11.12.2010


Theodor Ickler

Wie weiter?

Kommentar zum zweiten Bericht des Rechtschreibrates

Mit dem Jahr 2010 geht auch die erste Amtsperiode des Rates für deutsche Rechtschreibung zu Ende. Am 8. Dezember legte er den Kultusministern seinen zweiten Rechenschaftsbericht vor, der den Zeitraum von der letzten Revision 2006 bis zur letzten Sitzung im Oktober 2010 umfaßt.

Der Bericht ist 39 Seiten lang, dazu kommt eine kurze Liste mit Änderungsvorschlägen.


Zur Darstellung:

Wir sind an bürokratische Texte und aufgeblasene Gremienprosa gewöhnt, aber was die Geschäftsführerin Kerstin Güthert bietet, übertrifft die Erwartungen. Sie versucht sich an amtlichem Jargon, beherrscht ihn aber als Sprachwissenschaftlerin nicht wirklich. Ihr in Sonderheit wirkt so selbstparodistisch wie der umständliche, auf Passiv und Substantivierungen gegründete Satzbau.

Eine Stilprobe:

„Eine Folgerung aus der Diskussion dieser komplexen praktischen Fragen war die Einsicht, dass man klarer herausstellen und auch der schreibenden Öffentlichkeit vermitteln sollte, dass sich unter dem allgemeinen Reden von ‚Variation‘ Verschiedenes verbirgt. Die AG Linguisten wurde beauftragt, hier mehr Klarheit zu schaffen und dem Rat entsprechende Informationen vorzulegen. Das führte nach einer Präsentation und Diskussion von Klassifikationsvorschlägen, die von Mitgliedern des Rats in anderen Kontexten bereits entwickelt worden waren, letztlich zu einer Zusammenstellung, die zeigt, welchen funktionalen und normativen Status die verschiedenen Arten von Variation haben, die man in der deutschen Orthographie findet. Diese Klärung bestätigt die Annahme des Rats, dass Schwankungen in diesem Bereich eher als ein Anpassungsprozess an die Möglichkeiten der Schreibung im Rahmen der system-, aber auch traditionsbedingten und entwicklungsorientierten Gegebenheiten der deutschen Sprache in diesem Bereich verstanden werden sollten, und daher kein Objekt direkter Sanktionierung seien.“

Abgesehen vom Stil – wen interessiert so etwas? Das haben sich wohl auch die Ratsmitglieder gedacht und den Text, den sie im Umlaufverfahren billigten, gar nicht erst gelesen. Dafür gibt es untrügliche Beweise. So erwähnt die Verfasserin die „Aufnahme von Wörtern wie Älchen, einer mehr theoretischen Verkleinerungsform“. Sie muß nicht wissen, was Älchen sind, aber daß auch die 40 Ratsmitglieder, darunter Zehetmair, es nicht wissen, ist unvorstellbar.

Wenn Zehetmair für besseres Deutsch kämpft, wie die Nürnberger Nachrichten (online 10.12.10) meinen, sollte er einmal der Geschäftsführerin des Rechtschreibrates auf die Finger sehen. Sie schreibt solche Sätze:

„Diese Diskussion ging aus von der erneuten und vertieften Beschäftigung des Rats mit dem im Regelungsvorschlag von 2006 von den vom Rat initiierten Veränderungen nur am Rande berührten Bereich der Groß- und Kleinschreibung.“

Sie verheddert sich:

„Damit ist die Arbeit an diesem Texttyp und anderen, in verschiedener Weise erläuternden Texten in die allgemeinen Aufgaben des sich in der zweiten Amtszeit konstituierenden Rats eingebunden und hat dort seinen vernünftigen Ort zu finden.“
(Gemeint ist: ihren Ort. Und was ist denn der „vernünftige Ort“, den eine Arbeit im nächsten Rat finden soll?)

Güthert schreibt auch:

„Die Aufnahmekriterien von Wörtern in das amtliche Wörterverzeichnis …“

„Es kann eine Befassung mit den argumentativ zu begegnenden Einwänden einsetzen.“

„… die im Schreibgebrauch niedrig frequent sind. Das Merkmal ‚niedrig frequent‘ …“

Und die Ratsmitglieder finden all dies gut und richtig?

„Temporialadverb“ ist wohl nur ein Versehen.

