09.06.2005


Theodor Ickler

Entbildungsprogramm

(Neufassung des Memorandums zur Silbentrennung vom 27.3.2005)

Die Silbentrennung hat sich infolge der Rechtschreibreform vom wahrhaft „marginalen“ Bereich zum zentralen Problem für die Lexikographen entwickelt. Darauf weist auch der stellvertretende Dudenchef in einem Aufsatz hin (Sprachwissenschaft 2/2000).
Dieter E. Zimmer spricht von „absurden neuen Trennregeln“ und stellt fest, daß diese Regeln im Gegensatz zu den bisher gültigen nicht mehr in Textprogramme umgesetzt werden können (Die Welt 2.4.2005). Die Konkurrenten auf dem Wörterbuchmarkt wetteiferten jahrelang darin, wer die meisten Trennstellen gemäß den neuen Regeln verzeichnet: a-brupt, as-tigmatisch, Benzo-esäure, Britanni-ametall, Fide-ikommiss, Hämog-lobin, Malari-aerreger, No i-ron, O-blate, Pog-rom, Zirkumsk-ript. Die Dudenredaktion stützt sich auf eine unveröffentlichte, 60 Seiten umfassende Liste von Trennstellen, die mit der inzwischen aufgelösten Kommission abgesprochen war (vgl. Werner Scholze-Stubenrecht in Sprachwissenschaft 2/2000). Im zweiten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission hieß es bereits: „Im Bereich der Worttrennung einigte man sich darauf, bei einer Reihe von Fremdwörtern Trennungen, obschon prinzipiell möglich, in den Wörterbüchern dann nicht vorzuführen, wenn bestimmte Bestandteile wie -chron, -drom, -gramm, -graph, -klast, -krat usw. auch in anderen Zusammenhängen als Einheiten empfunden werden.“

Mit solchen halbprivat vereinbarten und daher keineswegs verbindlichen Selbstbeschränkungen ist das Problem aber nicht gelöst. Das Aldi-Wörterbuch hat fast alle „prinzipiell möglichen“ Trennungen: Demok-rat, rep-räsentieren, Rep-rint, rep-roduzieren usw., und sie wären bei strikter Orientierung am Regelwerk nicht einmal zu beanstanden, zumal die „vereinbarten“ Trennungen keineswegs intelligenter wirken. Es ist eben von vornherein bedenklich, Trennungen einzuführen, aber dann in den Wörterbüchern zu unterdrücken.

Die Listen scheinen aber nicht einmal auszureichen. Noch das neueste Duden-Fremdwörterbuch (2005) zeigt dieselbe Inkonsequenz wie die ersten reformierten Wörterbücher: Man findet zwar Tausende von waghalsigen, lediglich dem Buchstaben der Reform gerecht werdenden Trennungen wie Dias-pora, Pant-ragismus, raf-raichieren, Ref-reshing, Renek-lode, rest-rukturieren, Su-burb, Subsk-ript, Tee-nager. In vielen, stets unvorhersehbaren Fällen wird jedoch auf eine ebenfalls regelkonforme Trennung verzichtet: An-idrose (aber a-nonym), Ant-arktis (aber An-tagonist), Kranio-stenose (aber Kranios-tat) usw. Während An-o-xie nur einen einzigen überflüssigen Trennstrich hinzubekommen hat, wird A-n-o-re-xie mit deren zwei ausgestattet. Es heißt dip-loid, trip-loid, aber nur okto-ploid usw. Während das Österreichische Wörterbuch Palind-rom trennt, ohne Rücksicht auf andere Zusammensetzungen mit -drom, wollen Duden und Bertelsmann davon nichts (mehr) wissen.

Fremde Eigennamen werden auf die abenteuerlichste Weise getrennt: Tu-ten-cha-mun (Duden 2004). Während das Chinesische immer wichtiger wird und auch die Rundfunksprecher sich um die halbwegs korrekte Aussprache chinesischer Namen bemühen, wollen die Wörterbücher davon nichts wissen. Laotse ist zweisilbig, bekommt im Duden aber drei Trennstellen: La-o-t-se. Während Bertelsmann sich zur sprachgerechten Trennung Jang-tse bekennt (aber inkonsequenterweise auch Ho-ang-ho verzeichnet), will Duden auch Jangt-se gelten lassen.

