21.11.2010


Theodor Ickler

Kognitivismus

Sprachwissenschaft auf Abwegen

Wenn einer etwas tut, dann muß er es können. Dem Sprechen liegt also die Sprachfähigkeit zugrunde. Nennen wir sie "Kompetenz", mit einer Nicht-Übersetzung von Chomskys Sprachgebrauch.

"Fähigkeiten zu beschreiben, fällt in die Zuständigkeit der Psychologie, so daß Chomskys Neudefinition bewirkte, daß die Linguistik zu einem Zweig der kognitiven Psychologie wurde." (Miller, George A. (1995): Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Frankfurt. S. 29)

Durch die Neudefinition wurden also sämtliche Sprachwissenschaftler über Nacht zu Psychologen.

"Die Umdeutung der primär nur syntaktischen, formalen generativen Grammatik in ein psychologisches Modell ist eine erstaunliche intellektuelle tour de force gewesen. Nicht minder erstaunlich ist die dadurch bewirkte Rückverwandlung der nordamerikanischen Linguistik, die sich gerade von der Psychologie emanzipiert zu haben glaubte, in einen Zweig der Psychologie." (Fritz Hermanns: Die Kalkülisierung der Grammatik. Heidelberg 1977:12) (Übrigens ein sehr gutes Buch, zu Unrecht fast vergessen!)

Dabei war die Einführung von Sprecher und Hörer ("idealer Sprecher-Hörer") in die Grammatik schon eine Erschleichung, nämlich, wie Esa Itkonen sagt, eine tautologische Verdoppelung der grammatischen Regeln. (Man könnte von einer Allegorie sprechen.)

Seither haben sich Tausende von Sprachwissenschaftlern zu "kognitiven Psychologen" erklärt, ohne jedes Studium der Psychologie. Natürlich kann eine solche Psychologie nur von der Art der rationalistischen sein, die hauptsächlich als Logizismus zu verstehen ist.

Da nun die Sprachfähigkeit unbestritten im Gehirn ihren Sitz hat, konnte man in den letzten Jahren die Schraube noch ein wenig weiterdrehen: Jetzt gibt es die "Neurolinguistik".

"Wie ist Sprache mental und neuronal repräsentiert? Was für Prozesse laufen in unseren Köpfen ab, wenn wir Sprache produzieren und rezipieren?" (Werbetext für Monika Schwarz: Einführung in die Kognitive Linguistik. 3. Aufl. UTB 2008)

Niemand weiß es, aber es wird schon mal unterrichtet, zahllose Studiengänge in "Kognitiver Linguistik" wurden eingerichtet und zertifiziert.

In der Psychologie wurde ein nettes, aber völlig unbedeutendes Buch von Ulric Neisser viel bestaunt, das Gerd Kegel schon vor 40 Jahren treffend als ein "Konglomerat aus Wahrnehmungspsychologie und Transformationsgrammatik" bezeichnete.

Kritische Stimmen gab es gelegentlich, sie gehen aber im allgemeinen Taumel unter. ("This word 'cognitive' begins to assume a rather pompous self-gratified air." [Colin Trevarthen in v. Cranach u. a.: Human ethology. Cambridge/Paris 1979:583])

In der Linguistik ist ein recht naives Werk von Willem Levelt ("Speaking") fast kanonisch geworden, obwohl die begrifflichen Mängel auf der Hand liegen.

Der Gegenstandpunkt in den Worten Skinners:

"Die Kognitionswissenschaft steht auf dem traditionellen Standpunkt: Das Verhalten hat seinen Ursprung im Organismus. Zuerst denken wir, und dann handeln wir. Wir haben Vorstellungen und fassen sie anschließend in Worte. Wir haben Gefühle, dann drücken wir sie aus. Wir haben Absichten, fällen Entscheidungen und entschließen uns zu handeln, bevor wir wirklich handeln. Dagegen sucht der Behaviorist in der Umwelt nach vorausgehenden Ereignissen und nach der Vorgeschichte der Umwelten von Gattung und Individuum. Die alte Formel von Reiz und Reaktion war ein Versuch, den Ausgangspunkt des Verhaltens in die Umwelt zu verlegen, aber davon ist man längst wieder abgekommen. Die Umwelt wählt das Verhalten aus. Die Verhaltensforschung (Ethologie) untersucht das arteigene Verhalten, das den Kontingenzen des Überlebens in der natürlichen Selektion zugeschrieben werden kann. Die Kontingenzen der operanten Bekräftigung wählen in ähnlicher Weise das Verhalten eines Individuums aus, allerdings in einem ganz anderen zeitlichen Maßstab." (Upon further reflection, S. 94)


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