Die Geschäftsführerin kann nicht einmal korrekt zitieren:

„In Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, S. 796 ist ‚Stillleben‘ als eigener Wörterbucheintrag gebucht und damit implizit als nicht durchsichtig eingestuft.“

Das stimmt nicht, Kluge/Seebold schreibt ja nicht reformiert und hat den Eintrag Stilleben.

„Pfeifer gibt zu verbleuen die Bedeutung „übertragen ‚nachdrücklich einschärfen‘“ an.“

Auch das ist nicht richtig, bei Pfeifer wird diese Bedeutung selbstverständlich zu einbleuen gestellt.

„Bei Föhn handelt es sich um eine neu zugelassene Variantenschreibung.“

Das Wort wird nach der Neuregelung in jeder Bedeutung mit h geschrieben, das Warenzeichen der AEG bleibt natürlich unverändert Fön. Es handelt sich also nicht um Variantenschreibung.


Zum Inhalt:

Der Rat steht vor einem Dilemma: Einerseits glaubt er nichts ändern zu dürfen, andererseits muß er seine Existenz irgendwie rechtfertigen.

Die revidierte Regelung von 2006 hat alle Züge einer Übergangslösung. Hauptgrund ist, daß die Arbeit des Rechtschreibrates mittendrin gestoppt wurde. Nachdem er drei von sechs Bereichen überarbeitet hatte – naturgemäß meist im Sinne einer Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung –, übten die deutschen Kultusminister (übrigens satzungs- und damit rechtswidrig) Druck auf den Vorsitzenden aus, worüber dieser selbst im Sommer 2005 vor dem Rat berichtete, und erzwangen einen Abbruch der Revisionsarbeit. Zehetmair begründete die Maßnahme in einer seiner letzten Pressemitteilungen mit der „Marktberuhigung“, die nun erst einmal eintreten müsse.

Seither arbeitet der Rechtschreibrat unter der Vorgabe, den Inhalt der Reform nicht mehr antasten zu dürfen. Seine gesamte Tätigkeit ist daher auf folgenlose theoretische Erörterungen und statistische Erhebungen beschränkt, die er satzungsgemäß als „Beobachtung des Schreibgebrauchs“ bezeichnet. So wurden auch die seinerzeit ausgeklammerten Bereiche der Neuregelung durchgearbeitet, aber da sie im Gegensatz zu den anderen Bereichen nicht geändert werden durften, hatte diese Tätigkeit etwas Steriles. Das geht aus dem letzten Teil des Berichts hervor, wo schon die Formulierung den frustrierenden Charakter der Diskussion bloßlegt:

„Als letzter Regelwerksbereich wurde der Bereich der GROSS- UND KLEINSCHREIBUNG systematisch aufgearbeitet. Der Rat hat sich hierzu zunächst in einem Überblicksvortrag von Peter Gallmann Regelstruktur und Aufbau vergegenwärtigt und nach dieser theoretischen Grundlegung mithilfe einer in der Geschäftsstelle erstellten Vorlage die Regelungen im Detail und die daran geäußerte Kritik rekapituliert. Dabei wurde offensichtlich, dass mit den Regelungen von 1996 ein neuer Zuschnitt der beiden den Bereich konstituierenden Regeln erfolgte und die Änderungen daher allein auf die neu definierten Anwendungsbereiche der beiden Regeln zurückzuführen sind.“

Wer reist nach Mannheim, Bozen oder Wien, um sich die Reform von 1996 noch einmal erläutern zu lassen? (Und was bedeutet der letzte Satz überhaupt?)

Die Geschäftsführung beklagt denn auch die unregelmäßige Teilnahme und schwache Besetzung der einzelnen Tagungen. Zu den zehn Sitzungen waren von 40 Mitgliedern jeweils 20 bis maximal 31 erschienen. „Der durchschnittliche Besuch pro Person liegt bei 6,6 Sitzungen, was wegen der wechselnden Besetzung die Kontinuität der Diskussion nicht erleichtert.“

(Lassen sich die Ratsmitglieder solche sarkastischen Bemerkungen eigentlich gefallen? Geben sie damit nicht zu, daß ihre Entschuldigungen nicht ernstzunehmen waren, ganz wie es die Geschäftsführerin ihnen unterstellt?)

Nach den Gründen der häufigen Abwesenheit fragt Güthert nicht, sie liegen aber für den Leser des Berichts auf der Hand.

