11.02.2010


Theodor Ickler

Kein „Absentiv“ im Deutschen

Für eine sparsamere Grammatik

Seit einigen Jahren wird eine sprachliche Erscheinung diskutiert, der man den sprechenden Namen „Absentiv“ gegeben hat. Die Absentivkonstruktion besteht aus

Subjekt + Verb sein (finit) + Handlungsverb (Infinitiv) (König 2009:42)

Ein Beispiel wäre Hans ist einkaufen

Eine maximale Beschreibung des „Absentivs“ sieht etwa so aus:
„i. Morphosyntax
a) Es liegt das Verb sein sowie ein weiteres Handlungsverb vor, wobei das Subjekt in jedem Fall mit sein kongruiert.
b) Es dürfen nicht obligatorisch Elemente wie weg, (weg)gegangen und Ähnliches vorkommen, die auf lexikalischer Ebene Abwesenheit signalisieren.

ii.Semantik
a) Die im Subjekt kodierte Person X hat sich vom Ausgangsort als dem deiktischen Zentrum entfernt und ist abwesend, d. h. auch nicht in Sichtweite.
b) Grund der Abwesenheit von X ist eine im Handlungsverb kodierte Tätigkeit an einem anderen Ort.
c) Grundsätzlich wird angenommen, dass X nach einer der Tätigkeit angemessenen zeitlichen Abwesenheit wieder zurückkehrt.
d) Diese Tätigkeit wird von X regelmäßig durchgeführt (z. B. als Hobby).”
(Vogel 2007:253, ähnlich in Hentschel/Vogel 2010)

Die Bestimmung i.b) (die auf de Groot zurückgeht) ist ungenau: Zwar enthält die Absentivkonstruktion definitionsgemäß kein Partizip wie gegangen, aber ein solches würde die Abwesenheit – im Gegensatz zu weg – nicht „lexikalisch signalisieren“. Jemand kann gegangen sein, ohne weggegangen zu sein; gehen bedeutet an sich nicht 'sich entfernen', sondern wird nur in gewissen Zusammenhängen (wenn nichts anderes erwähnt ist) so verstanden.

Wichtiger ist die Frage, ob die Konstruktion tatsächlich Abwesenheit ausdrückt. König faßt die vorherrschende Ansicht zusammen, „dass die Abwesenheit den Kern der Absentivsemantik bildet“ (König 2009:65). Weiter führt sie aus:

Peter ist pokern. - Dieser Satz sagt aus, dass Peter sich zum Sprechzeitpunkt vom Topikort entfernt aufhält und dass der Grund für seine Abwesenheit das Pokern ist, dem Peter nachgeht (bzw. im Begriff ist nachzugehen oder bis eben nachgegangen ist).“ Derselbe Gedanke wird noch mehrmals ausgedrückt und stimmt mit der Auffassung anderer Autoren überein. Auch Metzlers Lexikon Sprache z. B. definiert den Absentiv als „Ausdruck der Abwesenheit der vom Subj. bezeichneten Person, im Dt. ausgedrückt durch eine Prädikativkonstruktion mit dem Inf. eines Handlungsverbs, z. B. Clemens ist einkaufen, Jenny ist schwimmen.“ (Glück 2005:7)

Der Begriff „Topikort“ ist in der Sprachwissenschaft ungebräuchlich und bleibt auch recht vage: „Beim Topikort handelt es sich typischerweise um einen Ort, an dem die fragliche Person normalerweise anzutreffen ist bzw. an welchem ihre Anwesenheit innerhalb des Diskurses zu erwarten ist.“ (König 2009:42) Damit wird immerhin Vogels Festlegung auf das „deiktische Zentrum“, also wohl den Ort des Gesprächs (so versteht es auch Abraham: „the speaker's place“), relativiert – eine, wie sich zeigen wird, notwendige Korrektur.

