31.10.2013


Theodor Ickler

Das „bilaterale Zeichen“

Bemerkungen über Saussures schweres Erbe

Es gibt kaum eine Einführung in die Sprachwissenschaft, die nicht zu Beginn unter Berufung auf Ferdinand de Saussure den „bilateralen Zeichenbegriff“ als semiotische Grundlage vorstellte. (Die kleine sprachliche Härte – statt „Begriff des bilateralen Zeichens“ – ist wohl hinnehmbar.)
Dieser Begriff und die damit verbundene Lehre sollen hier kritisch betrachtet werden. Dabei geht es nicht um die wissenschaftsgeschichtliche Frage, was Saussure wirklich gesagt und gemeint hat (Saussure-Exegese ist eine Wissenschaft für sich), sondern um die heute weithin herrschenden Ansichten und Redeweisen; sie stützen sich auf die postume Kompilation der Vorlesungsnachschriften, im Deutschen in der Übersetzung Hermann Lommels.
Ich skizziere vorweg den Zeichenbegriff einer naturalistischen Zeichen- und Sprachtheorie.
Zeichenmodelle versuchen der Tatsache gerecht zu werden, daß ein Zeichen sich nicht in seiner physischen Beschaffenheit erschöpft, sondern etwas bedeutet oder bezeichnet oder auf etwas anderes verweist. Aus naturalistischer Sicht erklärt sich diese Tatsache als Folge der Zeichenentstehung. Ein morphologisches Merkmal oder ein Verhalten eines Lebewesens löst bei einem anderen Lebewesen - das nicht derselben Art angehören muß - ein Verhalten aus, das sich arterhaltend auf ersteres auswirkt. Wenn die Bienen „lernen“, daß bestimmte Blütenformen und -gerüche auf Nektar hinführen, geraten die Blüten, deren Bestäubung dadurch wahrscheinlicher wird, unter Selektionsdruck (wie man mit einer harmlosen Metapher sagt). Sie werden prägnanter, auffälliger, unverwechselbarer. Handelt es sich um das Verhalten, so spricht man von „Ritualisierung“.
Auch in der ontogenetischen, lerngeschichtlichen Dimension können Zeichen durch solche „empfangsseitige Semantisierung“ (Wolfgang Wickler) entstehen. An die Stelle der natürlichen Selektion tritt die Konditionierung. Eine Taube lernt in kurzer Zeit, daß sie durch Picken auf eine Scheibe zu Futter gelangen kann. Die Scheibe bekommt einen Signalwert, den sie zuvor nicht hatte, hört aber deshalb nicht auf, ein Reiz wie jeder andere zu sein. Die Reaktion kann von weiteren diskriminierenden Reizen abhängig gemacht werden. Der etwas andersartige Ablauf beim klassischen (Pawlowschen) Konditionieren ist bekannt. Skinners „Verbal Behavior“ stellt die Entwicklung des Sprachverhaltens nach diesem Muster dar. Wenn wir aus Gründen der Vereinfachung zunächst von schriftlichen Texten und anderen Hinterlassenschaften absehen, sind sprachliche Zeichen Verhaltensabschnitte, denen durch die Reaktion eines Partners eine bestimmte Funktion zugewachsen ist. Skinner faßt zusammen:
„Meaning or content is not a current property of a speaker's behavior. It is a surrogate of the history of reinforcement which has led to the occurrence of that behavior, and that history is physical.“ (B. F. Skinner in A. Charles Catania/Stevan R. Harnad (Hg.): The selection of behavior. The operant behaviorism of B. F. Skinner: Comments and consequences. Cambridge u.a. 1988:238)
Die phänomenologische Sicht der traditionellen Semiotik, zu der sich auch Saussure rechnen läßt, verzichtet auf diesen „genetischen“ oder „historischen“ Aspekt, versucht die Bedeutung als gegenwärtige Eigenschaft des Zeichens zu begreifen und steht daher vor der „Bedeutung“ der Zeichen als einem Rätsel, dem „Wunder des Bedeutens“ (Hans Lenk: Von Deutungen zu Wertungen. Frankfurt 1994:40). Der bilaterale Zeichenbegriff ist ein Versuch, dieses Rätsel zu lösen. Nach Saussure besteht das sprachliche Zeichen aus zwei Komponenten, einer Lautvorstellung (dem Bezeichnenden, signifiant) und einer Gegenstandsvorstellung (dem Bezeichneten, signifié), die – als Vorstellungen – beide psychischer Natur sind. Mit seinen eigenen Worten:
„Wir haben beim Kreislauf des Sprechens gesehen, daß die im sprachlichen Zeichen enthaltenen Bestandteile alle beide psychisch sind, und daß sie in unserem Gehirn durch das Band der Assoziation verknüpft sind. (...) Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.“ (Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967:77)
