25.05.2009


Theodor Ickler

Selbstlähmung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

„… angesichts der Machtverhältnisse …“

Und eine Erinnerung an bessere Zeiten ...

"Was die interne Debatte um eine gesellschaftliche Einflussnahme der Akademie angeht, äußerte sie aber Zweifel an der Möglichkeit gemeinsamer Artikulation: Nicht die gesamte Akademie sei zum Beispiel gegen die Rechtschreibreform." (Felicitas Hoppe anläßlich der Frühjahrstagung der DASD 2009. FR-Online 25.5.09)

Das war nicht immer so. Außerdem kann man Mehrheitsbeschlüsse herbeiführen. (Auch der Germanistenverband hat sich darauf hinausgeredet, nicht alle (!) Mitglieder seien gegen die Rechtschreibreform.) Übrigens: Wer ist denn innerhalb der DASD nicht gegen die Reform? Hentig und Eisenberg, aber sonst?

Zur Erinnerung etwas aus meiner alten Dokumentation (der ganze Text steht in meinem Buch "Rechtschreibreform in der Sackgasse"):

Als es mit der Rechtschreibreform nach vielen vergeblichen Anläufen ernst zu werden schien und die „Frankfurter Erklärung“ zur Buchmesse 1996 eine heftige öffentliche Diskussion ausgelöst hatte, vermißte man eine Stellungnahme der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (DASD).
Schon zur Anhörung in Bad Godesberg am 4. Mai 1993 hatte die Akademie weder eine schriftliche Stellungnahme eingereicht, noch war sie - infolgedessen - zur Veranstaltung selbst eingeladen worden. Später hieß es, die Aufforderung zur Stellungnahme sei nicht erfolgt oder bei der Akademie verlorengegangen; eine Nachfrage scheint es auch nicht gegeben zu haben. Der Präsident der Akademie war damals Herbert Heckmann.
Anfang 1997 kam mir der Gedanke, die Akademie für einen Aktionsplan zu gewinnen. Nach früheren Erfahrungen und weit zurückreichenden Kontakten glaubte ich zunächst, in der äußeren Form einer Preisfrage den geeigneten Weg gefunden zu haben, und skizzierte einen Vorschlag, den ich am 15. Januar 1997 an den Generalsekretär, Herrn Dr. Gerhard Dette, schickte. Der neue Präsident der Akademie, Prof. Dr. Christian Meier, lud mich daraufhin ein, dem Präsidium anläßlich der Frühjahrstagung in Passau meine Vorstellungen zu erläutern. Inzwischen war ich jedoch von meinem ersten Einfall, der ja auf eine eigene, mir im Grunde überflüssig erscheinende Neuregelung hinausgelaufen wäre, wieder abgekommen und trug dem Präsidium am 1.5.1997 folgendes vor:


Wege aus der Rechtschreibkrise

1. Ich habe mich seit der 3. Orthographischen Konferenz vom November 1994 eingehender mit der geplanten Neuregelung befaßt und bin bald zu der Einsicht gekommen, daß sie die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt. Aus den bruchstückhaften Informationen war damals noch nicht das ganze Ausmaß des Debakels erkennbar. Erst im Juli 1995 erschien das Regelwerk nebst Wörterverzeichnis, beides recht fehlerhaft. Seit jener Zeit bin ich auch mit kritischen Zusendungen beim Institut für deutsche Sprache (IDS) und beim bayerischen Kultusministerium, später auch bei der KMK vorstellig geworden. Die Vorlage von 1995 wurde bekanntlich noch einmal zurückgezogen. Im Juli 1996 erschien die Überarbeitung, gleichzeitig mit der Absichtserklärung der deutschsprachigen Staaten und mit dem Bertelsmannwörterbuch. Auch kündigten die Kultusminister einiger Länder an, sofort, d. h. mit Beginn des neuen Schuljahres, die Neuregelung in die Schulen einzuführen, obwohl der Stichtag des Inkrafttretens der 1.8.1998 ist. Viele Schüler schreiben also seither für zwei Jahre in einer amtlich nicht gültigen, fast nirgendwo sonst zu lesenden, von keiner Zeitung (mit unbedeutenden Ausnahmen) eingeführten Rechtschreibung. Einige Wochen später erschien auch der neue Duden. Zwischen den beiden Wörterbüchern gibt es nach einer öffiziösen Schätzung rund 1000 (Nachtrag Juni 1997: nach Mitteilung von Kommissionsmitgliedern 8000!) Abweichungen, was nur zum Teil auf Fehlern der Redaktionen beruht, zum Teil liegt es an der Unzulänglichkeit des Regelwerks, wie ich in meinen Schriften ausführlich nachgewiesen habe. Seither sind weitere Wörterbücher hinzugekommen, damit hat sich auch die Zahl der Abweichungen erhöht. Dieses Durcheinander hat bereits nachweisbar zu einer großen orthographischen Verwirrung geführt, sogar bei Lehrern.
Mit erheblicher Verspätung ist beim IDS eine Zwischenstaatliche Kommission eingerichtet worden, die eigentlich die Aufgabe haben sollte, die deutsche Rechtschreibung zu beobachten und fortzuentwickeln, nun aber daran arbeitet, die Abweichungen und Unklarheiten zu beseitigen, damit zum neuen Schuljahr einheitliche Wörterbücher vorliegen. Wie man hört, soll zu diesem Zweck eine Wortliste erarbeitet werden. Es gibt begründete Zweifel auch im Kreise der alten und neuen Kommissionsmitglieder, ob das gelingen kann. Das Regelwerk soll oder darf nicht geändert werden, wie der KMK-Vorsitzende gesagt hat. Auch ist schwer vorstellbar, wie die bisher rund 6 Millionen Wörterbuchkäufer zufriedengestellt werden können, von anderen Folgen der vorzeitigen Einführung ganz zu schweigen.