Auf die Frage Wo ist Hans? kann zwar mit Hans ist einkaufen geantwortet werden. Genau genommen ist es aber keine direkte Antwort. Denn aus der Aussage, daß sich jemand zu einer Tätigkeit begeben hat, muß man erst schließen, daß er nicht anwesend sein kann. Dazu ist aber die weitere Voraussetzung erforderlich, daß die betreffende Tätigkeit nicht am selben Ort ausgeübt werden kann. So auch, wenn ein Anrufer meine Frau sprechen will und ich antworte Meine Frau ist einkaufen. König drückt sich also ungenau aus:
„Da es demnach offenbar zwei Möglichkeiten gibt, die Frage Wo ist XY? zu verstehen, gibt es auch zwei Möglichkeiten, auf diese zu antworten. Diese Möglichkeiten sind der Lokativ (im ersten Fall) und der Absentiv (im zweiten).“
Vielmehr ist die erste Anwort direkt, die zweite indirekt. Auch Abraham versteht die Abwesenheit als „impliziert“, also nicht direkt ausgedrückt. Ich war schon lange nicht mehr Tennis spielen klingt natürlicher als Ich war schon lange nicht mehr Klavier spielen. Es ist eben nicht selbstverständlich, daß man sich zum Klavierspielen an einen anderen Ort begeben muß. (Wer freilich über das Internet einkauft oder bei einem Direktvertreiber, der ins Haus kommt, geht nicht einkaufen und ist nicht einkaufen. Regional sagt man einholen, worin das Fortgehen und Zurückkommen deutlicher enthalten ist. Einkauf ist ein abstrakterer Begriff, der sich auch allein auf die geschäftliche Transaktion beziehen kann.)

Geradezu gewaltsam wirkt die Abwesenheitsdeutung bei Sätzen wie Ganz Breslau scheint hier einkaufen zu sein.
Hier wird ja gerade die Anwesenheit kommentiert. Die Anwesenheit an einem Ort impliziert zwar die Abwesenheit von einem anderen, aber eine solche Erklärung ähnelt allzu sehr dem Muster „lucus a non lucendo“.

Gegen die Abwesenheitsdeutung spricht noch folgendes: Gerade im paradigmatischen Fall, dem „Absentiv“ als Antwort auf die Frage Wo ist er?, kann die Antwort nicht die Abwesenheit ausdrücken, denn diese ist dem Fragenden ja bekannt, sie war die Voraussetzung seiner Frage.

Abraham legt die Konstruktion definitorisch auf „Abwesenheit“ fest und schließt deshalb die erste und zweite Person aus, weil Sprecher und Hörer nicht außerhalb der Kommunikationssituation sein können. Wenn man aber die Konstruktion „Subjekt + Verb sein (finit) + Handlungsverb (Infinitiv)“ unvoreingenommen untersuchen will, darf man sich nicht auf jene Verwendungsweisen beschränken, die einer vorgefaßten Ansicht über ihre Funktion entsprechen.
Auch König wendet sich gegen Abrahams Einschränkung:
„In der heutigen Zeit ist aber dank moderner Kommunikationsmittel vieles möglich, auch ein Absentiv in der ersten Person im Präsens. Der Satz Ich bin einkaufen klingt als Antwort auf die Frage „Wo bist du?“ übers Handy ganz passabel. Während ich dies sage, bin ich im Normalfall für die Person am anderen Ende der Telefonverbindung abwesend. Hier sieht man, dass technischer Fortschritt auch neue grammatische Möglichkeiten mit sich bringen kann.“
Allerdings ist die grammatische Möglichkeit nicht neu, denn Bin einkaufen ist die klassische Botschaft, die man schriftlich auf dem Küchentisch hinterläßt.

König weist selbst darauf hin, daß der „Absentiv“ nicht nur auf eine Frage wie Wo ist er? antwortet, sondern auch in Erzählungen und anderen Texten auftritt:
„Gestern, als ich in Saida arbeiten war, kam ein libanesischer Geheimdienstler und fragte, was ich hier tue“, beginnt er zu erzählen. (Beispiel von König)
Weitere Beispiele (aus dem Internet) machen vollends deutlich, daß es nicht immer darum geht, Abwesenheit von einem Bezugsort auszudrücken:
Als ich gerade nach langer Zeit mal wieder bei Rewe einkaufen war, kam mir im Gang die Verkäuferin entgegen, schaute mich von oben bis unten an, lächelte und sagte Hallo.
Der Flyer lag ironischerweise in einer Zoohandlung aus, in der ich gerade einkaufen war.
Nein, ich habe diese Creme probiert, weil ich gerade einkaufen war und mal was Neues ausprobieren wollte.
Immer wenn ich einkaufen bin, bringe ich meinen beiden Kaninchen etwas mit.
Hier waren wir schon oft essen.
Immer wenn wir essen sind und ich meine Lammpfanne ess - schüttelt es ihn!
Ich war unterschreiben, eigentlich war das Thema ja durch, bis die neue Regierung in Bayern wieder "kippen musste".
(Es geht um das Volksbegehren zum Rauchverbot)
Ich geb's öffentlich zu: Ich war unterschreiben. (ebenso)
Ich war Blut spenden.
Wie oft bist du schon Blut spenden gewesen?