„Stellen wir uns vor, daß eine gegebene Vorstellung im Gehirn ein Lautbild auslöst: das ist ein durchaus psychischer Vorgang, dem seinerseits ein physiologischer Prozeß folgt: das Gehirn übermittelt den Sprechorganen einen Impuls, der dem Lautbild entspricht“ usw. (ebd. 14)
(Zwischenbemerkung: Manche sprechen auch von „trilateralen“ Zeichenmodellen, etwa bei Peirce, Ogden/Richards oder Morris – die aber auch für ein „monolaterales“ Modell in Anspruch genommen werden – und Bühler, schließlich von „monolateralen“ wie dem behavioristischen Skinners, aber das ist wenig sinnvoll und soll hier nicht weiter berücksichtigt werden.)
Wie man sieht, bewegt sich Saussure innerhalb einer Psychologie, wie sie damals allgemein üblich war („Band der Assoziation“), und ersetzt auch das Psychische umstandslos durch das „Gehirn“. Diese psychologische oder gar neurologische Deutung des bilateralen Zeichens ist aber nicht zwingend mit der Zweiseitigkeit verbunden, und nicht alle Nachfolger sind Saussure in diesem Punkt gefolgt. Louis Hjelmslev zum Beispiel, der die verbreitete Terminologie von Ausdrucks- und Inhaltsseite eingeführt hat, enthält sich psychologischer Spekulationen.
Die Formulierungen des bilateralen Modells wechseln gerade in dieser Hinsicht. Manche kommen – jedenfalls stellenweise – ohne psychologisches Vokabular aus:
„(...) the link between sound and meaning that language provides“ (Wallace Chafe: Meaning and the Structure of Language. Chicago 1970:3)
„Sprache als System, das Ausdrücke und Inhalte einander zuordnet“ (Edda Weigand: Die Zuordnung von Ausdruck und Inhalt bei den grammatischen Kategorien des Deutschen. Tübingen 1978:1)
„It is generally assumed by linguists that the function of a grammar is to link meaning with sound.“ (Renate Bartsch/Theo Vennemann: Semantic structures: a study in the relation between semantics and syntax. Frankfurt 1972:3)
„(...) daß die Grammatik das System der Zuordnungen zwischen Lauten und Bedeutungen modelliert, daß die Grammatik (ebenso wie die Lexik) Form und Bedeutung, Ausdrucks- und Inhaltsebene miteinander verbindet.“ (Gerhard Helbig: Studien zur deutschen Syntax I. Leipzig 1983:9)
„Eine Sprache beschreiben heißt, eine Grammatik angeben, die in der Syntax die wohlgeformten Ausdrücke dieser Sprache definiert und in der Semantik diesen Ausdrücken bestimmte Entitäten, genannt Bedeutungen, zuordnet.“ (Dietmar Zaefferer in Grewendorf (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt 1979:387)
„Jedes Wort hat eine Formseite und eine Inhaltsseite (Bedeutung). (...) Die Grammatik legt dar, welchen Regularitäten der Bau der Formen und der Bau der Bedeutungen folgt.“ (Dudengrammatik 2005:19)
„Seit geraumer Zeit ist es allgemein gültiges Wissen, dass Sprachzeichen aus zwei Hauptkomponenten bestehen: aus einer Laut- und einer Bedeutungsseite.“ (Christine Römer: Morphologie der deutschen Sprache. Tübingen 2006:3)
„Durch ein Zeichen wird eine Form mit einer Bedeutung, oder anders gesagt: eine Bedeutung mit einer bestimmten Form in Beziehung gesetzt.“ (Ralf Pörings/Ulrich Schmitz [Hg.]: Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung. 2. Aufl. Tübingen 2003:2)
„Die Sprache ist ein Zeichensystem, d. h. ein symbolisches System, in dem Formen und Bedeutungen sowohl auf lexikalischer Ebene als auch auf der Ebene grammatischer Konstruktionen konventionell gepaart sind.“ (Deutsche Gesellschaft für Kognitive Linguistik)
„Sprache ist eine Verbindung von Form und Inhalt.“ (Wolfgang Meid: Germanische Sprachwissenschaft III: Wortbildungslehre. Berlin 1967:9)
„Approaches to language in the Cognitive Linguistics tradition take linguistic units to be pairings between form and meaning (e.g. Langacker 1991).“ (http://www1.icsi.berkeley.edu/ ~nchang/research/pubs/MaiaChang01.pdf)
„Eine menschliche Sprache ist ein Zeichensystem, bei dem - etwas vereinfacht gesagt - Schall mit Bedeutung verknüpft wird.“ (Henning Wode: Psycholinguistik. Eine Einführung in die Lehr- und Lernbarkeit von Sprachen. München 1993:36)

