe der letzten Jahrzehnte im Mittleren Osten zugeteilt bekommen. (Jb. DaF 10, 1984:200)
Sie erhalten den korrigierten Text an die angegebene E-Mail-Adresse gesendet. (Duden-Website 2001)
Diese Konstruktion muß allerdings nicht auf ein dativregierendes Verb zurückgeführt werden, vgl.
Der Autor freut sich, obwohl er meistens ganz schön geschimpft kriegt. (...) Der liebe Gott hat vermutlich auch ganz schön geschimpft gekriegt. (BR Kalenderblatt 18.4.2002)
Eigentlich müßten wir den Preis erhöhen, aber das kriegen wir am Markt nicht durchgesetzt. (FAZ 17.7.02)
Zustandspassiv
6.Ein Passiv kann auch mit dem Hilfsverb sein gebildet werden, wie es im mittelalterlichen Deutsch üblich war und noch im heutigen Englischen ist. Das Ergebnis ist ein Zustandspassiv („Stativ“), das allerdings formal nicht von Kopulakonstruktionen mit prädikativem Adjektiv unterschieden werden kann:
Die Geschichte der Sprachkritik ist nicht geschrieben. (Hans-Jürgen Heringer: Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen 1982:4)
Auf die Bedenken gegen diese Lehre war oben aufmerksam gemacht. (Jürgen Baumann: Strafrecht. Allg. Teil, 5. Aufl.:160)
7.Aber auch das werden-Passiv muß nicht in jedem Fall einen Vorgang, sondern kann auch einen Zustand darstellen, wenn das Verb nicht-transformativ ist:
Umgeben wird der Federkern von einem Feinpolster aus ausgewählten Polstermaterialien (www.raumausstattung.de 2003)
1989 wurde die DDR von 16.3 Millionen Menschen bewohnt. (SZ 2.7.1990)
8.Ein Zustands-Rezipientenpassiv wird mit haben gebildet. Dadurch entsteht eine Zweideutigkeit, da auch das Perfekt des Aktivs mit haben und Partizip II gebildet wird:
Wenn wir eine Sprache gegeben haben, welche wir interpretieren wollen ... (Conceptus 25, 1991:9)
Unter „face“ versteht man das positive Gesamtbild einer Person, welches diese von anderen anerkannt haben will. (Jürgen Dittmann/Claudia Schmidt (Hg.): Über Wörter. Freiburg 2002:265)
Fernpassiv
Von einem Fernpassiv oder „langen Passiv“ spricht man, wenn das übergeordnete Verb einer kohärenten Infinitivkonstruktion ins persönliche Passiv gesetzt wird:
...wenn auch diese Veröffentlichungen in einer gesonderten Untersuchung zu bewerten versucht werden müssen (Hubertus Knabe: Der diskrete Charme der DDR. Berlin, München 2001:236)
Dagegen können die folgenden Beispiele auch als verschränkte Konstruktionen mit einem vorgezogenen Akkusativobjekt gelesen werden:
Dieses Ziel muß auf verschiedenen Wegen zu erreichen versucht werden. (Wortschatzforschung heute. Berlin (1983:151)
Das wird oft vergessen zu sagen. (FAZ 9.8.02)
Eindeutig ist die Verschiebung ins persönliche Passiv bei attributivem Gebrauch:
Es wäre ein Wegfall des § 3 FLAG zu prüfen und das dort zu lösen versuchte Problem eher über Bestimmungen bezüglich Wohnsitz zu regeln. http://www.parlament.gv.at/PG/DE/XXI/ME/ME_00202_14/fname_000000.pdf
Er ersuchte seine Mutter in diesem Schreiben, seinen Vater zu veranlassen, Fräulein von Oderkranz die rückständige, von ihm zu zahlen unterlassene Vierteljahrsrate zuzusenden. (Hermann Heiberg: Charaktere und Schicksale. Berlin 1901:131)


