13.01.2010


Theodor Ickler

Stämme und Wörter

Zur Unterscheidung zwischen Konstrukten und Ereignissen in der Wortbildung

Herr Riemer fragt im Diskussionsforum nach meiner Unterscheidung zwischen Stämmen und Wörtern. Das ist ein großes Thema für die ganze Sprachwissenschaft. Ich will es kurz aus meiner Sicht darstellen.

Stamm, Wurzel, Morphem, Phonem usw. sind theoretische Konstrukte, die man durch bestimmte Verfahren herstellt, es sind keine wirklichen Verhaltensabschnitte wie die Wörter oder Sätze. Schon Sütterlin scheint etwas ähnliches gemeint zu haben:
"Stämme sind sozusagen die Träger der Grundbedeutung, die einer Gruppe bedeutungsverwandter Einzelwörter gemeinsam ist. An sich sind sie in der Sprache nicht vorhanden, sondern sie werden aus der Form der von ihnen ausgegangenen Bildungen erschlossen, und zwar dadurch, daß man den einer Bedeutungsgruppe gemeinsamen Lautkörper aus der Hülle der ihn vorn und hinten umgebenden Zusätze herausschält." (Die deutsche Sprache der Gegenwart 1910:114)

Moderner drückt sich Ernst Pulgram zum Phonem aus:
"Phoneme is a class name, hence a phoneme cannot occur." (Ernst Pulgram: "Phoneme and grapheme: a parallel". Word, Bd. 7, 1951)

Man hat sich darauf geeinigt, diesen eigentlich nicht aussprechbaren Konstrukten eine sprechbare Form zuzuordnen, damit man sich überhaupt darauf beziehen kann. Aber dadurch werden sie nicht etwa homonym mit den wirklichen Formen. Eine Familie von Allophonen(= ein Phonem) kann man ja nicht eigentlich aussprechen, das ist klar.

Zur Erläuterung sei an die semitischen Wurzeln erinnert. Man hat sich darauf geeinigt, z. B. bei den Verben die 3. Pers. sg. perf. akt. zu sprechen: kataba (statt ktb). Wie heißt die Wurzel von deutsch "binden"? bind-, band, bund, bänd, bünd-?

In Haustür ist der erste Teil nicht das Wort Haus, sondern es ist ein Abschnitt, der systematisch auf den Stamm "Haus" bezogen ist, ohne bestimmte Wortart, Genus usw.

Ich weiß, daß diese Theorie die ganze Wortbildungslehre anders aussehen läßt, als sie in den stumpfsinnigen Lehrbüchern von Fleischer/Barz, Donalies usw. aussieht.

Verlegt man die Stämme (Morpheme) und die Wortformen auf dieselbe Ebene, gerät man in Schwierigkeiten.

Bei Verben wie kommen gibt es nach den üblichen Lehren eine mit dem Stamm „homonyme“ (bzw. sogar mit ihr als „unflektierte Stammform“ identische) Wortform komm! (Imperativ), der Stamm wäre also ein „freies“ Morphem. Bei lesen ist das aus historischen Gründen nicht der Fall: lies! (Barz, Donalies) Eine solche Ungleichbehandlung der Verbstämme nur wegen der historischen Zufälligkeiten des Flexionsparadigmas ist nicht wünschenswert.
Lühr kommt auf derselben begrifflichen Grundlage zu einem anderen Ergebnis:
„Ein Problem ist, ob z. B. {komm} in kommt ein freies Morphem ist, weil es dem Imp. komm! entspricht. Da es aber auch Imperative mit dem Allomorph -e wie arbeit-e gibt und in diesem Fall {arbeit}, wie eben bemerkt, ein gebundenes Morphem ist, betrachtet man der Einheitlichkeit wegen auch {komm} als gebundenes Morphem.“ (Rosemarie Lühr: Neuhochdeutsch. München 1986:143)
Im Widerspruch zu diesen Ausführungen erkennt Lühr in schiffbar das freie Morphem schiff und identifiziert es ausdrücklich mit dem Substantiv Schiff, obwohl -bar heute nur mit Verbstämmen zusammentritt (ebd. 144, 170). schiffbar ist laut DWb seit dem 17. Jahrhundert belegt und sicher vom Verbstamm abgeleitet, nicht mehr, wie es davor üblich war, vom Substantivstamm.
Bei Busch/Stenschke 2007 ist spül- in Spülmaschine eine „freies Morphem“, weil es den Imperativ spül! gibt.

Man kann, kurz gesagt, die Analyse eines Wortes nicht davon abhängig machen, was im Flexionsparadigma oder gar in den unendlichen Weiten des Wortschatzes sonst noch für Formen vorhanden sein mögen.


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