04.09.2013


Theodor Ickler

Denkzettel

Semiotischer Imperialismus

Feinsinnige Unterscheidung zwischen Massenvernichtungswaffen

„Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Menschen durch Giftgas getötet werden oder durch konventionelle Waffen. Giftgas ist ein Massenvernichtungsmittel. Sicher, auch Bomben und Geschosse töten massenweise Menschen. Das geschieht gerade in Syrien. Doch sie sind nicht als Massenvernichtungsmittel konzipiert worden. Giftgas allerdings schon. Dieses Kampfmittel ist dazu entwickelt worden, alles Menschliche auszulöschen, egal ob es Soldaten oder Zivilisten sind. Es ist ein Instrument des Terrors. Der Einsatz von Giftgas ist aus gutem Grunde durch eine Reihe von internationalen Abkommen verboten. (...) Vor allem aber verletzt der Einsatz von Giftgas einen symbolischen Raum. Wer es in welchem Konflikt auch immer gebraucht, behandelt Menschen wie Ungeziefer. Wer es einsetzt, hat den Gipfel der Unmenschlichkeit erreicht.“ (Ulrich Ladurner ZEIT 3.9.13)
Es ist auch davon die Rede, daß die USA dem syrischen Präsidenten einen „Denkzettel“ verpassen wollen, ohne ihn aus dem Amt zu bomben. Die Franzosen wollen „Syrien bestrafen“. Alles wegen des Giftgaseinsatzes (der nach wie vor nicht eindeutig als Assads Tat nachgewiesen ist).
Viele Leser der ZEIT protestieren gegen die Argumentation, erinnern an Napalm, Dresden usw.
Ein Denkzettel ist ein Kommunikationsmittel. Darauf weist auch die These von der Verletzung des „symbolischen Raums“ hin. Folglich sind Sprachwissenschaftler gefragt. In der Tat kennen wir uns mit dem „semiotischen Imperialismus“ einigermaßen aus. Da schlechterdings alles über seine physische Wirksamkeit hinaus auch als „bedeutsam“ in irgend einer Hinsicht angesehen werden kann, liegt es nahe, eine semiotische Betrachtungsweise darauf anzuwenden. Besonders die vom Menschen hergestellten Dinge und von ihm gestalteten Prozesse erschöpfen sich selten in einer physischen Funktionalität, sondern sind von Hause aus auch als „Botschaften“ zu verstehen. Daß sie überhaupt vorkommen und wie sie im einzelnen beschaffen sind, läßt deutende Schlüsse zu. Man erkennt schließlich außer Zeichen überhaupt keine Wirklichkeit mehr an. Das zeichnet sich schon bei Peirce ab. Ludwig von Bertalanffy schließt an seine bekannte These von der Bedeutung „symbolischer Aktivitäten“ als Merkmal des Menschen die überspitzte Behauptung an, der Mensch lebe „in einer Welt nicht der Dinge, sondern der Symbole von Dingen.“ („Symbolismus und Anthropogenese“. In: Bernhard Rensch (Hg.): Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmenschen. Bern, Stuttgart 1968:131-148. S. 134) Er erwähnt Banknoten, Wörter usw., fährt aber dann fort:
„Die Gegenstände des menschlichen Lebens, vom Kühlschrank zur Stadt und zur Atombombe, sind Materialisationen symbolischer Systeme.“
Durch ihre Atombombenabwürfe haben die Amerikaner den Japanern sicher auch etwas zu verstehen gegeben, aber die rein physische Wirkung ist ebenfalls eine Tatsache, die man darüber nicht vergessen darf. Wir leben gewiß in einer Welt von Symbolen, aber eben auch in einer Welt der Dinge, von denen wir leben und an denen wir schließlich auch sterben.
Ich habe als Kind noch die ausgebrannten Häuser in Kassel gesehen, und die Erzählungen der Augenzeugen von nächtlichen Phosphorbomben (brennende Menschen auf den Straßen) haben sich mir für immer eingeprägt. Wenn man der ZEIT folgt, gibt Giftgas den Menschen zu verstehen, daß man sie als Ungeziefer betrachtet, während normale Bomben sie als Personen achten... Kurzum: Ich kann der „symbolischen“ Deutung von Giftgas nicht folgen. Das sind schöngeistige Kopfgeburten aus Redaktionsstuben. Die Unterstellung, andere Vernichtungsmittel würden nicht Soldaten und Zivilisten gleichermaßen treffen, ist ebenfalls indiskutabel.
Der in Aussicht gestellte Denkzettel, der Assad nicht stürzen soll, könnte ja wohl nur darin bestehen, daß ein Teil von Damaskus in Schutt und Asche gelegt wird. Wie sollen die Syrer diese Mitteilung verstehen? Dazu ist wohl ein Merkblatt nötig, das man gleichzeitig abwerfen sollte.


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