08.12.2010


Theodor Ickler

Sprachverführung

Teilweise heiter

Friedrich Kainz erzählt folgende Geschichte, um die Gefahren der Hypostasierung durch Substantive zu erläutern:

"Von einem großen Physiker wird berichtet, er sei in Gesellschaft von einer Dame mit der Frage behelligt worden, woher es wohl komme, daß es im Winter in den Straßen der Städte viel kälter sei als auf freiem Feld. Anstatt zu sagen, das sei barer Unsinn, antwortete der Gelehrte mit ironischem Ernst, das komme daher, daß sich in den Straßen die durch das Heizen aus den Wohnungen vertriebene Kälte ansammle und dadurch jene extrem niedrigen Temperaturen bewirke." (Kainz, Friedrich: Über die Sprachverführung des Denkens. Berlin 1972:219)

In seinem Kapitel über die Wortarten läßt Kainz sich allerdings eine Verführung durch Adjektive entgehen, der sogar und besonders Linguisten gern erliegen. Die typischen Adjektive sind Eigenschaftsbezeichungen, aber manche funktionieren ganz anders. Ich meine jetzt nicht den vielbesprochenen "versuchten Mord", sondern etwas wirklich Gefährliches. Merkmalssemantiker und auch Grammatiker etwa bei der Beschreibung der Artikelfunktionen arbeiten gern mit dem Merkmal "BEKANNT". Ein vorerwähnter Gegenstand soll dieses Merkmal besitzen. Aber in Wirklichkeit verändert sich, wenn ich einen Gegenstand kennenlerne, nicht dieser Gegenstand, so daß er hernach ein solches Merkmal hätte, sondern ich selbst verändere mich, indem ich zum Kenner werde. Die naive Verkennung dieser einfachen Tatsache nutzt Karl Valentin zu seinem oft zitierten Witz: "Vielen Dank für das neue Buch! Leider habe ich keine Zeit, es zu lesen. Schicken Sie mir doch bitte ein schon gelesenes." (Aus dem Gedächtnis zitiert)


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