07.06.2005 Theodor Ickler Abschied vom GanzsatzDie Schnellebigkeit grammatischer Theorien spricht gegen neue Rechtschreibregeln, die sich auf solche schwankenden Grundlagen stützen.Leider darf die Bevölkerung die Vorlagen nicht sehen, über die der Rat für deutsche Rechtschreibung verhandelt. Es spricht aber nichts dagegen, daß ich hier meine eigenen Anmerkungen dazu veröffentliche. Im folgenden geht es um § 73: Schon in den vorhergehenden Paragraphen und im Vorspann bahnt sich das grundsätzlich Verfehlte der Neuregelung an. Ich weiß gar nicht, warum die Lehre vom „Ganzsatz“, die Mentrup noch 1993 als für Deutschland ziemlich unüblich bezeichnete, auf einmal zum Schlüssel der Schulgrammatik und der Interpunktion gemacht worden ist. Die Zeichensetzung innerhalb Neuregelung ist weitgehend auf diesenBegriff gegründet, teilweise auch die Großschreibung. Wie problematisch der Begriff „Ganzsatz“ ist, zeigt sich an folgendem: Gallmann und Sitta definieren: „Ganzsatz = zusammengesetzter Satz.“ (Schülerduden-Grammatik 1990; ebenso in der Neufassung 1998, mit Roman Looser) In der amtlichen Neuregelung hingegen, die sie mitverfaßt haben, umfaßt der Begriff auch einfache Sätze. In der Neubearbeitung von Renate Bauduschs „Zeichensetzung klipp & klar“ (Bertelsmann 2000) spielt der Begriff des „Ganzsatzes“ ebenfalls eine große Rolle, ist allerdings weder im Glossar noch im Register angeführt. Die Erklärung S. 15 läuft darauf hinaus, daß alles, was durch die „Satzschlusszeichen“ Punkt, Frage- und Ausrufezeichen abgegrenzt ist, Ganzsatz sein soll, also auch der einfache Satz. Eine Satzreihe besteht aus mehreren selbständigen Sätzen und ist daher ein Stück Text und kein „Satz“, daher auch kein Ganzsatz. Die Selbständigkeit besteht gerade darin, daß die Sätze keine grammatisch definierbare Beziehung zu einander oder zu einem übergeordneten Ganzen haben. Nur die Kommatierung kann (zirkulär) zu dem Eindruck geführt haben, daß es sich hier um einen Ganzsatz aus „Teilsätzen“ handeln müsse. Gallmann und Sitta analysieren die Satzreihe in der Schülergrammatik so, daß sie schon durch „geringfügige Veränderungen der Satzzeichen“ vom Ganzsatz zum Textstück aus mehreren Sätzen gemacht werden könne: Früher hatten wir oft Ärger mit dem Computer, er war dauernd kaputt. - Früher hatten wir oft Ärger mit dem Computer. Er war dauernd kaputt. Die beiden Gebilde sind syntaktisch identisch. In der Neubearbeitung der Schülerduden-Grammatik kommen die Verfasser auch zu folgender Begriffsbestimmung: „Der einfache Satz ist ein Satz, der aus einem einzigen Teilsatz besteht.“ (S. 308) Diese offenbar auf Systemzwang beruhende Definition dürfte für Schüler eine unnötige Erschwerung bedeuten, da es intuitiv nicht plausibel ist, mit „Teilsätzen“ zu operieren, wo gar kein größeres Ganzes gegeben ist. In der großen Dudengrammatik (2005), deren Syntaxteil Gallmann verfaßt hat, wird auf den Begriff „Ganzsatz“ völlig verzichtet, er scheint überhaupt nur für die Schule erfunden worden zu sein. Der korrespondierende Begriff des „Teilsatzes“ ist allerdings übernommen, und auch die genannte Komplikation findet sich wieder: „Ein einfacher Satz besteht aus einem einzigen Teilsatz.“ (S. 1028) Während die falsche Analyse der Satzreihe auch der amtlichen Neuregelung zugrunde gelegt ist, geht Gallmann in der Dudengrammatik 2005 ausdrücklich andere Wege. Die Satzreihe wird korrekt als Textstück behandelt (S. 1030f., unter Hinweis auf die Zirkelhaftigkeit der früheren Definition mit Hilfe der Satzschlußzeichen). In die Revision der Rechtschreibreform vom Jahre 2004 hat diese bessere Einsicht aber noch nicht Eingang gefunden. Soll man sie deshalb nun ignorieren? Das Zudecken fundamentaler Unterschiede durch das Begriffspaar „Ganzsatz/Teilsatz“ führt nicht nur zu einer Verkennung der Satzreihe, sondern zur (fakultativen) Kommatierung zwischen gleichrangigen, konjunktional verbundenen Nebensätzen. Das ist widersinnig, denn es handelt sich ja um koordinierte Satzglieder (bzw. Gliedteile), zwischen denen sonst niemals ein Komma zusätzlich zur Konjunktion steht. Im gleichen Band versucht Gallmann, die satzwertigen Infinitiv- und Partizipialgruppen abzugrenzen und dafür seine – an sich begrüßenswerte – konservative Lösung der Kommasetzung zu empfehlen, doch bleibt die Darstellung bezeichnenderweise fragmentarisch. Gallmann bricht sie kurzerhand ab: „Wir können die zugrunde liegenden grammatischen Gesetzmäßigkeiten und die damit zusammenhängenden Regeln der Kommasetzung hier nicht weiter ausführen.“ (S. 322) Damit gibt er zu, daß die in Augst et al. vorgestellte Darstellung der Infinitivgruppen auf der Grundlage des Kohärenzbegriffs nicht schultauglich ist. Wie sollen die Schüler in der Interpunktionslehre etwas begreifen, was ihre Schulgrammatik zu erklären außerstande ist?
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