Die „Beobachtung des Schreibgebrauchs“ litt darunter, daß die Reformschreibung für die Schulen vorgeschrieben und in den Medien durch Verleger oder Herausgeber – nachweislich gegen den Wunsch der Leser und der Bevölkerungsmehrheit – gewaltsam durchgesetzt und der „Schreibgebrauch“ insofern verzerrt ist. Auch Leserbriefe und Zitate aus Schriftstellern in Rezensionen werden von den Zeitungen unerbittlich auf Reformschreibung getrimmt. Von einer Entwicklung kann seither nicht mehr die Rede sein, aber der Rat verleugnet diese schlichte Tatsache in allen seinen Äußerungen. Die Untersuchungen, die hauptsächlich von den im Rat vertretenen Wörterbuchredaktionen durchgeführt wurden, galten daher nur noch der Frage: Gegen welche Neuschreibungen wird besonders oft verstoßen, bzw. welche zugelassenen Varianten wurden nicht genutzt? Auf diese statistischen Untersuchungen entfällt ein großer Teil des Berichts. Verglichen mit dem hohen Anspruch des Jahrhundertwerks sind es Belanglosigkeiten. Um sie zur Kenntnis zu nehmen, war vielen Mitgliedern offenbar die Reise zu den verschiedenen Tagungsorten im In- und Ausland zu beschwerlich.

Von welcher Art jene Belanglosigkeiten sind, ist Seite um Seite zu erkennen. Der Rat kommt z. B. zu so umwerfenden Ergebnissen wie dem, daß Kammmacher nun fast hundertprozentig mit drei „m“ geschrieben wird, allerdings praktisch nur im Zusammenhang mit Gottfried Keller vorkommt.

Eine Nachprüfung der statistischen Angaben ist im allgemeinen nicht möglich, da die Texte aus dem Medienbereich nur am Institut für deutsche Sprache und die Texte aus der Schüleruntersuchung überhaupt nicht zugänglich sind.

Der Rat läßt in seinem Abschlußbericht immerhin erkennen, daß er seine Pflicht, auch die im Jahre 2006 ausgelassenen Teile zu bearbeiten, nicht aus den Augen verloren hat. Das Veto der Kultusminister war insbesondere für den Vorsitzenden Zehetmair eine persönliche Demütigung, hatte er doch bis zum Herbst 2005 beteuert, sich dem Druck nicht beugen zu wollen. Der gesamte Rat hat die rechtswidrige Beschränkung nicht nur geschluckt, sondern setzt offenbar undiskutiert voraus, daß sie weitergilt. Ich komme darauf zurück.

Die Empfehlungen der Dudenredaktion im vierfarbigen Duden werden mit einem Seitenhieb bedacht:

„Als nicht sehr glücklich wurde angesehen, dass zumindest eines der auch im Rat vertretenen großen Wörterbücher von der „Beobachtungsmaxime“ des Rats deutlich abgewichen ist und – v. a. im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung – die Schreibungen empfohlen werden, die mit der Reform von 1996ff. verbunden sind.“

Es war jedoch das gute Recht des nicht mehr amtlichen Duden, in dieser Weise zu verfahren, auch wenn er sich damit den Unmut des Ratsvorsitzenden zuzog. Wenn der Rat und die KMK auf eine „Variantenführung“ zwecks Eindämmung der dreitausend Alternativschreibungen verzichten, bedeutet das doch nicht, daß praktische Wörterbücher ebenso verfahren müßten. Die Rüge für den Duden, immerhin ein nicht unwichtiges Mitglied des Rechtschreibrates, beweist, wie sehr der Dudenverlag am Boden liegt. Seine Niederzwingung war ja das heimliche Ziel der Reformer gewesen. Auch im Rechtschreibrat hat nun Bertelsmann-Wahrig die erste Stimme: Sabine Krome legt die Texte vor, über die dann diskutiert wird. (Frau Krome wird im Bericht dreimal erwähnt, der Dudenchef Wermke überhaupt nicht. Nichts zeigt deutlicher den Wandel seit Günther Drosdowskis Zeiten. Wermke ist inzwischen auch beim Duden ausgeschieden.)

Der Rat versucht sich an einer regelrechten Geschichtsfälschung. Wie schon in anderen Verlautbarungen verschweigt er die Revision von 2004. Damals mußten alle Rechtschreibwörterbücher neu gedruckt werden. (Der volle Umfang der Revision von 2004 geht aus meinem Kommentar hervor.)

