11.05.2012


Theodor Ickler

Pro multis

Übersetzen und Interpretieren sind zweierlei

Wir haben das Problem schon am Beispiel der "Bibel in gerechter Sprache" erörtert. Jetzt gibt der Papst Anlaß für viele, wenn auch nicht für alle, sich damit beschäftigen.
Die Einsetzungsworte beim Abendmahl (ich drücke mich gemäß meiner protestantischen Herkunft aus) sind eindeutig, wenn man sich an Matthäus und Markus hält: "für viele" sterbe er, sagt Jesus. Diesen Wortlaut will der Papst im "Kelchwort" wiederhergestellt wissen, obwohl er selbst betont, selbstverständlich sei Jesus für alle gestorben. Aber es steht eben nicht da, da hat er vollkommen recht.

Da ich selbst jahrelang angehenden Theologen Griechisch beigebracht habe, wundert es mich, daß sogar Altphilologen (wie kürzlich ein Leserbriefschreiber aus München) an der Übersetzung "für alle" festhalten wollen. Wenn jemand einen antiken Text, etwa von Aristoteles, in dieser Weise übersetzte, also eine bestimmte Interpretation bereits in den Text hineinschmuggeln würde, wäre er erledigt. Nun lesen wir folgendes:


Einheit unter Sünde und Gnade
Der Neutestamentler Wolfgang Stegemann zum »Pro multis«-Brief des Papstes

Papst Benedikt XVI. hat in einem Schreiben an die deutschen katholischen Bischöfe angemahnt, dass es auch in der deutschen Eucharistiefeier bei der Konsekration des Weins heißen soll, Jesu Blut sei »für euch und für viele« vergossen worden - und nicht mehr, wie es bisher hieß, »für alle«. Hat der Papst recht? Was hat Jesus denn wirklich gesagt bei der Einsetzung des Abendmahls?
Wolfgang Stegemann: Zunächst: Es ist schon bemerkenswert, wie theologisch gelehrt der gegenwärtige Papst ist. Das ist auch in der »Pro multis«-Frage um die Einsetzungsworte wiedererkennbar. Doch was Jesus selbst gesagt hat, weiß keiner von uns, auch der Papst nicht. Niemand war mit der Kamera beim Abendmahl dabei oder mit dem iPhone. Die Überlieferungen in den Evangelienschriften sind spätere Überlieferungen. Aus den Unterschieden in den Texten können wir das ablesen.
- Zum Beispiel, dass Matthäus und Markus die Formulierung »für viele« verwenden, Paulus und Lukas aber nur »für euch«?
Stegemann: Ja. Wir wissen heute, dass die Formulierungen an den gottesdienstlichen Gebrauch angepasst wurden. Wir haben in den Texten immer nur Rezeption, was zugleich immer Interpretation bedeutet.
Was da nun aus dem Vatikan kommt, ist ein Versuch, eine Originalität in die Texte zu bringen, die so nicht zulässig ist. Papst Benedikt müsste es eigentlich besser wissen. Doch sein theologisches Denken zeigt sich in der Exegese immer wieder erstaunlich unmodern. Seine ganze Argumentation, das zeigt auch sein Jesusbuch, steckt im Denken der 70er-Jahre und der sogenannten »Zweiten Suche nach Jesus«. Sie hatte die wissenschaftlich irrige Voraussetzung, man könne die historischen Worte Jesu rekonstruieren. Doch: »Jesus remembered«, wie der englische Forscher James Dunn das treffend formuliert hat - das ist alles, was wir haben.
- Dann kommt es umso mehr auf die Interpretation an, die in der Formulierung »für alle« steckt - und die dem Papst zu weit geht?
Stegemann: Was den Papst letztlich bewegt, weiß ich nicht. Ich finde es jedenfalls theologisch falsch. Christus ist für alle gestorben, nicht nur für die Reichen oder die Armen oder die Afrikaner oder die Europäer.
- Ich denke, wir Protestanten haben bei den Einsetzungsworten die bessere Lösung, weil wir die Frage offenlassen und die Heilsbedeutung Jesu nicht festlegen. »Für alle« - das ist die Idee des Paulus: die Einheit der Menschheit unter der Sünde und die Einheit der Menschheit unter der Gnade. Die Universalität des Heilsangebots Gottes ist ein Grundzug des christlichen Glaubens. Das würde ich niemals aufgeben, auch wenn es empirisch so ist, dass nicht alle dieses Angebot annehmen. (Sonntagsblatt 6.5.12)

Das ist, wie man sieht, eine ganz andere Denkweise, nicht die philologische, sondern die aus jenen Feministenkreisen bekannte. Natürlich ist jede Übersetzung auch Interpretation, weil man ja den Text so oder so verstehen kann und das auch klarmachen muß. Aber in diesem Falle gibt es keine Möglichkeit, den beiden Evangelisten ein "für alle" unterzujubeln. Vielleicht haben sie es gemeint, aber sie haben es nicht gesagt, und das ist bei so einfachen griechischen Wörtern ein ansehnliches Problem. Paulus hat es so verstanden, die evangelische Kirche will es so verstehen - na gut, das ist ihnen unbenommen, aber es steht wirklich nicht da, und man kommt nicht um die Frage herum, warum die beiden Evangelisten sich nicht anders ausgedrückt haben. Haben sie diese doch sehr elementare und fundamentale Aussage falsch überliefert bekommen? Darüber könnte der Pfarrer ja mit seiner Gemeinde reden. Philologen würden das tun. Aber sich einfach hinstellen und behaupten, Jesus habe "für alle" gesagt, basta! - das geht nun wirklich nicht. Etwas anderes als den überlieferten Text hat niemand in der Hand. Das Wort sie sollen lassen stan!


(Anmerkung: Für Philologen muß die Möglichkeit offen bleiben, daß Jesus "für viele" nicht nur gesagt, sondern auch gemeint hat und daß es gerade deshalb überliefert ist ... Kurzum: Nur wenn der Text bewahrt ist, kann man anfangen, über Auslegungen zu reden.)


Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1518