10.02.2014 Theodor Ickler Blauäugig durch die SauregurkenzeitZur Frage der ZusammenbildungenTraditionell (vgl. etwa Henzen, Altmann/Kemmerling) werden zwei Typen von Zusammenbildung unterschieden:1. Zusammenbildungen des ersten Typs sind Wörter, die aus zwei Stämmen X, Y und einem Suffix Z bestehen, wobei weder XY noch YZ allein vorkommen und daher ein zweistufiger Aufbau nicht möglich scheint: Hungerleider (hunger+leid+er) blauäugig (blau+aug+ig; das Suffix wirkt umlautend) Eine erste Erklärung sieht in Zusammenbildungen Ableitungen von Wortgruppen: Hunger leiden + er > Hungerleider blaue Augen + ig > blauäugig Die Ableitung von einer Wortgruppe wirft jedoch Probleme auf: Es ist nicht klar, welche Form diese Wortgruppe haben soll. Steht sie z. B. im Singular oder im Plural? Wie sieht sie etwa bei hochnäsig, rechtshändig aus? Es gibt kein eindeutiges Verfahren der Ableitung. Die angeblich zugrunde liegende Wortgruppe ist oft eine umfangreiche und willkürlich ausgesuchte Paraphrase, deren formale Weiterbehandlung nicht geregelt ist (Nurflügler = Flugzeug, das nur aus einem Flügel/aus Flügeln besteht). Dürfen Bestandteile der Wortgruppe wie z. B. Präpositionen und andere Formwörter weggelassen werden? (rechtsrheinisch < rechts des Rheins, rechts vom Rhein? Vgl. Grablegung, Kreuzabnahme, Vielweiberei, fußfrei, inhaftieren) Oft stellt sich heraus, daß angeblich nicht existente Bestandteile doch irgendwo belegt sind (wie bei Leider). Von solchen lexikologischen Zufällen sollte der Wortbildungstyp nicht abhängig gemacht werden. Eine zweite Erklärung sieht vor, daß als Zwischenstufe Ableitungen (YZ) gebildet und dann auf dem üblichen Weg zu Determinativkomposita erweitert werden: Hunger leiden > Leider + Hunger > Hunger+leider blaue Augen > äugig + blau > blauäugig Die Zwischenstufen sind gleichsam virtuelle Wörter, regelhaft gebildet, aber bisher nicht genutzt, weil die Wortbildungsmotivation fehlte, die sich erst bei Gelegenheit der Zusammenbildung einstellt. 2. Der zweite Typ von Zusammenbildungen sind Zusammensetzungen aus wenigstens drei Gliedern ABC, bei denen weder AB noch BC selbst Komposita sind: Sauregurkenzeit, Dreizimmerwohnung Der Bau wird durchsichtiger, wenn man solche Wörter, wie es z. T. tatsächlich vorkommt, mit Bindestrichen durchkuppelt: Saure-Gurken-Zeit, Schwarze(r)-Peter-Spiel. So bleibt der Wortgruppencharakter der ersten Hälfte (als Zusammenrückung) erhalten. Um den Eindruck von Binnenflexion ebenso zu vermeiden wie die Gefahr schiefer Attribute (saure Gurkenzeit, schwarzes Peterspiel), kann man das Adjektiv auch unflektiert lassen: Altweibersommer, Liebfrauenkirche Anmerkungen: Zusammenbildungen nehmen teilweise die Aufgabe der Possessivkomposita wahr, sind aber im Gegensatz zu diesen endozentrisch: Dickhäuter (endozentrisch) = Dickhaut (wie Rothaut, exozentrisch), Tausendfüßler = Tausendfuß, rotäugig = Rotauge. Die semantischen Beschränkungen der Possessivkomposita (Körperteile, Kleidungsstücke) gelten nicht: auf den Seiten kleinauflagiger Zeitungen (FAS 16.1.05). Andere Zusammenbildungen lassen sich als Determinativkomposita vom Untertyp der Rektionskomposita deuten (Hungerleider, Stellungnahme) (s. Rektionskomposita). Die Wortbildungslehre läßt sich auch bei den Zusammenbildungen zu sehr von der Orthographie leiten, wenn sie etwa sagt: „Diachron ist fest stellen ein Syntagma, Feststellung damit eine Zusammenbildung; synchron ist feststellen dagegen ein Verb und Feststellung ein Derivat.“ In Wirklichkeit ändert sich durch die Zusammenschreibung grammatisch nichts, das „trennbare Verb“ bleibt ein Syntagma (s. Grammatica ancilla orthographiae).
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