Die Lösung kann nicht darin bestehen, die Wörterbücher zu immer „konsequenterer“ Anwendung der neuen Regeln zu drängen. Vielmehr tut eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Trennens not. Dieser Zweck besteht ja nicht darin, „keine Fehler zu machen“; er besteht vielmehr darin, die Zeilen in gefälliger Weise zu füllen und gleichzeitig das Lesen nicht zu erschweren. Im Deutschen hat sich dazu das auch von der Reform nicht angefochtene Prinzip herausgebildet, zusammengesetzte und präfigierte Wörter zunächst in ihre Konstituenten zu zerlegen und dann nach Sprechsilben zu trennen. (Das amtliche Regelwerk ist bekanntlich fehlerhaft strukturiert, da es die Reihenfolge dieser beiden Grundregeln vertauscht: § 111 gehört vor § 107; die Verteidigung der jetzigen Reihenfolge im vierten Bericht der inzwischen aufgelösten Kommission überzeugt nicht.)

Ein altes Problem ergibt sich daraus, daß erstens einheimische Zusammensetzungen bis zur Undurchschaubarkeit verschmolzen sein können, zweitens bei Fremdwörtern für den weniger gebildeten Sprachteilhaber die Durchsichtigkeit ohnehin nur in Grenzen gegeben ist. Die Reform „löst“ das Problem, indem sie für alle Zweifelsfälle silbische Trennung zuläßt, morphologische Trennung aber nicht untersagt. In dieser auf den ersten Blick salomonischen Lösung steckt der Keim des Zerfalls. Die Schweizer Reformer haben das erkannt und wollen, wie wir sehen werden, auf recht gewalttätige Weise vorbeugen.

Betrachten wir die Folgen zunächst für die einheimischen Wörter. Wir sprechen meistens (aber nicht immer und mit regionalen Unterschieden) herum, einander, vollenden usw. gebunden. Wer den Aufbau dieser Zusammensetzungen nicht mehr durchschaut, darf nach Sprechsilben trennen. Die Dudenredaktion gibt vor, die Zusammensetzungen nicht zu durchschauen, und trennt in ihrem eigenen Schreibbrauch grundsätzlich nur noch he-rum, nebenei-nander usw. (Bei Schülern fördert die neue Trennweise die schon länger bekannte hyperkorrekte Syllabierung her-rum, vor-raus usw.) Ich halte das nicht für wünschenswert und glaube auch nicht, daß gebundene Aussprache notwendigerweise auf morphologische Undurchschaubarkeit schließen läßt. Vielerorts spricht man auch Verein usw. gebunden und ist sich dennoch über die Präfigierung völlig im klaren.

Wichtiger ist die Fremdwortfrage. Bei einigen gut integrierten Fremdwörtern, besonders aus dem Griechischen bzw. nach griechischem Vorbild geschaffenen, war die silbische Trennung bereits vor der Reform angebahnt: Epi-so-de, Ka-lei-doskop, Ka-tode, Le-thargie. Die Neuregelung möchte den Schülern und Wenigschreibern entgegenkommen, keiner soll sich mit falschen Trennungen blamieren können. Das Gegenteil wird erreicht: Die beiden Trennweisen werden ja niemals als gleichwertig gelten, sondern es wird immer die bessere Trennweise der Kundigen einer behelfsmäßigen zweitklassigen Trennung durch den Unwissenden gegenüberstehen. Das hat übrigens schon Bernd-Axel Widmann von der Schulbehörde Hamburg in einer Stellungnahme zum Reformentwurf vorausgesehen. Er schrieb am 14.10.1994 an die KMK: „Es könnte sein, daß zukünftig in zwei Klassen von Schreibern unterschieden wird: in eine Elite, die allgemeingebildet ist und größere Chancen z. B. bei Einstellungen hat, und in eine große ungebildetere Gruppe, die vereinfacht schreibt und geringere Aufstiegschancen besitzt.“ Zur gleichartigen Vision der Schweizer Reformer Gallmann und Sitta s. u.

