08.12.2013 Theodor Ickler Die syntaktische RuhelageEin Weg zur Vereinfachung der SpracheIn seiner Regierungserklärung zur Rechtschreibreform glaubte Zehetmair die Reformbedürftigkeit der deutschen Orthographie auch mit folgendem Beispiel belegen zu können:Die Sätze „Setzen Sie sich dort drüben hin, und verhalten Sie sich ganz ruhig!“ werden durch ein Komma getrennt, die Sätze „Seien Sie bitte so nett und geben Sie mir das Buch!“ aber nicht. Wie haben uns schon damals gewundert, daß der Philologe Zehetmair den Unterschied zwischen den beiden Sätzen nicht zu erkennen oder für zu subtil zu halten schien. Er hatte auch keinen sprachpflegerischen Einwand gegen die Koordination anstelle der Subordination. (In englischen Ratgebern liest man oft solche Bemerkungen: Although “try and” is common in colloquial speech and will usually pass unremarked there, in writing try to remember to use “try to” instead of “try and.”) Es geht um eine Erscheinung, die Otto Behaghel in einem berühmten Aufsatz "Die Herstellung der syntaktischen Ruhelage im Deutschen" nannte (Indogermanische Forschungen 14/1903:438–459). Ich gebe ein paar Bebachtungen wieder, ohne mich hier an Behaghel zu halten: Nicht nur im Deutschen läßt sich die Neigung beobachten, komplexe und grammatisch aufwendige Konstruktionen zugunsten einfacherer aufzugeben. Abhängige Sätze gehen in unabhängige über (Parataxe statt Hypotaxe), indirekte Rede in direkte, Konjunktive in Indikative. Sei so gut und gib mir den Mantel! Hier ist die Koordination eigentlich unlogisch, gefordert wäre die Hypotaxe: mir den Mantel zu geben. Die Rechtschreibung berücksichtigt die weiterhin bestehende inhaltliche Abhängigkeit, indem sie zwischen den Teilsätzen kein Komma vorsieht. Viel hätte nicht gefehlt, und einige wären sich an die Gurgel gegangen. (SZ 12.4.11) Die Temporalangabe im Vorfeld gilt inhaltlich auch für den zweiten Teilsatz, aber dessen Vorfeld wird aufs neue gefüllt: Manchmal kommt man von einer Reise nach Hause und das Telefon ist blockiert. (SZ 11.6.04) Der Nebensatz mit Verbletztstellung geht in den Hauptsatz mit Verbzweitstellung über: Woher wissen Sie, daß manche Dinge ungenau sind und andere sind genau? (Hans Jürgen Heringer: Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen 1982:170) (statt: und andere genau sind) Wenn ein Lehrer mit ansieht, wie ein Schüler von seinen Kameraden verhauen wird, und greift nicht ein, sinkt er in der Achtung der Kinder. (Karin Neuschütz: Lieber spielen als fernsehen. Stuttgart 1984:21) Wie kann es sein, dass ein junger Mann Geschäfte abwickeln kann, die das gesamte Weltfinanzsystem in die Luft jagen könnten, und keiner in der Bank merkt etwas? (SZ 24.1.11) Dasselbe beim uneingeleiteten Nebensatz: Gehe ich hinab auf die Straße und man erkennt mich als Preußen, so wird mir das Gehirn eingeschlagen. (Heine) (statt: und erkennt man mich als Preußen) Gehen gleichrangige Adjektive eine Verbindung ein und der erste Bestandteil ist eine Ableitung auf -ig, -isch oder -lich, so sollte man zur Verdeutlichung den Bindestrich setzen. (Wahrig: Fehlerfreies und gutes Deutsch. Gütersloh 2003, S. 60) Der relativische Anschluß eröffnet manchmal keine Möglichkeit, den Nebensatz innerhalb derselben Konstruktion unterzubringen: Es gibt keinen Knopf, den man drücken könnte, und der Rechtsextremismus wäre verschwunden. (SZ 28.8.07) Anstelle eines Konditionalsatzes steht eine Koordination: Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. (Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede PH Bern 2005) Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden. (Anna Wimschneider: Herbstmilch. München 1985:152) Ersetzung eines Temporalsatzes: Über die Notwendigkeit der neuen S-Bahn-Linie wurde schon diskutiert, da gab es die Münchner Olympiapläne noch gar nicht. (SZ 6.5.11) Es gibt noch viele weitere Verfahren der Vereinfachung. Zum Beispiel verdrängt das Präsens ein Vergangenheitstempus: Die Sozialdemokraten spürten, daß sie sowohl politisch als auch personell große Gräben würden überwinden müssen, bevor sie wieder Anschluß finden an die langfristigen Trends in den Wählerbewegungen. (SZ 18.9.85:4)
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