2. Ich möchte nun, um das Ausmaß der Katastrophe recht deutlich zu machen, die Neuregelung kurz vorstellen. Das geschieht am besten durch einen Blick auf ein Beispielblatt, das die gültige und die geplante Regelung einander gegenüberstellt. (Tischvorlage: „Die gültige und die geplante Rechtschreibung“)
Man sieht, daß das Werk irreparabel mißlungen ist. Ich möchte neben den einzelnen Verstößen gegen die Grammatik, der Beseitigung von Unterscheidungsmöglichkeiten und der Vernichtung ganzer Wortreihen noch auf den reaktionären Charakter der Reform hinweisen. Wie auch Horst H. Munske hervorgehoben hat, wirft die Reform uns bei der vermehrten Getrenntschreibung ins 17. Jahrhundert zurück, bei der vermehrten Großschreibung immerhin ins 19. Jahrhundert. Die ursprünglich geplante, von der Mehrzahl der Reformer immer noch favorisierte Kleinschreibung der Substantive war mittelalterlich und wurde ja gerade deshalb von Jacob Grimm so geschätzt.
Zuletzt haben die Kultusbehörden zwar nicht mehr mit der Qualität der Neuregelung geworben, wohl aber mit dem Argument, die Reform bringe wenigsten den Schülern Erleichterung, sie vermindere nämlich ihre Fehlerquoten. Dabei ist viel mit einem Probediktat geworben worden, das unter den Reformern als „Schaeder-Diktat“ bezeichnet wurde und eine phantastische Fehlerverminderung beweisen sollte, im Wortlaut aber weithin unbekannt war. Ich habe dieses Diktat vor einigen Wochen in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht, woraufhin es sogleich als Mogeldiktat durchschaut und mitsamt dem Argument der Fehlerverminderung aus der Debatte gezogen wurde.

