15.01.2010 Theodor Ickler Durchsichtige WörterEin Vorschlag zur TerminologieDer Begriff der Durchsichtigkeit oder Transparenz ist in der Wortbildungslehre schon lange bekannt, Hans-Martin Gauger hat ihn auch zum Titel eines recht guten Buches gemacht, das leider in den neueren Wortbildungslehren und Abhandlungen kaum noch erwähnt wird.Ein Wort wie Holzkiste oder Schönling ist vollkommen durchsichtig – auf andere Wörter hin, mit denen es zusammengesetzt oder von denen es abgeleitet ist. Die genaue lexikalische Bedeutung muß in jedem Fall gesondert gelernt werden, die Durchsichtigkeit hat nur einen gewissen Hinweis- oder Aufschlußwert. Nun gibt es aber unzählige Wörter, die für den Hörer offensichtlich mit anderen in einer Beziehung stehen, die aber ein heutiger Sprecher nicht in derselben Weise hervorbringen könnte wie eben gezeigt. Der Hörer hört den Zusammenhang, kann aber nicht sagen, wie es eigentlich zugeht. Diese Teildurchsichtigkeit möchte ich "Transluzenz" nennen. Beispiele für transluzente Zusammenhänge: Bau – Bauten – Gebäude begehren – Begierde blind – blenden dienen – Dienst essen – fressen Feuer – Funken frieren – Frost gebaren – Gebärde gönnen – Gunst helfen – Hilfe jagen – Jagd können – Kunst Kreuz – Kruzifix lachen – Gelächter laufen – Zeitläufte Lügner – lügen nähen – Nadel nennen – Name raten – Rat Rede – redlich schaffen – Schöpfer Schuster – Schuh sechs – Sextett sehen – Gesicht, sichtbar senil – Senior singen – Sänger tun – Tat verlieren – Verlust (und Verlies?) wachen – Wächter Waffe – bewaffnen wiegen – wichtig – Gewicht – Wucht wirken – Werk wollen – Wille ziehen – Zucht – Zeuge – Zügel – Zaum Das ist natürlich eigentlich das, was Augst in seinem Wortfamilienwörterbuch darstellen wollte, aber nicht geschafft hat. Bei den Fremdwörtern wird noch klarer, daß man den Zusammenhang synchron keinesfalls in Form von Erzeugungsregeln darstellen kann, denn in keinem Fall kann der deutsche Sprecher das eine Wort vom anderen ableiten. Ich liste mal ein paar Verben auf -ieren und ihre Substantivierungen auf: disputieren – Disput/Disputation diskutieren – Diskussion infizieren – Infektion personifizieren – Personifikation adaptieren – Adaption agieren – Aktion akquirieren – Akquisition explizieren – Explikation kaprizieren – (Kaprice) affizieren – Affekt, Affekt(at)ion (kolligieren) – Kollektion seligieren/selegieren/selektieren – Selektion rezipieren – Rezeption fingieren – Fiktion movieren – Motion erodieren – Erosion rasieren – Rasur (radieren – Radierung; vgl. Abrasion) addieren – Addition konfligieren – Konflikt konkurrieren – Konkurrenz reflektieren – Reflexion suffigieren – ?Suffixation spazieren – ?Spaziergang suggerieren - Suggestion Die meisten Wortbildunglehren und auch neuere Abhandlungen zur Fremdwortbildung versuchen dies auf Produktionsregeln zu bringen. Bestenfalls wird historische lateinische Grammatik daraus, und das kann es ja wohl nicht sein.
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