Andere übernehmen die psychologische Deutung:
„Das Sprachsystem kann seine gesellschaftlich-kommunikative Funktion nur erfüllen, wenn es sich darstellt als System von Zuordnungen zwischen Bewußtseinsinhalten und materiellen Signalen.“ (Gerhard Helbig: Sprachwissenschaft – Konfrontation – Fremdsprachenunterricht. Leipzig 1981:83)
„Die Verwendung von Sprache in der Kommunikation erfordert sowohl auf der Seite des Sprechers als auch auf der Seite des Hörers die Zuordnung einer Menge von Ausdrucksstrukturen zu einer Menge von Inhalts- oder Bedeutungsstrukturen.“ (Thomas Kotschi: Probleme der Beschreibung lexikalischer Strukturen. Tübingen 1974:1)
„In the minimal case, a word is an arbitrary association of a chunk of phonology and a chunk of conceptual structure, stored in speakers’ long-term memory (the lexicon).” (Steven Pinker/Ray Jackendoff: „The Faculty of Language: What’s Special about it?“ Cognition 95, 2005:201-36.)
„Die Grundstruktur des lexikalischen Wissens besteht (...) in einer Zuordnung zwischen zwei Mengen: der Menge von Wortformen (dem physikalischen Aspekt der Wörter) und der Menge von Wortbedeutungen.“ (George A. Miller: Wörter. Heidelberg 1993:33)
„Ein sprachlicher Ausdruck ist eine Verbindung eines Ausdrucksträgers und einer Bedeutung, die einander konventionell zugeordnet sind.“ (...) „Grundsätzlich ist eine solche Bedeutung (...) immer eine abstrakte Entität, die irgendwo im Gehirn gespeichert ist, die sich auf Dinge der Außenwelt beziehen kann, aber nicht muss, und die sich mit bestimmten Methoden beschreiben lässt.“ (Angelika Becker/Wolfgang Klein: Recht verstehen. Berlin 2008:8)