Zwar implizieren alle Beispiele, daß der Betreffende sich anderswohin begeben hat, um die genannte Tätigkeit auszuüben, aber die Abwesenheit ist nicht der eigentliche Inhalt der Aussage.

Beispiele wie ich war unterschreiben widersprechen auch der Ansicht, daß es sich beim Infinitiv um ein „duratives“ Verb handeln müsse. Nicht einmal die eigene Aktivität des Subjekts ist erforderlich:
Das Mädchen war Haare schneiden. Ich war Blut abnehmen. (vom Patienten geäußert)

Die Dudengrammatik behauptet: „Sein bildet mit dem Infinitiv intransitiver Tätigkeitsverben 'absentive' (lat. 'abwesend') Verbalkomplexe (Krause 2002:23): Frida ist wieder schwimmen.“ (Dudengrammatik 2005:434)
Die Verben können aber auch transitiv sein: Frieda ist Blut spenden, Haare schneiden, Schuhe kaufen, Tennis spielen, Bücher ausleihen, Kaffee holen, Pilze sammeln.

Daß die Person nach beendeter Tätigkeit an den Ausgangsort zurückkehrt, ist nicht zwingend, läßt sich aber vermuten, denn wenn die Tätigkeit der Grund für die Ortsveränderung war, dann wird die Person sich danach wohl wieder am früheren Ort befinden.

Zu der Annahme, es handele sich um eine wiederkehrende Tätigkeit, könnte man aufgrund folgender Überlegung gelangen: Es muß sich um eine übliche Tätigkeit handeln, sonst wäre dem Hörer nicht klar, warum man ihretwegen den Ort wechseln sollte. Eine außergewöhnliche oder sehr abstrakt umschriebene Tätigkeit wäre als Begründung weniger verständlich: sie ist kneten, auswandern, Stellung nehmen, Berufung einlegen usw. Die üblichste Tätigkeit, die heute eine Fortbewegung aus dem gewohnten Raum motiviert, ist anscheinend das Einkaufen; nach einer Erhebung von König ist einkaufen das mit Abstand häufigste Verb in Absentivkonstruktionen. Die Gewöhnlichkeit der Handlung kann mit regelmäßiger Wiederholung zusammenhängen, aber das ist nicht zwingend, vgl. die Beispiele mit unterschreiben oder Blut spenden.

Auf hobbymäßig betriebenes Verhalten oder ähnliche Zusatzbedingungen schließlich deutet gar nichts hin.


Sucht man nach einer Gemeinsamkeit sämtlicher Beispiele, die nicht vorab auf „Abwesenheit“ festgelegt ist, so stößt man auf den finalen Infinitiv. Er geht wahrscheinlich auf den Akkusativ eines Verbalsubstantivs zurück. In der älteren Sprache war er verbreiteter, heute wird das finale Verhältnis oft durch die Präposition zu oder eine Konstruktion mit um zu verdeutlicht.
„...it gradually became more common to place before the infinitive the preposition zu or later also um zu, which brought out the idea of purpose more clearly.“ (Curme 1922/1964:275)

Es sind zwei Fälle zu unterscheiden:
1. Der freie finale Infinitiv ohne zu ist heute recht selten. Weder in Eisenbergs Zusammenstellung der Infinitivkonstruktionen (1999:339) noch im Handbuch der deutschen Wortarten (Hoffmann 2007) wird er erwähnt. Immerhin kommt er vor:
Aber meistens sitze ich natürlich im italienischen Eiscafé Teenager beobachten. (Eckhard Henscheid: Geht in Ordnung – Sowieso – Genau. Frankfurt 1979:20)

2. Der Infinitiv nach Verben der Fortbewegung.
Recht häufig ist der reine Infinitiv nach Verben der Fortbewegung. Eisenberg schreibt:
„Semantisch kommt der Typ 1b [Egon geht schwimmen] einem finalen Adverbial nahe. Der Vergleich von Karl fährt Milch holen mit dem finalen Infinitiv Karl fährt, um Milch zu holen zeigt aber, daß nicht Finalität im engeren Sinne vorliegt. Finalität ist eine Relation zwischen voneinander getrennten Sachverhalten. Eine solche Trennung ist bei Karl fährt Milch holen nicht gegeben.“ (Eisenberg 1999:341)
Der Beispielsatz ist so gewählt, daß zumindest in einer bestimmten Lesart die Getrenntheit der beiden Sachverhalte nicht deutlich wird, weil das Fahren als Teil des Holens verstanden werden kann (s. o. zu einholen). Vgl. aber Karl fährt in die Stadt Milch holen. Hier lassen sich die beiden Sachverhalte leichter trennen: Karl fährt in die Stadt, und zwar Milch holen. Nur bei spazierengehen sind die Sachverhalte eindeutig nicht getrennt, denn man geht nicht, um dann zu spazieren, sondern macht einen Spaziergang, wie es bezeichnenderweise heißt. Das Verb gehen legt „troponymisch“ die Art des Spazierens im Unterschied zu fahren, reiten usw. fest.

