08.06.2013 Theodor Ickler Ökonomie der Sprache?Zur Motivation der artikulatorischen Anstrengung des SprechersIst der Sprecher wirklich nur daran interessiert, es sich möglichst einfach zu machen?Strukturalistische Erklärungen des Sprachwandels berufen sich oft auf ein Prinzip, das ungefähr so lautet: Der Sprecher möchte es sich möglichst bequem machen, am deutlichsten bei der Artikulation. Daher die vielen Auslassungen usw., die dann auch zum Sprachwandel führen – "Économie des changements phonétiques", wie der Titel eines berühmten Werkes von André Martinet schon andeutet. Die "Natürlichkeitstheorie" hat daraus zunächst die Tendenz zur idealen Silbe gemacht (Konsonant + Vokal). In den letzten Jahren ist viel darüber geschrieben worden, daß diese Tendenz in Sprachen wie dem Deutschen geradezu auf den Kopf gestellt zu sein scheint (schrumpfst), und man hat dann typologisch Silbensprachen (wie Italienisch) und Wortsprachen (wie Deutsch) unterschieden. Damit ging die Behauptung einher, Silbensprachen seien leicht für den Sprecher und schwer für den Hörer (der die Lexeme um so schwerer heraushören kann, je mehr einfache Silben, durch Liaison verbundene und gleichmäßig akzentuiert, aneinandergereiht werden). Hierzu Einzelheiten vor allem in den Schriften von Damaris Nübling und Renata Szczepaniak. Der Gedanke, daß die Anstrengung des Sprechers und die des Hörers sich umgekehrt reziprok verhalten, ist aber schon früher oft ausgesprochen worden, z. B. von Gerhard Ernst in Holtus/Radtke, Hg.: Varietätenlinguistik des Italienischen. Tübingen 1983:114. Wir kennen eine entsprechende Diskussion in bezug auf die Rechtschreibung. Nerius und andere haben immer wieder die Gegensätzlichkeit von Schreiber- und Leserinteresse betont, das ist die Grundlage ihrer Reformideen. Und unsere Antwort war immer: Die Schrift ist nicht zum Schreiben da. Mein Einwand also: Wenn der Sprecher so maulfaul ist – warum macht er überhaupt den Mund auf? Man kann ja nicht behaupten, daß er das Sprechen zum Überleben braucht. Wozu reden denn die Menschen ununterbrochen miteinander? Vieles davon ist doch lustvolle Selbstdarstellung, und dabei erweist man sich keineswegs als besonders sparsam. Nur wenn schon klar ist, was ich sagen oder schreiben will, kann es mir gar nicht schnell genug gehen und kürze ich ab, verschleife usw. Die Logorrhöe des Alltags kann man so nicht erklären. Wenn der junge Pianist übt, hudelt er vielleicht über das Stück hin, aber wenn er es wirklich einem Publikum vorführt, gibt er sich mit den kleinsten Einzelheiten die größte Mühe. Kurzum: Das Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes ist vielleicht nicht so selbstverständlich und muß ergänzt werden.
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