In einigen Theorien wird das Modell als Beschreibung des Erzeugens und Verstehens von Sprache durch den Sprecher oder Hörer gedeutet:
„Language enables a speaker to transform configurations of ideas into configurations of sounds.“ (Wallace Chafe: Meaning and the Structure of Language. Chicago 1970:3)
„The act of speaking consists of a chain of events which links physiological and logical operations.“ (Frieda Goldman-Eisler: Psycholinguistics. Experiments in spontaneous speech. New York 1968:6)
„A speaker’s ability to use a language requires a systematic mapping between an unlimited number of thoughts or meanings and an unlimited number of sound sequences (or, in the case of signed languages, gesture sequences).“ (Ray Jackendoff: What is the human language faculty? Two views)
„Was tut ein sprachfähiger mensch, der seine sprache benutzt? Er setzt bedeutungen zum zweck der kommunikation - mit anderen oder mit sich selbst - in laut oder schrift um.“ (Theo Vennemann: „Warum gibt es syntax?“. ZGL 1/1973:257-283; S. 257)
Die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt wird teilweise als Übersetzung oder als Transformation gedeutet:
„A language is a system for translating meanings into signals.“ (James R. Hurford: The Origins of Meaning. Oxford 2007:3)
„(...) that sound and meaning are related transformationally“ (George A. Miller/Philip N. Johnson-Laird: Language and perception. Cambridge 1976:186)
Solche Unterschiede zwischen den verschiedenen Darstellungen sind aber wohl nicht besonders ernst zu nehmen, da es sich meistens nur um undurchdachte Variationen des Wortlauts handelt.

1. Begriffliche Schwierigkeiten

Das Verständnis scheitert oft schon an der Unklarheit der Ausdrucksweise. In einem vielbenutzten Fachlexikon heißt es:
„Jedes Zeichen besteht aus der Zuordnung von zwei Aspekten, dem materiellen (lautlich oder graphisch realisierten) Zeichen-Körper (= Bezeichnendes) sowie einem begrifflichen Konzept (= Bezeichnetes)“ (Bußmann)
Diese „Zuordnung“ ist aber nicht wahrnehmbar. Und wieso sind Körper und Konzepte „Aspekte“? Konzept heißt Begriff, ein begriffliches Konzept wäre also ein begrifflicher Begriff.
Damit Form und Bedeutung einander zugeordnet werden können, müßten sie zunächst unabhängig voneinander existieren. „Form“ und „Bedeutung“ sind aber relationale Begriffe, Form ist immer Form von etwas, Bedeutung immer Bedeutung von etwas. Dieses Problem wird kaum erkannt, erst recht nicht gelöst.
Die Rede von der „Inhaltsseite“ ist außerdem eine Kontamination zweier Metaphern: Das Zeichen könnte ein Gegenstand mit Vorder- und Rückseite sein oder aber aus Verpackung und Inhalt bestehen. Das macht das Verständnis nicht einfacher.
Nicht nachvollziehbar sind Aussagen wie die von Goldman-Eisler: „The act of speaking consists of a chain of events which links physiological and logical operations.“ Es gibt ja nicht physiologische und logische Operationen, die man miteinander verbinden könnte, sondern das Logische ist eine bestimmte Funktion des Physiologischen.

2. Immanentismus

Wenn die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem innerhalb des Zeichens verbleibt, wie kann man dann mit einem solchen selbstgenügsamen „Zeichen“ noch etwas anderes bezeichnen, das außerhalb seiner selbst liegt? Für dieses herkömmlicherweise einfach so genannte Bezeichnen müßte ein anderer Begriff erfunden werden. Das wird meist gar nicht erörtert.

3. Psychologismus

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte ein Psychologismus, der in naiver Weise von „Vorstellungen“, deren „assoziativer“ Verknüpfung usw. redete und alsbald den Behaviorismus hervorriefe, dem solche Scheinerklärungen nicht genügten. Voll ausgebildet sehen wir den Psychologismus etwa bei Hermann Paul; als Beispiel sei seine Definition des Satzes erwähnt: „Der Satz ist der sprachliche Ausdruck, das Symbol dafür, dass sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden vollzogen hat, und das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in der Seele des Hörenden zu erzeugen.“ (Prinzipien § 85)

