21.03.2011


Theodor Ickler

Der hohe Ton

Zur Kritik der sprachlichen Vornehmtuerei

Denn das Gedicht ist Gesprochenheit, Gesprochenheit zum Du, wo immer ihm der Partner wese.

Solche Sätze galten einmal als tief und haben auch heute noch ihre Verehrer.

Ich übersetze mal: "Gedichte sind an unbekannte Leser gerichtet." Oder: "Wer ein Gedicht schreibt, weiß nicht, wer es lesen wird."

Das Verb wesen gibt es im Deutschen schon lange nicht mehr; es hat daher keine Bedeutung; man kann es nicht einfach verwenden, als hätte es eine. (Nur das Partizip gewesen dient noch der Auffüllung des Formeninventars von sein.) Der Duden verzeichnet es als "veraltet" und schreibt ihm die Bedeutung zu "als lebende Kraft vorhanden sein". Diese Erklärung ist so veraltet wie das Verb. "lebende Kraft" war einmal ein Ausdruck für das, was wir heute Energie nennen, hatte aber auch noch andere, heute nicht mehr nachvollziehbare Nebenbedeutungen. Wahrig schreibt zu wesen: "tätig sein". Dann müßte man sagen können: Ich wese an der Universität. Das geht offenbar nicht. – Außerdem liegt ein Kategorienfehler vor, denn ein Gedicht kann zwar gesprochen werden, aber es kann keine Gesprochenheit sein.

Zu erklären bleibt, wie Menschen dazu kommen, solchen Unsinn hinzunehmen und sogar noch für tiefsinnig zu halten. Weniger krasse Beispiele sind noch interessanter.


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