In der amtlichen Fassung der Revision von 2004 heißt es ausdrücklich:

„In der hier vorliegenden Fassung des amtlichen Regelwerks sind alle Modifikationsbeschlüsse der zuständigen staatlichen Stellen umgesetzt; sie ist die Grundlage für die Arbeit an der Weiterentwicklung derdeutschen Rechtschreibung.“

Der Rat war also verpflichtet, auf der Grundlage der Revision von 2004 weiterzuarbeiten, wie er es bis 2006 auch getan hat. Die damals noch nicht erledigten Teilgebiete lagen weiterhin in der Fassung von 2004 vor, die ursprüngliche Reform von 1996 war längst nicht mehr aktuell und hätte auch im vorliegenden Bericht gar nicht mehr erwähnt zu werden brauchen. (Keine Jahreszahl wird so oft erwähnt wie 1996!)

Güthert schreibt aber nun:
„Insgesamt ist der Schreibgebrauch im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung zum jetzigen Zeitpunkt als nicht gefestigt einzustufen, bedingt durch den zweimaligen Paradigmenwechsel in den Jahren 1996 und 2006.“

Nur in einer Anmerkung wird angedeutet, daß sich auch 2004 etwas getan hat: „(…) bis auf weiteres, seit kurzem und von weitem (…). Für diese Gruppe ist seit 2004 fakultativ die Großschreibung zulässig.“

Allein diese von Gallmann durchgesetzte Änderung war aber schon ein „Paradigmenwechsel“ von ähnlichem Kaliber wie die beiden erwähnten (abgesehen davon, daß „Paradigmenwechsel“ – von Güthert gleich dreimal benutzt – ohnehin nur ein aufgedonnertes Modewort ist).

Güthert verbreitet auch weiterhin die folgende Legende:
„Mit der Erarbeitung einer Fassung des Regelwerks und des Wörterverzeichnisses, das sich auf die im Bericht vom Februar 2006 genannten als kritisch gesehenen Punkte der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Zeichensetzung, der Worttrennung am Zeilenende und bestimmten Bereichen der Groß- und Kleinschreibung bezog, war ein konkreter und kurzfristiger Auftrag der politischen Entscheidungsgremien abgearbeitet worden.“

Einen solchen Auftrag hat es nie gegeben. Es gab nur den unverbindlichen Wunsch der KMK, sich (zunächst) auf diese Teilbereiche zu beschränken. Eine solche Einschränkung durch äußere Instanzen wurde zunächst auch vom Vorsitzenden zurückgewiesen, da der Rat in seiner Themenwahl nicht weisungsgebunden ist. Wie erwähnt, gab Zehetmair im Herbst 2005 nach und teilte den Ratsmitgliedern die neue Lage mit. Seither kann und will sich der Rat nicht mehr mit substantiellen Fragen der Neuregelung beschäftigen, sondern verbringt seine Zeit mit kosmetischen Operationen und folgenlosen Diskussionen.

Zu den interessanteren Mitteilungen gehört folgendes:

„(Recherchen des IDS) ergaben, dass das amtliche Wörterverzeichnis in seinem Lemmabestand auf das von Gerhard Augst erarbeitete ‚Lexikon zur Wortbildung. Morpheminventar‘ aus dem Jahre 1975 zurückging, ein Umstand, der bislang nicht bekannt war. Das augstsche Morpheminventar wiederum fußt auf zwei Wörterbüchern aus dem Jahre 1968.“ (sc. Wahrig und Duden)

Bei dieser Gelegenheit erfährt man auch, daß uns 1996 weitere Augstsche Einfälle erspart geblieben sind, z. B. Neglischee. (Welche noch?)

An mehreren Stellen wird zugegeben, daß das Wörterverzeichnis, wie auch die Kritiker sogleich bemerkt hatten, tatsächlich sehr nachlässig erarbeitet worden war. Der zuständige Reformer, Klaus Heller, war damit nicht nur überfordert, sondern gleichzeitig auf eigene Rechnung mit der Herstellung vermarktbarer Handreichungen beschäftigt. Dies wird allerdings im Bericht nicht erwähnt.