Saussures Psychologisierung des Zeichens geht über den eher harmlosen zeitgenössischen Psychologismus hinaus, gerade weil Saussure die unerhörte Behauptung aufstellt, seine Vorgänger und Zeitgenossen hätten den eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft, die Sprache und die Natur des Zeichens, bisher nicht erkannt. Ogden und Richards wenden ein:
Unfortunately this theory of signs, by neglecting entirely the things for which signs stand, was from the beginning cut off from any contact with scientific methods of verification. (Charles K. Ogden/Ivor A. Richards: The meaning of meaning. London 1953:6)
Das Psychische, Mentale, Seelische, der Geist – das sind allzu vertraute bildungssprachliche Bezeichnungen für ein Niemandsland, das sich einer wissenschaftlichen Objektivierung entzieht. Aus einer vielgelesenen Einführung in die Semantik lernen die Studenten:
„Die Sprache ist (...) rein psychischer Natur: sie setzt sich aus Eindrücken von Lauten, Wörtern und grammatischen Merkmalen zusammen, die wir im Gedächtnis gespeichert dauernd zur Verfügung haben.“ (Stephen Ullmann: Einführung in die Semantik, Frankfurt 1982:27)
Woher Sprachwissenschaftler das wissen, wäre auch noch zu fragen.

Der nächstliegende Einwand gegen einen Zeichenbegriff, der die beiden Seiten oder Komponenten des Zeichens vollständig ins Psychische verlegt, ist: Wie kann ein solches – in einem radikalen Sinn „privates“ - Gebilde noch zur Kommunikation zwischen Menschen benutzt werden? Hier wiederholt sich das Bedenken gegen den Immanentismus. Rein sprachlich fängt Saussure diesen Einwand auf, indem er das sprachliche Zeichen als gesellschaftlich (fait social) bezeichnet, aber wie das mit dem innerpsychischen Charakter zusammenpaßt, bleibt unklar – darauf weisen u. a. Gauger und Fehr hin.
Sieht man einfach hin, wie die Theoretiker verfahren, so erkennt man in vielen Fällen, daß die „Bedeutungen“ in Wirklichkeit wiederum Ausdrücke sind, Synonyme, Paraphrasen oder Definitionen der Wortformen, deren Bedeutungen sie sein sollen. Vorbild ist das Wörterbuch. Das wird gelegentlich auch offen ausgesprochen:
„Offensichtlich enthält das mentale Lexikon einen Speicher für Wortbedeutungen und einen Speicher für Wortformen.“ (Jürgen Dittmann/Claudia Schmidt (Hg.): Über Wörter. Freiburg 2002:286)
„Dass das Lexikon der Wortbedeutungen eine alphabetische Struktur haben könnte, erscheint schon heuristisch unplausibel.“ (Ebd. 290) Dann führt der Verfasser an, daß bedeutungsähnliche Wörter nicht alphabetisch aufeinander folgen müssen. Aber Bedeutungen haben keinen Anfangsbuchstaben, können also schon aus begrifflichen Gründen nicht alphabetisch geordnet werden. Das ist nicht heuristisch unplausibel, sondern begrifflich unmöglich. In Wirklichkeit ist wohl an Synonyme gedacht, also Ausrücke einer zweiten Sprache (Metasprache?).
Hierher gehört es, daß die naive Alltagspsychologie das sogenannte „Denken“, dessen Ausdruck die Sprache sein soll, seinerseits als ein Sprechen konzipiert. Das zeigt sich darin, daß das Denken in wörtlicher (oder auch in indirekter Rede) zitiert werden kann, also offenbar einen Wortlaut hat:
„Unter direkter Rede verstehe ich die Erscheinung, daß die Rede, der Gedanke eines Menschen genau in der Form und in dem Sinn wiedergegeben wird, wie er sie selbst ausspricht oder denkt.“ (Otto Behaghel: Deutsche Syntax III. Heidelberg 1928:695)
„Von Redewiedergabe spricht man dann, wenn in einem Sprachspiel ein anderes Sprachspiel als Referenz eingeblendet ist. 'Rede' wird dabei im weitesten Sinne des Wortes verstanden und umfaßt nicht nur lautsprachliche Äußerungen, sondern auch Bewußtseinsinhalte aller Art.“ (Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim 1993: 895)
Daher:
„Wenn nur schon alles vorüber wäre“, dachte Petra. (Beispiel für Anführungszeichen nach Duden 1991, R. 10: „Anführungszeichen stehen vor und hinter einer wörtlich wiedergegebenen Äußerung (direkten Rede). (...) Dies gilt auch für wörtlich wiedergegebene Gedanken.“ [!] Vgl. Neuregelung der deutschen Rechtschreibung § 89: „Das war also Paris!“, dachte Frank.)
Nur diese Auffassung des Denkens als innere Rede erlaubt es, von „Übersetzung“ zu sprechen:
„Wenden wir uns nun dem Vorgang der Übersetzung gedanklicher in sprachliche Inhalte zu.“ (Hans-Georg Bosshardt: „Morpho-syntaktische Planungs- und Kodierprozesse“, in: Theo Herrmann/Joachim Grabowski, Hg.: Sprachproduktion. Göttingen 2003:449-482, hier 458)
Eine vielbenutzte Einführung in die Linguistik versteigt sich gar zu folgender Behauptung:
„Da auf die menschliche Sprechtätigkeit und Sprechfähigkeit zutrifft, daß sie in ihrem Ablauf nicht beobachtbar sind ...“ (Heidrun Pelz: Linguistik. Eine Einführung. Hamburg 1996:43)
Hier ist alles, sogar die „Sprechtätigkeit“, ins Psychische verlegt, in letzter Konsequenz der Saussureschen Überlieferung.