„Eine alte Verwendung des Inf. ist die nach Verben der Bewegung zur Bezeichnung des Zieles, wovon sich Reste erhalten haben. So nach gehen. Allgemein üblich sind schlafen, baden gehen. Bei betteln und spazieren gehen denkt man jetzt nicht mehr an das Ausgehen zu einem Zwecke, sondern an den Verlauf des Bettelns und Spazierens.“ (Paul 1920, Bd. IV:95)
Im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform war darauf hinzuweisen, daß kennenlernen, spazierengehen usw. im Gegensatz zu schwimmen lernen, schwimmen gehen keine zwei getrennten Sachverhalte (mehr) bedeuten (woraus freilich nicht folgt, daß es sich um Komposita handeln müsse, und die konventionelle Schreibweise ist wiederum etwas anderes).
Gerade die Abwertung des Fortbewegungsverbs ist die Voraussetzung seiner Ersetzung durch sein:
Karl ist in die Stadt Milch holen.
Es kommt auf das Ziel an, nicht auf die Fortbewegungsweise. Regional kennt man das Allerweltsverb machen in dieser Funktion: Er macht über die Grenze.

Der als „Absentiv“ beschriebene Fall wurde traditionell als elliptische Konstruktion verstanden. Weggefallen wäre demnach das Partizip II eines Fortbewegungsverbs wie gegangen. Diese Erklärung vertritt im wesentlichen auch noch Werner Abraham und weist darauf hin, daß die Fortbewegungsverben typischerweise ihr Perfekt mit sein bilden. (Bei Abraham wird das fortgefallene Verb zum „silent trigger“. Der Lehre von solchen stummen Kategorien schließe ich mich nicht an.) Man braucht sich nicht auf gehen festzulegen, die Synonyme haben denselben Effekt, vgl.
Er ist zu Schiff nach Frankreich (gegangen, gefahren, gesegelt ...) (Schiller) Stefenson ist nach Amerika hinüber. (Paul Keller: Ferien vom Ich. Berlin 1915:367)
Mit einem harmlosen Psychologismus könnte man sagen, dem Sprecher schwebe allgemein eine Ortsveränderung vor und führe zur Wahl des Hilfsverbs sein.
Die große Unsicherheit hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung (viele Belege für Ich bin Blutspenden, Skifahren [gegangen]) deutet auf den empfundenen Substantivcharakter des finalen Infinitivs hin.

Die Zielangabe kann auch mehrfach gesetzt werden, wobei die erste durch die zweite präzisiert wird:
Er fährt nach Frankfurt die Messe besuchen.

Zumindest ein Teil der „absentiven“ Konstruktionen fügt sich damit in das allgemeinere Muster der Nichtsetzung von Fortbewegungsverben bei Richtungsangaben: ich muß zur Arbeit, sie darf in die Schule usw. Es ist besser, hier von „Nichtsetzung“ zu sprechen, um sich nicht auf den problematischen Ellipsenbegriff festlegen zu müssen. Blatz schreibt zwar: „Ziemlich veraltet ist der finale Infinitiv nach sein = gegangen sein, z. B. (...) Er ist jagen.“ (Blatz 1900:569) Aber auch diese Umschreibung muß nicht im Sinne einer elliptischen Deutung verstanden werden. Vgl. noch:
„In Verbindungen von Hilfszeitwörtern mit Bewegungsverb kann dieses erspart werden, so daß äußerlich betrachtet der Inf. nach sein, wollen usw. steht.“ (Behaghel 1924:317)

