19.06.2011


Theodor Ickler

Diktate

Methoden von gestern, Didaktik von vorgestern

Die taz meldet am 17.6.2011:
Senator ignoriert Wissenschaft
Der neue Bildungsplan lässt benotete Diktate in der Grundschule wieder zu. Kritik kommt von einer Professorin: Diktate werden zu Unrecht als objektiv eingeschätzt. VON KAIJA KUTTER
SPD-Schulsenator Ties Rabe hat zu einem weiteren Symbolthema Farbe bekannt. In die neuen Bildungspläne, die am Donnerstag von der Deputation verabschiedet wurden, fügte er das Schreiben von benoteten Diktaten in der Grundschule wieder ein. Sie sollen zwar nicht allein als Klassenarbeit zählen, dürfen aber als Teil einer solchen wieder angewandt werden.
Die Didaktik-Professorin Petra Hüttis-Graff von der Uni-Hamburg hatte zuvor in einem Brief an die Fachreferenten der Schulbehörde davor gewarnt. Die hier vorgenommene Rehabilitierung der Diktate sei "aus wissenschaftlicher Sicht ein eklatanter Rückschritt im Vergleich zu den geltenden Rahmenplänen von 2003". Sie könne es nicht mit ihrem Wissen vereinbaren, Lehramtsstudierende auf eine "Diktatpraxis" vorzubereiten. Das Thema hatte im Zuge des Schulreform-Streits für Polarisierung gesorgt. Dabei ist die Sache aus wissenschaftlicher Warte wenig strittig. Deshalb sind Diktate auch seit acht Jahren in den Bildungsplänen nicht mehr vorgesehen. Das heißt nicht, dass Kinder Rechtschreibung nicht mehr lernen. Stattdessen sind andere Lernerfolgskontrollen vorgesehen, wie etwa Lückentexte, Abschriften oder Wörterbuchaufgaben.
Doch durch den neuen Bildungsplan würden Diktate "priorisiert", kritisiert Hüttis-Graff. Und es werde Lehrern erschwert, andere Instrumente gegenüber Eltern zu rechtfertigen, die aus ihrer Schulzeit hauptsächlich das Diktat kennen. Dabei würden sie "zu Unrecht" als objektiv und praktikabel eingeschätzt.
So fanden im Rahmen einer Studie im Jahr 2009 mehrere hundert Lehrer in dem gleichen Diktat eines Schülers zwischen zwei und elf Fehler. Die Zensuren reichten von einer glatten Eins bis zur Fünf. Hüttis-Graff führt weitere Argumente aus sechs Forschungsarbeiten auf. Unter anderem dienten Diktate eher der Selektion und Disziplinierung und förderten nicht das Verstehen von Schriftstruktur (siehe Kasten).
Die Professorin hatte den Entwurf der neuen Pläne im Internet gelesen und daraufhin ihren Brief verfasst, der auch an den Hamburger Grundschulverband ging. Auch dieser ist empört. "Diktate sind nicht dienlich, um Rechtschreibung zu erwerben", sagt deren Vorsitzende Susanne Peters. Sie kritisiert, dass Rabe die Fachöffentlichkeit nicht informierte und "keine Zeit ließ, den Entwurf zu diskutieren".
"An der Wiedereinführung der Diktate wird wieder schmerzhaft deutlich, wie gern Senator Rabe zu Methoden von gestern greift", kritisiert auch die GAL-Politikerin Stefanie von Berg. Dabei testeten diese "höchstens die Hörfähigkeit und die Stressresistenz der Kinder".
Die Zeit habe gedrängt, da die aktuellen Bildungspläne zum Schuljahrsende auslaufen, entgegnet Ties Rabe. Die Diskussion über Diktate sei schon vor der Wahl "über einen langen Zeitraum geführt worden", teilte der Schulsenator mit. Dabei habe es keine neuen Aspekte gegeben, die eine "spezifische Fachdiskussion nötig erscheinen ließen". Er habe im Wahlkampf seine Position deutlich gemacht und "in diesem Sinne entschieden".

Forschung über Diktate
Diktate sind nicht objektiv. Aus wissenschaftlicher Sicht spricht noch mehr gegen diese Methode.
– Sie überprüfen nicht nur das Unterrichtete, sondern stets auch Stressresistenz, Schreibtempo und Konzentrationsfähigkeit. Sie sind lernpsychologisch ungünstig.
– Sie unterstützen die unzureichende Rechtschreibstrategie "Schreibe wie du sprichst!". Aber Schrift bildet nicht die Sprache ab, sondern folgt eigenen Gesetzen.
– Geübte Diktate überprüfen gelernte Wörter. Aber Rechtschreiben lernt man nicht durch Ansammeln von Wörtern, sondern durch Entdecken und Verstehen der Schriftstruktur.



Kommentar: Das Diktat ist die einfachste und natürlichste Methode, Rechtschreibfähigkeiten zu überprüfen. Wenn Lehrer bei denselben Texten zu unterschiedlichen Fehlerzahlen kommen, müssen sie nachgeschult werden. Allerdings könnte es teilweise auf die Reform zurückzuführen sein. Es ist dadurch schwerer geworden, Fehler überhaupt als solche zu identifizieren. Außerdem könnten manche Lehrer sinnvolle und trotzdem (oder deshalb) reformwidrige Schreibweisen geltenlassen. Man kann Objektivität auch durch automatische Programme erreichen, das ist gar kein Problem. Nur Didaktikprofessoren können auf die Idee kommen, es sei schwierig, gute und schlechte Rechtschreiber zu unterscheiden.
Rechtschreibung lernt man nur zu einem sehr geringen Teil durch "Verstehen der Schriftstruktur". Genau deshalb gibt es für die Grundschule Rechtschreibwortschätze und nicht bloß Regeln.
Es ist nie die Aufgabe des Diktats (!) gewesen, "das Verstehen von Schriftstruktur" zu fördern.
Dagegen ist es für viele Schreibberufe lebenswichtig, nach Diktat schreiben zu können. Dies ist also gerade keine weltfremde Schulübung, sondern Berufsvorbereitung. Millionen Schreibkräfte haben es nicht mit Lückentexten zu tun.
Der Tenor der gesamten Einlassung ("Selektion und Disziplinierung") ist bekannt: es ist die Melodie der frühen siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (GEW-Kongreß "vernünftiger schreiben" 1973, die Grundlage der gescheiterten Reform).
Erstaunlich ist die Anmaßung, mit der hier die Meinung einer Didaktikerin, deren Name in der gesamten Reformdiskussion nie zu lesen war, als Stand der Wissenschaft ausgegeben wird: "Senator ignoriert Wissenschaft".

Was Frau von Berg dazugibt, ist lächerlich: Diktate testeten "höchstens die Hörfähigkeit und die Stressresistenz der Kinder".

Jeder Lehrer weiß, daß das nicht stimmt.


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