16.05.2013


Theodor Ickler

Schiefe Attribute I: Attribut zum Kompositum

Zu einem Dauerbrenner der Sprachkritik

In einem Determinativkompositum bestimmt das „Grundwort“ die grammatischen Eigenschaften des Gesamtwortes. Das Erstglied ist normalerweise nicht für syntaktische Operationen zugänglich. Als falsch gelten daher Attributionen wie die folgenden:
die männlichen und weiblichen Besucherzahlen in Gottesdiensten (Wolfgang Mentrup, Hg.: Fachsprachen und Gemeinsprache. Düsseldorf 1979:138)
Als freilaufender Hühnerhalter habe ich keine Absatzsorgen. (Ökotest 5/1989)
die Verhandlungsbereitschaft über den Preis (FAZ 4.3.85)

Annehmbarer sind solche Verbindungen, wenn sich das Attribut sinngemäß auf beide Bestandteile der Zusammensetzung beziehen läßt:
Zur Verhältnisbestimmung von Semiotik und Hermeneutik („Gedankenzeichen“, Fs. für Klaus Oehler. Tübingen 1988:123ff.)
Beiträge zur Wesenserhaltung der verwalteten Welt (Karl Korn: Sprache in der verwalteten Welt. München 1962:12)
das Kopftuchverbot an Universitäten (SZ 25.10.08)

Bezugsadjektive lassen sich wegen ihrer semantischen Unbestimmtheit leicht auf beide Bestandteile und damit auf das gesamte Kompositum beziehen:
tropische Waldtiere
psychologische Beratungsstelle


Abstrakte Grundwörter wie -möglichkeit, -tätigkeit, -prozeß kommen Suffixen nahe und mildern daher den Eindruck des falschen Bezugs:
Auswertungsmöglichkeiten des historischen Materials (Rudolf Wassermann, Hg.: Recht und Sprache Heidelberg 1983:25) (= Auswertbarkeit)

Anmerkungen

1. Das Erstglied ist auch für anaphorische Bezugnahme nicht erreichbar. Irregulär daher:
In der speziellen Relativitätstheorie wurde das Problem der Äthermechanik durch dessen Negierung aufgehoben. (Wirkendes Wort 21, 1971:416)
Heinz Oskar Vetter, Vorsitzender des DGB, ist ein alter Mitbestimmungsmann. Er hat sie in der IG Bergbau von der Pike auf gelernt. (SZ 26.7.80)
Dasselbe gilt für Derivationen:
Bei der Beschreibung tierischen Verhaltens erlaubt die Sprache jedenfalls, ihnen absichtliches Handeln zu unterstellen. (Heide Wegener: Der Dativ. Tübingen 1985:169)

2. Dagegen kann ein Erstglied ohne weiteres mit einem äquivalenten Adjektivattribut koordiniert werden:
Albrecht hatte leicht mit der Unterlippe an der oberen gesogen. (Thomas Mann: Königliche Hoheit. Fischer-TB:134)
Der Ölpreis steigt und vielleicht auch noch der für Kupfer. (SZ 13.6.09)

3. Eine ähnliche Beschränkung wie für Erstglieder gilt für pränominale Adjektive:
einführende Darstellungen in die germanistische Sprachpflege (Albrecht Greule/Elisabeth Ahlvers-Liebel: Germanistische Sprachpflege. Darmstadt 1986:VII)
statt: in die germanistische Sprachpflege einführende Darstellungen (→ Partizip I)

4. Um den grammatisch falschen Anschluß an das Erstglied zu vermeiden, benutzt man gern die semantisch undeutlichere, aber grammatisch unverfängliche Präposition für. Dies empfahl schon Theodor Matthias (Sprachleben und Sprachschäden. Leipzig 1914:177): Ausfuhrverbot für russisches Getreide. Aus unseren Tagen lassen sich zahllose ähnliche Beispiele anführen: Zugangserschwerung für Ausländer, Beteiligungsverbot für Banken, anonyme Abgabestelle für Säuglinge usw.


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