Durch die Mitteilung über seine Herkunft sieht man aber das Wörterverzeichnis in einem neuen Licht. Ich habe schon früh darauf hingewiesen, daß der „zentrale Wortschatz“, den das Verzeichnis darzustellen behauptet, erstens mangelhaft ermittelt und zweitens für eine Rechtschreibregelung grundsätzlich ungeeignet ist. Die Orientierung am zentralen Wortschatz des Deutschen, verstanden als Morpheminventar, wird im neuen Bericht trotzdem nicht aufgegeben, sondern soll noch verstärkt werden. So verfehlt man den Zweck eines Rechtschreibwörterbuchs. Wenn man Aurikel (angeblich fachsprachlich), Nasenstüber (regional), Boudoir (veraltet) verbannt, bleiben rechtschreibschwierige Wörter weg, also gerade das, wonach man zu suchen pflegt.

Eine implizite Kritik an Augst (dessen Name in früheren Sitzungen nie erwähnt wurde, obwohl er sich mit einigem Recht als den Vater der Reform betrachtet) kann man in den Ausführungen zur Variantenschreibung erkennen. Hier werden einige Neuschreibungen als „forciert integriert“ bezeichnet, ein ganz neu eingeführter Begriff, der so definiert wird:
„Als ‚forciert integriert‘ werden jene Variantenschreibungen eingestuft, bei denen sich innerhalb der ihnen zugehörigen Fallgruppe in der Zeit nach der II. Orthographischen Konferenz von 1901 keine Integrationsbewegungen im Schreibgebrauch feststellen ließen.“ Einfacher ausgedrückt: Augst hat in diesen Fällen Neuschreibungen erfunden, die in keiner Weise angebahnt waren.

In 16 Fällen von Variantenschreibung ist die forciert integrierte Neuschreibung praktisch überhaupt nicht angenommen worden: Butike, Kupee, Mohär, Sutane, Fassette, Kabrio, Krem/Kreme, Maffia, Maläse, Scharm (inkl. scharmant), Sketsch, transchieren, Katarr, Myrre, Schikoree, Schose. Sie werden denn auch zur Streichung vorgeschlagen. (Nur Lindauer und Schrodt waren dagegen.) Hinzufügen möchte der Rat die vier Varianten Caprice, Clementine, Crème, Schmand.

Ausdrücklich erwähnt werden aber noch weitere Neuschreibungen, die entweder gar nicht durchgedrungen sind oder nach Anfangserfolgen immer stärker gemieden werden. Dazu gehören Spagetti, Tunfisch, Kupon. Bei letzterem sank die Quote der reformgerechten Schreibung von anfangs 90% auf nunmehr 5%. Für Tunfisch ist die Quote von rund 50% auf 10-25% gefallen, und auf die Speisekarten hat die Neuschreibung es so wenig geschafft wie die Spagetti. Diese und andere „forciert integrierten“ Formen zur Streichung vorzuschlagen konnte sich der Rat noch nicht entschließen. Wahrscheinlich schreckt er davor zurück, sich an den Augstschen Glanznummern (Tollpatsch usw.) zu vergreifen, weil die Öffentlichkeit dann triumphierend feststellen könnte, daß es wohl mit der ganzen Reform nichts war. Die Streichung von Sutane oder Maffia tut niemandem weh (außer den Wörterbuchverlagen natürlich, die neu drucken müssen).

Ein anderes Thema, das längst hätte angegangen werden müssen: Die Schwierigkeit der Groß- und Kleinschreibung in mehrteiligen substantivischen Fremdlexemen (Ultima Ratio, Corpus Delicti) wird zwar anerkannt, eine Lösung jedoch auf später verschoben, weil es längerer Beobachtung bedürfe. Nicht erwähnt ist, daß die Regelung vor der Reform hier viel einfacher war und sich als sofortige Abhilfe anbietet: das erste Wort groß, alles andere klein. (Güthert scheint Herpes zoster für die richtige Schreibung zu halten. Zoster ist im Griechischen ausschließlich Substantiv.)