Anmerkungen:
1.Adverbiale Akkusative (der Erstreckung oder Dauer) bleiben im Passiv erhalten:
Es wurde einen Kilometer gelaufen.
2.Ist die Strecke oder Dauer jedoch ein zu bewältigender Gegenstand, der durch ein Akkusativobjekt bezeichnet wird, kann dieses zum Subjekt werden:
Der Kilometer wurde in zwei Minuten gelaufen.
Hügel werden rauf- und runtergestolpert (NN 25.7.92)
3.Inkorporierte Objekte bleiben im Akkusativ:
Es wurde Karten gespielt. Darauf wird großen Wert gelegt.
Aber auch mit persönlichem Passiv: Darauf wird großer Wert gelegt.
4.Die Angabe des Täters kann versteckt sein, v. a. in Bezugsadjektiven: amtlich geprüft u. ä.
5.Mit dem Verb gehören läßt sich eine modal angereicherte Passivform bilden; sie drückt die Notwendigkeit aus:
Jetzt gehört alles verbrannt. (Thomas Bernhard: Watten. Frankfurt 1964:64)
6.Der modale Infinitiv mit zu hat die Bedeutung „muß oder kann getan werden“:
Der Betrag ist zu zahlen, oder die Pleite ist nicht zu verhindern.
Dazu gehört das attributiv verwendete Adjektiv (Gerundiv): der zu zahlende Betrag. (s. Partizip, modaler Infinitiv)
7.Das unpersönliche Passiv wird, wenn nichts anderes erwähnt ist, personenbezogen verstanden:
Hier wird geraucht. (Man versteht: von Menschen, nicht etwa von Schornsteinen)
In bestimmten Kontexten kommen auch nichtpersönliche Agentien in Betracht (s. Anm. 14):
Gebrütet wird etwa zweieinhalb Wochen. (Grzimeks Tierleben 8:237)
8.Anstelle von sein kann das Zustandspassiv auch mit bleiben gebildet werden, wobei aber kaum noch die Zugehörigkeit zu einem eigenen Passivparadigma erkennbar ist:
Das Auge bleibt geöffnet. (= Das Auge bleibt offen.)
9.Das Zustandspassiv kann nicht immer als Verkürzung eines Perfekts des Vorgangspassivs gedeutet werden:
Die Autobahn Kassel-Frankfurt war wegen mehrerer Unfälle vorübergehend total blockiert. (SZ 8.1.96)
10.Die Unterscheidung von Vorgang und Zustand kann aufgehoben werden:
Ich will die Haare kurz geschnitten haben/vom Chef geschnitten haben (IDS-Grammatik 1997:1852)
Hier ist haben gleichbedeutend mit bekommen. Es wird gewissermaßen das Resultat vorweggenommen, ganz deutlich auch in folgendem Beispiel:
Wir wollen das nächste Mal von der Cutterin Monika Zeindler erklärt bekommen haben, wo sie den Schnitt angesetzt hat. (SZ 24.8.87)
11. Bei
Er hatte das Gesicht von Falten durchzogen. (IDS-Grammatik 1997:1853)
muß man wohl auf Falten durchzogen sein Gesicht zurückgreifen, wenn man nicht überhaupt auf eine Herleitung verzichten und einfach eine Sekundärprädikation (mit Adjektiv als Objektsprädikativ) annehmen will. (Die Konstruktion scheint den semantischen Einschränkungen der Pertinenz zu unterliegen [Bahuvrihi-Bedingung: Körperteil oder Kleidungsstück].)
12. Je nach der Aktionsart des Verbs wird das Partizip II, das im wesentlichen einen resultative Bedeutung hat, unterschiedlich verstanden:
die eroberte Stadt (perfektives Verb  resultatives Partizip): „Stadt, die erobert worden ist“
die belagerte Stadt (imperfektives Verb zweideutiges Partizip): „Stadt, die belagert wird/ist oder belagert worden ist“
13. Ein Rezipientenpassiv kann zwar auch bei Verben vorkommen, die eigentlich kein Dativobjekt regieren, doch muß die schwankende Rektion mancher Verben berücksichtigt werden:
So kann das Kind gelehrt bekommen, daß ein Pfeifen mit den Lippen oder eine Handbewegung das Kreischen ersetzen kann. (G. Böhme: Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen. Stuttgart 1974:76)
Wie sich an demselben Werk zeigt, verwendet der Verfasser das Verb lehren, das normgerecht den doppelten Akkusativ regiert, durchaus mit dem Dativ der Person: Dem Kind wird gelehrt, im Angstzustand nicht dysphorisch zu reagieren. (ebd.:76) Auch das Verb schimpfen, das als Argument gegen das „Dativpassiv“ angeführt worden ist, kommt mit dem Dativ vor.
14. Besonders in Fachtexten ist auch ein wirklich täterfreies Passiv zu beobachten:
Mit dem Eintritt der älteren Hominiden in das offene Land erfolgte die volle Aufrichtung des Körpers lange vor der Vergrößerung des Gehirns, das nicht mehr als 300 g wog. Die Fortbewegung wurde den Beinen überlassen, die Arme wurden von dieser Aufgabe entlastet, für das Ergreifen und die Zubereitung der Nahrung freigemacht sowie für andere Formen des Handelns, besonders für den Gebrauch und die Erzeugung von Werkzeugen. In Verbindung damit wurden Mund und Gesicht von der Freßfunktion entlastet und für Ausdrucksbewegungen und schließlich für die kommunikative Funktion der Sprache verfügbar gemacht. Von dieser Erschließung neuer Aktionsgebiete für die Hand und den Mund wurde offenbar ein enormer selektiver Druck auf die Lebewesen ausgeübt, die riesige Anzahl von Möglichkeiten der Selbsterhaltung und der Vermehrung der Art zu nutzen, die in der Betätigung dieser Körperteile virtuell vorhanden waren. So erhöhte sich in der im Vergleich mit anderen evolutionären Veränderungen relativ kurzen Zeit der letzten 4 Millionen Jahre das Gehirngewicht der Hominiden auf das Vierfache. (Konrad Lorenz/Franz Wuketits [Hg.]: Die Evolution des Denkens. München 1984:173f.)
Der unpersönliche Charakter der Vorgänge wird zunächst durch ein Funktionsverb (erfolgen), am Schluß durch eine Reflexivkonstruktion (sich erhöhen) ausgedrückt; dazwischen stehen täterfreie oder mit einem Pseudoagens (Erschließung) versehene Passivformen.