Das Problem ist für Selbstschreibende nicht ganz so brennend, denn wer nicht weiß, wie z. B. Kontrition zusammengesetzt ist, wird es wahrscheinlich ohnehin nicht gebrauchen. Die vom Duden (2004) vorgeschlagene Trennung Kont-rition braucht er daher nicht in Anspruch zu nehmen. Wer das Wort andererseits kennt und benutzt, dürfte auch wissen, wie es sich zusammensetzt. Die Rechtschreibreform hat implizit den Schreiber von Fremdtexten im Auge, der nach Diktat einen Text schreibt, den er nicht versteht. Gerade ein solcher Schreiber oder vielmehr eine Schreiberin, denn es ist typischerweise die Sekretärin, kann mit der Billigschreibung nichts anfangen. Die Professorin kann und wird nicht zulassen, daß ihr Text durch A-nurie, Ap-lanat, Apop-tose, Apos-t-roph, Herost-rat, Legas-thenie, Manusk-ript, Metas-tase, Me-töke, Monoph-thong usw. verunziert wird. Welcher Mediziner wird den Fachausdruck für einen Fehlgeburt A-bort schreiben? (Duden-Fremdwörterbuch; in Langenscheidts Großwörterbuch DaF wird der Abtritt so getrennt, das DUW trennt vorsichtshalber in beiden Fällen überhaupt nicht mehr.)

(Oder doch? Immerhin erscheinen im Verlag de Gruyter sprachwissenschaftliche Fachbücher, in den man lesen kann: As-pekt, prob-lematisch, Kons-tituente, Res-triktion, hie-rarchisch [Ágel, Vilmos u. a., Hg.: Dependenz und Valenz. Erster Halbband Berlin 2003; = HSK 25.1]. Die Produkte dieses Unternehmens sind in allen Bereichen der Orthographie besonders verwahrlost; allein die beiden HSK-Bände „Deutsch als Fremdsprache“ enthalten schätzungsweise 3.000 orthographische Fehler.)

Außerdem unterläuft die exzessive Silbentrennung den Bildungsanspruch der Schule. Man sieht dies zum Beispiel an folgendem Eintrag im neuen Fremdwörterduden: A-nekdote „noch nicht Herausgegebenes“ – wo die beigegebene Erklärung der unsinnigen Trennung den Boden entzieht. (Das Duden-Universalwörterbuch versagt sich, um die unsinnige Abtrennung des A- nicht präsentieren zu müssen, sogar die morphologisch richtige Trennung An- und läßt die Trennbarkeit erst mit Anek- beginnen.)

Nachdem die „Chronik der Weltgeschichte“ (Chronik-Verlag 2000) Dry-opithecus getrennt hat, glaubt sie wohl selbst an den „Opithecus“ und unterzieht auch den Austral-opithecus einer entsprechenden Operation.
Besonders die Präfixe und Präfixoide aus den alten Sprachen sind heute das Material einer ungemein fruchtbaren Lehnwortbildung. Es ist widersinnig, ständig neue Wörter mit inter-, anti-, para-, bio-, öko- usw. zu bilden und gleichzeitig so zu tun, als erkenne man diese Bestandteile nicht wieder: Inte-resse, Mikros-kop, Prog-nose usw. Mit Katastrofe, wie ursprünglich geplant, könnte man sich abfinden, mit Katas-trophe und Katast-rophe (Duden, ÖWB) nicht.

Das „Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache“, nach dem auch Franzosen Deutsch lernen, kennt nur noch malt-rätieren und ungezählte andere Torheiten dieser Art! Aber an Deutsch als Fremdsprache und die Auslandsgermanistik ist ja bei der Reform sowieso nicht gedacht worden. („Bei den Reformüberlegungen spielte der Erwerb des Deutschen als Fremdsprache // Zweitsprache keine Rolle.“ Goethe-Institut, Website)

Welches bildungspolitische Konzept der neuen Silbentrennung zugrunde liegt, geht besonders klar aus den Arbeiten der Reformer Gallmann und Sitta hervor:

„Wo Varianten vorkommen, sehen die Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhaber oft nicht ein neutrales Nebeneinander; vielmehr besteht die Gefahr, dass es zu Vorzugsvarianten und Varianten minderen Werts kommt. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass (vor allem bei denen, die Latein und Griechisch lehren oder lernen) die Trennung des Typs Päd-ago-gik oder He-li-ko-pter gegenüber der des Typs Pä-da-go-gik und He-li-kop-ter zur Vorzugsvariante wird – und sich damit eine Schreibung für die Gebildeten und eine für das 'Volk' etabliert. Eine solche Entwicklung wäre nicht zuletzt deswegen ärgerlich, weil dann bei der eines Tages zu erwartenden Aufgabe der Variantenschreibung die Trennung nach Sprechsilben als Variante minderen Werts aufgegeben würde. Hier hat die Schule eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.“ (Peter Gallmann / Horst Sitta: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bern 1999)

Ähnlich im „Handbuch Rechtschreiben“ 1996, S. 197:

„Für die Zukunft heikel ist, dass die Reform einige alte Regelungen nicht einfach abgeschafft, sondern als Varianten bestehen lassen hat. (...) Das gilt für die Trennung zusammengesetzter Fremdwörter. (...) Wo mehrere Möglichkeiten bestehen, sehen die Benutzer oft nicht ein neutrales Nebeneinander, es besteht vielmehr die Gefahr, dass es Vorzugslösungen und Lösungen geringeren Wertes gibt. In unserem Fall könnte das bedeuten , dass – vor allem bei denen, die Latein und Griechisch lernen – bei zusammengesetzten Fremdwörtern die Trennung nach Bestandteilen zur Vorzugsvariante wird. Auf diese Weise könnten sich zwei Trennungen herausbilden: diejenige der 'Gebildeten' und diejenige der 'Ungebildeten'. Eine solche Entwicklung wäre wor allem deswegen ärgerlich, weil aller Erfahrung nach das Nebeneinander mehrerer Möglichkeiten irgendwann wieder aufgegeben wird – eine einheitliche Schreibung wird in unserem Sprachraum ja durchaus als Wert gesehen. Aufgegeben aber würde (...) wohl die Trennung nach Sprechsilben. (...)

Die Schule sollte ihren Einfluss dahingehend einsetzen, dass dort, wo von der Neuregelung mehrere Möglichkeiten angeboten werden, diejenigen vorgezogen werden, das heißt: einzig gelehrt werden, die sich auf das muttersprachliche Sprachgefühl rückbeziehen lassen. (...) Auch in zusammengesetzten Fremdwörtern wird grundsätzlich silbisch getrennt.“

Gallmann und Sitta wissen und geben zu, daß ihr Programm, die sprachkundigen Trennungen in der Schule zu unterschlagen und später ganz zu verbieten, dem Wunsch der Sprachgemeinschaft entgegenläuft. Bezeichnend ist, daß sie von Gebildeten und Ungebildeten nur in Anführungszeichen sprechen. Jugendliche, die Latein (!) und Griechisch (!!) lernen und daher in fremden Zusammensetzungen ohne weiteres die Bestandteile erkennen, sind ihnen ein Dorn im Auge. Solche eingebildeten Schlingel müssen gedemütigt werden, indem man ihnen verwehrt, anders als nach „Sprechsilben“ zu trennen.

Das Programm entspricht genau dem „Wortfamilienwörterbuch“ Gerhard Augsts, einer Apotheose des Banausentums, für die der Verfasser 25 positive und nur eine negative Besprechung erhalten haben will (die negative unter dem Titel „Spekulative Volkslinguistik“ ist die umfangreichste, ich schicke sie auf Wunsch gern zu).

Es ist nicht anzunehmen, daß Sitta und seine drei Schüler (Gallmann, Lindauer, Looser; alle vier sind außerdem Duden-Autoren) im Rat für deutsche Rechtschreibung ihren Standpunkt aufgeben. In der Arbeitsgruppe Silbentrennung wird er von Ulrike Steiner vertreten, die jedoch ein Verbot der morphologischen Trennung nicht in Erwägung zieht.

Die Trennbarkeit von st ist vielleicht der einzige Teil der Rechtschreibreform, gegen den aus sprachwissenschaftlicher Sicht nichts einzuwenden ist; nötig war sie allerdings nicht, denn die bekannte Ausnahmeregel war im Handumdrehen erlernbar. Sie wurde auch vom PC beherrscht, dem man nur die Sonderfälle wie Diens-tag eingeben mußte.