Zwischen räumlichem Ziel und Handlungsziel oder -zweck läßt sich kaum unterscheiden, sie ist in die Stadt und sie ist einkaufen sind parallel gebaut. „Die verbale Ergänzung bezeichnet bei den Bewegungsverben eine Art abstrakte Richtungsbestimmung (...).“ (Eisenberg 1999:340) Durch das Fehlen eines Fortbewegungsverbs scheint der finale Infinitiv nun vom Verb sein regiert zu werden, wie Behaghel sagt. Eine Ersetzung der kohärenten Konstruktion durch den satzwertigen finalen Angabesatz (um einzukaufen) kommt nicht in Betracht. Die semantisch nächstliegende Umschreibung wäre wohl: sie ist zum Einkaufen. Weil es in solchen Fällen eine gewisse Bedeutungsnähe zum „Progressiv“ (sie ist am Einkaufen) gibt, kehrt in der kurzen Tradition der Absentiv-Diskussion der Vergleich von Absentiv und Progressiv ständig wieder. Dabei scheint die wirkliche oder vermeintliche Entsprechung zur englischen -ing-Form eine Rolle gespielt zu haben (vgl. Krause 2002). Im Deutschen gibt es keinen Grund, die beiden Konstruktionen in einen engeren Zusammenhang zu bringen, da sie sich gerade hinsichtlich der Finalität unterscheiden. Wenn jemand sich irgendwo befindet oder sich dorthin begeben hat, um etwas Bestimmtes zu tun, so wird man beim Fehlen weiterer Informationen schließen, daß er gerade dabei ist, es zu tun. Das ist aber nicht die Bedeutung der Konstruktion, sondern allenfalls eine aufhebbare Implikation.
Nicht immer führt die Hinzufügung von gegangen zu bedeutungsgleichen Ausdrücken: Waren Sie schon Blut spenden? vs. Waren Sie schon Blut spenden gegangen? Bei Ortsangaben kommt sie gar nicht in Betracht: Ich bin in der Stadt einkaufen. Auch hier versagt daher die „elliptische“ Erklärung. Für den finalen Infinitiv bedeuten diese statischen Konstruktionen aber kein Problem.


Zusammenfassung:

1. Der reine finale Infinitiv drückt in selten gewordenen Fällen den Zweck einer Handlung aus – heute wohl nur noch nach Ausdrücken der Fortbewegung und des Aufenthalts: Er fährt (nach Frankfurt) die Messe besuchen. Er sitzt im Café Teenager beobachten.
2. Angaben von Ziel und Zweck kommen auch ohne Fortbewegungsverb mit sein vor: Er ist in die Schule/Er ist einkaufen. Es ist richtig, diese Verwendung des Verbs sein in die Wörterbücher aufzunehmen, aber nicht als „absentives sein“. Auch die „Konstruktionsgrammatik“ zu bemühen ist überflüssig. Anders als König meine ich, daß die Konstruktion sich sehr wohl „unter eine andere, bereits bestehende Konstruktion subsumieren lässt“ (König 2009:65). Die Bedeutungskomponente der „Abwesenheit“ ist ein vorhersagbarer Nebeneffekt des finalen Infinitivs in einigen seiner Verwendungen.

Literatur:

Abraham, Werner (2008): „Absentive arguments on the Absentive: An exercise in silent syntax. Grammatical category or just pragmatic inference?“ In: Language Typology and Universals (STUF) 61/4:358-374.
Behaghel, Otto (1924): Deutsche Syntax. Band II. Heidelberg.
Blatz, Friedrich (1900): Neuhochdeutsche Grammatik. Zweiter Band: Satzlehre (Syntax). Karlsruhe.
Curme, George O. (1922/1964): A Grammar of the German Language. Rev. Edition. New York.
de Groot, Casper (2000): „The absentive“. In: Östen Dahl (Hg.): Tense and aspect in the languages of Europe. Berlin/New York:693-719.
Duden (2005): Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Hrg. von der Dudenredaktion. Mannheim u. a.
Eisenberg, Peter (1999): Grundriß der deutschen Grammatik II: Der Satz. Stuttgart.
Glück, Helmut (Hg.) (2005): Metzler Lexikon Sprache. 3. Aufl. Stuttgart.
Hentschel, Elke/Vogel, Petra M. (Hg.) (2010): Deutsche Morphologie. Berlin.
Hoffmann, Ludger (Hg.) (2007): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin.
König, Svenja (2009): „Alle sind Deutschland … außer Fritz Eckenga – der ist einkaufen! Der Absentiv in der deutschen Gegenwartssprache“. In: Winkler, Edeltraud (Hg.): Konstruktionelle Varianz bei Verben (= OPAL-Sonderheft 4/2009):42-74.
Krause, Olaf (2002): Progressiv im Deutschen: Eine empirische Untersuchung im Kontrast mit Niederländisch und Englisch. Tübingen.
Vogel, Petra M. (2007): „Anna ist essen! Neue Überlegungen zum Absentiv in den europäischen Sprachen mit einem Exkurs zum Deutschen“. In: Geist, Ljudmila/Rothstein, Björn (Hg.): Kopulaverben und Kopulasätze: Intersprachliche und Intrasprachliche Aspekte. Tübingen:253-284.


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