Kommentar:
Die IDS-Grammatik reiht Vorgangs-, Zustands- und Rezipientenpassiv (1997:1791) als die drei Passivkonstruktionen aneinander; nach unserer Einteilung liegen verschiedene Dimensionen vor, so daß sich ein viergliedriges Schema ergibt.

Als Konversen faßt die IDS-Grammatik nur solche Passivsätze auf, denen wahrheitswertgleiche aktive Sätze gegenüberstehen, daher fällt das modale Passiv heraus (mit gehören oder modalem Infinitiv).

Laut IDS-Grammatik 1997:1806 gibt es kein Eintakt-Passiv (unpersönliches Passiv) von Verben der „belieben“-Gruppe, darunter schaden. Das trifft aber nicht zu, vgl.

Allen wurde geschadet. (www.pocket-nachrichten.at)
wie der Bewegung durch die Presse geschadet wurde (F. Engels)

„Ebenso sind einwertige haben-Verben mit personalem oder nicht-personalem LZT in einer anderen Rolle als AGENS nicht passivierbar, wie etwa abnehmen ...“ Aber hier gibt es gar nicht wenige Gegenbeispiele:
Je mehr Übergewicht vorhanden war, desto mehr wurde abgenommen. (www.vegetarismus.ch)
Die Bedenken der IDS-Grammatik (S. 1797) gegen die Passivierbarkeit von glauben, wissen, kennen u. a. sind unberechtigt (1797); es kommt allerdings wohl nur selten vor, weil es aus sachlichen Gründen nicht plausibel ist, bei glauben den Glaubenden nicht zu nennen. Diesen Gedanken könnte man bei kennen und wissen noch konsequenter anwenden. Es hat wenig Sinn, von etwas zu sagen, daß es gekannt sei, weil das eben kein Zustand eigener Art ist, kein Betroffensein.

„Koordinationen aus werden-Passiv und Kopulakonstruktionen wirken zeugmatisch.“ (IDS-Grammatik 1997:1823) Dennoch kommen sie vor:
Die Mauer wurde voller Wut besichtigt und zur Attraktion für Touristen. (Härtling, Peter: Leben lernen. Erinnerungen. Köln 2003:261)
Das zeigt nebenbei, daß die beiden Strukturen nicht allzu weit auseinanderliegen.


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