Nicht unerwartet, aber doch ganz interessant sind einige Einzelergebnisse. So hat der Rat herausgefunden, daß Stengel vor der Reform niemals falsch geschrieben wurde, nach der Reform aber die Neuschreibung Stängel immer häufiger zugunsten von Stengel gemieden, also jedesmal falsch geschrieben wird. Noch deutlicher ist die Tendenz bei schnäuzen, das in 36% der Fälle zugunsten das alten, vor der Reform praktisch immer richtig geschriebenen schneuzen aufgegeben wird, obwohl die Neuschreibung den Schülern wieder und wieder "eingebläut" worden ist. Seltsam ist die Auskunft zu Bändel: „Bändel weist keine Normabweichung auf. Vor der Reform betrug die Abweichung 100%.“ Das kann nur heißen, daß das alte Bendel vor der Reform immer (!) falsch, also Bändel geschrieben wurde. Nun hatte der alte Duden aber den Bändel und den/das Bendel als regionale Varianten desselben Wortes angegeben, so daß man hier eigentlich nichts falsch schreiben konnte. Der Befund des Rates bleibt rätselhaft. Auch behände wird nach und nach wieder aufgegeben.

In diesem Bereich fällt besonders unangenehm auf, wie der Rat sich über das offenbar Gezwungene der Neuschreibungen hinwegsetzt und die gewaltsame Durchsetzung für eine bloße „Entwicklung“ des Schreibbrauchs zu halten vorgibt. Der Bericht übergeht auch den eigentlichen Kritikpunkt: daß nämlich die meisten „Etymogeleien“ nicht bloß freigegeben, sondern zwingend vorgeschrieben sind. Auch wer weiß, daß einbleuen, Tolpatsch, Zierat nichts mit blau, toll und Rat zu tun haben, muß es jetzt so schreiben, als hätten sie es. Diese Demütigung der Gebildeten war von Augst beabsichtigt und bleibt als ständiges Ärgernis erhalten.

Weitere Überlegungen gelten der inkonsequenten Neuschreibung ganzer vier Wörter: Mopp, Stepp, Stopp, Tipp. Augst hatte vorgesehen: Bopp, fitt, Flopp, Frittfliege, Hitt, Mopp, Pepp, Popp, Sett, Stepp, Stopp, Stripp, Tipp, Topp. Diese Inkonsequenz zu beseitigen wird auf die nächste Amtsperiode verschoben, ebenso die Behandlung der Einzelfälle frittieren, Karamell, nummerieren, platzieren, Stuckateur. Das Schreibvolk kann sich auf etwas gefaßt machen.

Zur s-Schreibung werden keine neuen Argumente vorgetragen. Der Rat folgt der Maxime, die Neuregelung sei nun einmal in Kraft, deshalb solle sie beibehalten werden, denn die Gegenargumente, die einem bei Nussschale einfallen, seien nicht stark genug. Sogar die Untersuchung von Harald Marx, die bei Schülern eine Fehlerzunahme festgestellt hatte, wird zugunsten der Neuregelung verbucht, denn Marx selbst habe darin eine Übergeneralisierung gesehen, die also ihrer Natur nach mit der Zeit verschwinden werde. Der Rat hat herausgefunden, daß die Ersetzug von daß durch dass weitgehend funktioniere (sie ist ja auch leicht programmierbar), aber daß jetzt das und dass viel häufiger verwechselt werden, konnte er mit seinen statistischen Methoden natürlich nicht erkennen.


Gesamtbeurteilung:

Der Rechtschreibrat verbucht die Durchsetzung der Reform als Erfolg, die Qualität des Durchgesetzten spielt für ihn keine Rolle. Die Sprachwissenschaft hat abgedankt zugunsten einer geschäftsrelevanten Durchsetzungsforschung. Mehrmals finden sich Formulierungen wie die folgenden:
„Es ergab sich letztlich weithin eine grundsätzliche Akzeptanz der Regelung in der Form von 2006.“
Mit solchen Sätzen übergeht der Rat die Tatsache, daß die Reformschreibung zwar trickreich durchgesetzt, zu keinem Zeitpunkt jedoch von der Bevölkerung gutgeheißen wurde. Nicht um Akzeptanz geht es, sondern eben um Durchsetzung.

Man darf nie vergessen, daß kein einziges Mitglied des Rechtschreibrates die Rechtschreibreform für gelungen hält. Seine Diskussionen sind daher Spiegelfechterei. Nur an wenigen Stellen läßt der Bericht erkennen, daß die Reform in ihrer ursprünglichen Form ein Fehler war. Er ist verpflichtet, auf der Grundlage dieser Fehlkonstruktion weiterzubauen. Nur weiteres Flickwerk kann das Ergebnis sein.