4. Sprachproduktionsmodell

Aus einigen Zitaten geht hervor, daß das Zeichenmodell auch als Modell der Aktualgenese des Sprechens gedeutet wird: Die „Zuordnung“ von Form und Inhalt soll etwas sein, was der Sprecher bzw. sein Gehirn oder Geist im Augenblick des Sprechens tatsächlich vornimmt. Er sucht aus zwei Speichern etwas zusammen und verbindet es miteinander. Verifizierbar ist ein solches Konstrukt nicht; man weiß gar nicht, wonach man suchen sollte. Konstrukte erweisen sich als mehr oder weniger nützlich; die nützlichen erklären etwas, aber was ist mit der Annahme einer Zuordnung von Form und Inhalt erklärt, was nicht ohne eine solche Fiktion einfacher erklärt werden könnte?
Eine gewisse Plausibilität gewinnt das Modell wohl durch die alltägliche Erfahrung, daß einem etwas „auf der Zunge liegt“: Man weiß, was man sagen will. Was in solchen Fällen eigentlich vorgeht, ist nicht besonders klar. Aus naturalistischer Sicht ist ein Verhalten in Gang gekommen, wird aber gehemmt, weil die steuernden Faktoren nicht ausreichen, um es zu Ende zu führen.

5. Sprachverstehensmodell

Beim Verstehen soll der Produktionsvorgang umgekehrt ablaufen:
„Jeder Hörer muß unbewußt eine komplexe syntaktische Analyse machen, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen, d.h. er muß Lautketten zu Gruppen ordnen und diese mit semantischen Strukturen in Verbindung bringen.“ (Gaston van der Elst: Syntaktische Analyse. 5. Aufl. Erlangen 1994:9)
Sowohl Produktion wie Rezeption von Rede wird nach dem Muster des „kleinen Linguisten im Kopf“ erklärt. Tatsächlich sind viele dieser „kognitivistischen“ Ansichten einem Homunkulusmodell verpflichtet und unterliegen der entsprechenden Kritik an solchen Modellen. Homunkulusmodelle erklären Verhalten als Handeln, kehren also die naturalistische Perspektive um.