Dagegen ist die Nichttrennbarkeit von ck aus mehreren Gründen verfehlt: sie verstößt klar gegen die richtige Einstufung des ck als Ligatur anstelle von kk nach § 3 der Neuregelung, und sie verstößt eben deshalb auch gegen die Grundregel der Syllabierung. Außerdem führt sie in Verbindung mit der Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben zu unakzeptablen Gebilden wie Dusche-cke usw. Worum es sich wirklich handelt, hat Wilmanns schon vor langer Zeit so gedeutet:

„Das Zeichen (ck) war von den altdeutschen Schreibern mit guter Überlegung gewählt, c bedeutete ihnen im Gegensatz zu k den leichteren, nicht aspirierten Laut; darum steht in der Verdopplung k an zweiter Stelle, wo ein Vokal folgt, c an erster, wo der folgende Konsonant den Laut weniger stark erscheinen läßt.“ (Wilhelm Wilmanns: Die Orthographie in den Schulen Deutschlands. Berlin 1887 S. 136f.) Es sei daher zu trennen „nicht ha-cken, sondern hak-ken; denn es ist kein Grund vorhanden, warum man die Ligatur ck nicht ihrer Bedeutung gemäß auflösen und durch kk ersetzen sollte.“ (S. 246) Übrigens wird dt nach wie vor getrennt: Städ-te. In den neuen Wörterbüchern findet man Trennungen wie Mixpi-ckles. Das erledigt sich wohl von selbst. Abhilfe schafft aber nur die Rücknahme der Reformschreibweise, die ja, was diesen Punkt betrifft, nach einem langen Streit über Zuc-ker/Zuk-ker/Zu-cker eher zufällig eingeführt wurde. Interessanterweise bezeichnet der führende Reformer Dieter Nerius die Nichttrennung von ck ausdrücklich als „von der Silbengelenkschreibung abweichende Ausnahme“ (Fleischer/Helbig/Lerchner: Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache. Frankfurt 2001, ähnlich schon in Nerius 1996, S. 84); in der amtlichen Neuregelung selbst und der propagandistischen Begleitliteratur war das nie eingestanden worden.

Neu ist die Bestimmung, daß ss, wo es ersatzweise für ß steht, getrennt wird: beis-sen (§ 110) – ein weiterer Verstoß gegen die Syllabierung, jedoch als Schweizer Konvention hinnehmbar.

Völlig unnötig ist die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben, ein bloßes Ergebnis weltfremder Prinzipienreiterei – damit „keine Ausnahmen“ mehr bleiben (in diesem Fall von der Trennung nach Sprechsilben). Ein einzelner Buchstabe am Ende der Zeile ist niemals informativ, die Trennung daher ausnahmslos sinnstörend. Da die neue Regel – ein regeltechnischer Fehler – mit einer Begründung einhergeht, warum die Abtrennung am Ende eines Wortes nicht stattfindet (weil nämlich der Trennungsstrich denselben Raum einnimmt wie der abgetrennte Buchstabe), haben die Wörterbücher gefolgert, daß im Inneren einer Zusammensetzung oder Präfixbildung die Abtrennung wieder zulässig ist: Kore-akrieg, Bi-omüll usw. So steht es heute in den Wörterbüchern.

Dieser Teil der Reform ist von der Sprachgemeinschaft praktisch überhaupt nicht angenommen worden; nur in Schulbüchern lernen die Kinder:

„Alt: Aber, Atem, Eber, eben, Osten: Buchstaben so ganz allein, liebes Kind das darf nicht sein.
Neu: A-ber, E-ber, e-ben, O-fen, U-fer: Vokale stehen auch allein, das finden sie besonders fein.“
(Sprachbuch 5, Bayerischer Schulbuchverlag 1996)

Während bei der herkömmlichen Silbentrennung einige wenige stilistische Warnungen vor weit hergeholten Anwendungen wie den berühmten Spargel-dern und Drucker-zeugnissen genügten, muß man angesichts der Neuregelung Tausende von Warnschildern aufstellen: Berga-horn, Ebere-sche, Musse-he, Soapo-pera, ebenso die grundsätzlich zulässigen Fälle Kore-akrieg, Bi-omüll usw. Die Unterscheidung von „theoretisch möglichen“ und praktisch empfohlenen Trennungen ist sinnlos, weil das ganze Trennen eine rein praktische Angelegenheit ist und bleibt.



Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=131