Hat die Reform, wenn sie schon keine besseren oder auch nur durchgehend korrekten Schreibweisen erzeugt, wenigstens Schülern das Schreiben erleichtert? Das hätte eigentlich von Anfang an empirisch untersucht werden müssen und auch können, aber es ist nicht geschehen. Noch jetzt, vierzehn Jahre nach der Einführung der Reform an den meisten Schulen, müssen sich die Reformer Testergebnisse bei ganz anderen Untersuchungen borgen, um überhaupt irgend etwas zu diesem entscheidenden Thema sagen zu können. Es bleibt vage und vorläufig, der Rat vertröstet auf die nächsten Jahre.


Wie geht es weiter?

Die empfohlenen 20 Änderungen im Wörterverzeichnis sind von demonstrativer Dürftigkeit und Irrelevanz. Die KMK kann sie eigentlich nicht annehmen. Ihre Ministerialbeamten werden ja wohl klug genug sein, die zwingende Folge einer solchen Maßnahme zu überblicken: Neudruck aller Rechtschreibwörterbücher und damit auch neue Verunsicherung. Sie werden also vermutlich sagen: „Wenn in 16 Fällen Varianten wegfallen, die ohnehin niemand nutzt, dann können sie ja auch stehen bleiben, denn sie schaden niemandem. Schüler verwenden diese paar Wörter ohnehin nicht. Und die vier Ergänzungen können später einmal aufgenommen werden. Überhaupt ist es noch zu früh für Änderungen, der Rat soll die Sprache erst einmal weiter beobachten.“

Und dann wird der Rat weitere sechs Jahre seine sinnlosen Gespräche führen, bei denen nur noch die Wörterbuchredaktionen wissen, wovon überhaupt die Rede ist. Oberste Regel ist: Der Inhalt der Neuregelung darf nicht verändert werden, nur Umformulierungen sind zulässig. Wer wird sich dafür hergeben?

Eisenbergs zaghafter Versuch, anläßlich einer verbesserten Formulierung der Regeln zur Groß- und Kleinschreibung zugleich einen inhaltlichen Rückbau einzuschleusen, nämlich die höchst sinnvolle Kleinschreibung von Wendungen wie im allgemeinen, wurde von den Hütern der reinen Lehre sofort durchschaut und zurückgewiesen. Der kleine Vorfall ist bezeichnend. Jeder kleine Ansatz, die bisher übliche Schreibweise wiederherzustellen, wird abgeschmettert, aber der Vorschlag Gallmanns, die unübliche Großschreibung seit Kurzem usw. einzuführen (insgesamt ein Dutzend Formen), wurde 2004 umstandslos angenommen. Es kommt also vor allem darauf an, anders zu schreiben als bisher.

Der unbedingte Wille, nichts mehr zu ändern, führt zu leeren Behauptungen wie dieser:
„Den Bereich der Fremdwortschreibung betreffend ist der Rat nach seiner Durchsicht der einzelnen Bestimmungen insgesamt zu der Überzeugung gelangt, dass mit den im Jahre 2006 vorgenommenen Änderungen eine Regelung vorliegt, die trägt und den Anforderungen gerecht wird.“

Was trägt sie, welchen Anforderungen wird sie gerecht?

Dabei ist überhaupt nicht einzusehen, warum der Rat nur zum Wörterverzeichnis, nicht aber zum Regelwerk Änderungen vorschlagen sollte. Nirgendwo steht geschrieben, daß er das nicht dürfe. Es gibt auch keine Vereinbarung der Ratsmitglieder, das Regelwerk nicht aufs neue anzutasten. Möglicherweise haben die Kultusminister angedeutet, daß sie solche Vorschläge zurückweisen würden, aber bekannt geworden ist davon nichts.

Wie soll es mit dem Rechtschreibrat weitergehen? Sechs weitere Jahre „beobachten“ – das ist kaum möglich, jedenfalls nicht für einen 40köpfigen Rat, dem die Fähigkeiten und Mittel dazu fehlen. Entweder die Kultusminister setzen ein arbeitsfähiges, entsprechend ausgestattetes neues Gremium ein, oder sie bezahlen die Wahrig-Redaktion dafür, daß sie wie bisher die Arbeit macht. Zehetmair will weitermachen. Wahrscheinlich spürt er, daß er den jetzigen Scherbenhaufen nicht einfach liegen lassen kann.


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