Den Homunkulus-Fehlschluß erklärt Geert Keil als „die Praxis, Prädikate, die wörtlich nur auf ganze Personen anwendbar sind, auf Teile von Personen oder auf physische Prozesse innerhalb unseres Körpers anzuwenden. Vorgänge im menschlichen Gehirn werden mit psychologischen Verben beschrieben, was nicht nur nichts erklärt, sondern (...) eine Menge von Begriffsverwirrungen und Pseudoproblemen nach sich zieht.“ (Geert Keil: Kritik des Naturalismus. Berlin, New York 1993:166; dieselbe Kritik läßt sich aber schon bei Skinner lesen!)

6. Gedankensprache?

„... there must be stages in production, during which concepts are 'translated' into structured speech." (Virginia Valian: „Talk, talk, talk. A selective critical review of theories of speech production“. In: Roy O. Freedle (Hg.): Discourse production and comprehension. Norwood 1977:107-139; S. 108)
Wie man etwas, was selbst nicht sprachlich ist, „übersetzen“ könnte, bleibt unklar. Manche ziehen daraus die Konsequenz, auch das „Begriffliche“ oder die „kognitiven Zustände“, die der eigentlichen Versprachlichung vorausgehen, als sprachlich aufzufassen, nämlich als Formulierungen in einer mentalen oder Gedankensprache (Mentalesisch, Language of thought). Das Problem des infiniten Regresses wird kaum gesehen: Für die Gedankensprache stellt sich ja wiederum die Aufgabe, das Zusammenspiel von Form und Inhalt zu erklären usw.
„The approach advocated here is similar to that taken by Fodor, Bever and Garrett (1974) and Garrett (1975). They view speech production as a translation process, in which a message in a mental computational 'language' is translated into speech (...)“ (ebd. 137)
„Knowing a language then is knowing how to translate mentalese into strings of words and vice versa. People without language would still have mentalese, and babies and non-human animals presumably have simpler dialects. Indeed if babies did not have a mentalese, to translate to and from English, it is not clear how learning English could take place, or even what learning English would mean.“ (Steven Pinker: The language instinct. New York 1994:82)
Auch das „Transformieren“ ist ein Übersetzen:
„(The present book) will consider the speaker as a highly complex information processor who can, in some still rather mysterious way, transform intentions, thoughts, feelings into fluently articulated speech.“ (Willem Levelt: Speaking. Cambridge (Mass.)/London 1989:1)

Bekanntester Vertreter der „Language-of-thought“-Hypothese ist Jerry Fodor, andere sind van Dijk/Kintsch, Pinker, Beckermann. Dazu gibt es eine ausgedehnte Diskussion, die erstaunlicherweise auch heute noch geführt wird, obwohl nicht nur Behavioristen, sondern auch andere Autoren wie Charles Osgood, Daniel Dennett, Peter Hacker, Geoffrey Sampson, Larry Hauser, William H. Calvin, Gerald Edelman u. a. durchschlagende Kritik daran geübt haben. Es fällt schwer, die Theorie ernst zu nehmen. Sprachen sind ja durch und durch historisch gewachsene und überlieferte Verhaltensweisen – wie sollten sie denn ins Gehirn oder gar ins Genom gelangen? Wer spricht da mit wem? Auch Hacker betont, daß Sprachen, wie wir sie kennen, normgesteuerte soziale Verhaltensweisen sind. Er erklärt Fodors Thesen daher für unverständlich. (Peter Hacker: „Languages, Minds and Brains“. In: Colin Blakemore/ Susan Greenfield, Susan (Hg.): Mindwaves. Thoughts on Intelligence, Identity and Consciousness. Oxford 1987:485-505.)
Was wird aus dem bilateralen Zeichen? Die Gedankensprache wäre ja wiederum aus Zeichen aufgebaut, deren Inhaltsseite dieselbe Erklärungsbedürftigkeit aufwiese wie die der wahrnehmbaren Zeichen. Die Annahme einer Gedankensprache kann die Sprachproduktion nicht erklären, weil sie das Problem nur eine Stufe weiterschiebt: von der hörbaren Sprache zu einer unhörbaren, deren Entstehung daher noch unklarer ist als die der hörbaren. Aber auch dieses Problem des infiniten Regresses wird kaum gesehen.


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