3. Folgerungen
- Die einheitliche Rechtschreibung des Deutschen ist zerstört.
- Das Dudenprivileg ist aufgehoben, seine Wiederherstellung undenkbar.
- Eine staatlich verordnete und von staatlich beauftragten Kommissionen erarbeitete Neuregelung scheint nicht möglich zu sein. Sie ist auch nicht nötig. In anderen Ländern wird die Einheit der Rechtschreibung durch angesehene Wörterbücher oder durch ebenso angesehene Akademien gewährleistet. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung könnte eine solche Autorität sein.
- Unter den gegebenen Umständen sollte eine „kleine Lösung“ der Rechtschreibkrise gesucht werden. Eine wirklich umfassende Neuregelung ist heute nicht durchsetzbar, weil sie nicht gewünscht wird und weil auch gar nicht abzusehen ist, daß irgendeine grundstürzende Reformidee konsensfähig wäre. Es gibt auch keinen dringenden Handlungsbedarf.
- Unter einer „kleinen Lösung“ verstehe ich eine konservative, d. h. eine verbesserte Darstellung der geltenden Dudenregeln mit Beseitigung einiger Haarspaltereien und überflüssiger Einzelbestimmungen. Dafür werde ich gleich noch ein paar Beispiele geben.
- Eine „kleine Lösung“ besteht in einer Wortliste und einem Regelwerk. Das Regelwerk enthält Verallgemeinerungen aus den Schreibungen der Wortliste. Es kann in beschränktem Maße wiederum die Schreibung einzelner Wörter (Varianten) beeinflussen und sie zu größerer Regelmäßigkeit bringen.
Das Regelwerk braucht aber zum Beispiel kein Kapitel über die „Laut-Buchstaben-Zuordnung“ zu enthalten. Das entsprechende Kapitel in der Reformregelung ist aus systematischen Gründen fehl am Platz. Außerdem sollte das Akademiewörterbuch sich auf orthographische Angaben beschränken, also keine Hinweise auf die Aussprache, die Bedeutung und die Grammatik enthalten. Man vergleiche das Duden-Aussprache-Wörterbuch. Ferner enthält die Wortliste nur einfache Wörter und darüber hinaus solche Ableitungen und Zusammensetzungen, die orthographisch relevant sind. Es kann beliebig mit Fremdwörtern und Fachwörtern angereichert werden.
- „Klein“ ist die Lösung auch im Hinblick auf die beschränkten Möglichkeiten der Akademie. Die Arbeiten könnten in etwa einem Jahr abgeschlossen sein.
Was spricht für eine konservative Lösung?
1. Die Vorarbeiten zur Reform haben gezeigt, daß es außerordentlich schwer ist, die gewachsene, keineswegs von einigen Bürokraten zu Beginn des Jahrhunderts ersonnene geltende Orthographie grundlegend zu verbessern. Dies hat besonders Horst H. Munske eindrucksvoll dargestellt. Damit sind selbstverständlich Verbesserungen in der Darbietung des geltenden Regelwerks nicht ausgeschlossen, ebensowenig gewisse Bereinigungen.
2. Die geltende Rechtschreibung liegt Millionen von Texten zugrunde. Sie hat sich also bewährt, und eine Neuregelung wäre notwendigerweise mit einer Abwertung des schon Gedruckten verbunden, das danach mit einer Patina des Veralteten überzogen wäre.
3. Die geltende Rechtschreibung wird weithin akzeptiert. Die üblichen Klagen über die Kompliziertheit der Rechtschreibung sind kein Gegenbeweis. Im Kernbereich ist die geltende Rechtschreibung nicht schwer zu beherrschen, in Randbereichen wird man immer nachschlagen müssen. Das gilt zugestandenermaßen auch für die Neuregelung.
4. Wenn man, aus welchen Gründen auch immer, keine überzeugende Neuregelung vorlegen kann, muß man bei der alten bleiben. Das ist ehrlicher und entspricht auch dem Wesen der Rechtschreibung, die auf Kontinuität angelegt ist.
5. Eine konservative Lösung macht keinen Neudruck der Rechtschreibliteratur und keine Entsorgung vorhandener Software usw. erforderlich. Die Kosten sind hier wirklich gleich Null, wie bei der bisherigen Praxis der Dudenrevisionen: Man warf den alten Duden weg, wenn er aus dem Leim ging, und kaufte sich ein stabiles neues Exemplar. Nicht aber war es notwendig, jeweils die neueste Auflage zu erwerben. So sollte es auch in Zukunft sein. Die Kosten, die jetzt entstehen – ob die Reform nun abgeblasen wird oder nicht – haben allein die Reformer und ihre politischen Helfershelfer zu verantworten, vor allem durch das trickreiche Vorwegnehmen des Stichdatums in den Schulen.
6. Durch die Minimierung des Aufwandes bei einer konservativen Lösung wird auch der Weg zu einer künftigen Reform, die den Namen verdient, nicht verbaut.
7. Den Schulbehörden kann geraten werden, alle bisher üblichen, in der 20. Auflage des Dudens kodifizierten Schreibweisen weiterhin als gültig anzuerkennen und die geringfügigen Neuregelungen des Akademiewörterbuchs als zusätzliche Optionen hinzuzunehmen.
Die KMK sollte vom Vorhaben der Akademie in Kenntnis gesetzt, aber nicht in die Vorarbeiten einbezogen werden. Erstens lassen die bisherigen Aktivitäten der KMK keinerlei Bereitschaft erkennen, von ihrer Position abzugehen und das vorliegende Reform-Regelwerk zur Disposition zu stellen. Sie dürfte vielmehr darauf aus sein, alternative Pläne nach Kräften zu hintertreiben. Die Dresdner Erklärung der KMK ist ausgesprochen aggressiv formuliert; sie trägt die Handschrift des IDS. Überdies arbeitet sie auch mit falschen Behauptungen. Kritiker sind nicht gehört worden, man überstellt sie vielmehr an die Mannheimer Kommission.

4. Was tun?
Ich habe zunächst vorgeschlagen, für die Neufassung der Regeln die geballte Intelligenz der Deutschen heranzuziehen, und zwar durch eine Preisaufgabe. Es wäre aber auch ein ganz anderer Weg denkbar. Ich selbst z. B. habe große Teile des Regelwerks bereits versuchsweise rekonstruiert, und ein solcher Entwurf könnte auf einer kleinen Konferenz von Fachleuten verschiedener Herkunft diskutiert werden. Ebenso könnte man mit Proben aus dem Wörterbuch verfahren. Man könnte aber auch einen Entwurf dieser Art herumschicken und schriftliche Stellungnahmen einholen, zum Beispiel aus dem Kreis der Akademie-Mitglieder, die sich dafür interessieren.
Ich befürworte in jedem Fall, daß eine einzelne Person das Gesamtwerk ausarbeitet. Nur so kommt man aus den Zwängen der Kompromisse heraus, unter denen der Internationale Arbeitskreis in sich selbst und im Zusammenspiel mit den Kultusbehörden eingestandenermaßen gelitten hat. Friedrich Roemheld rief schon 1969 aus: „Wann hätte je eine amtliche, halb- oder dreiviertelamtliche orthographische Konferenz etwas Vernünftiges zuwege gebracht!“ („Die Schrift ist nicht zum Schreiben da.“ 1969, S. 23) Das schließt natürlich Beratung und Hilfe nicht aus. Aber es muß wie seinerzeit bei Raumer, Wilmanns oder Duden ein verantwortlicher Kopf hinter der Sache erkennbar sein. Sonst verlieren sich die Verantwortlichkeiten, und die Sache selbst kommt verschwommen und verworren daher, wie es heute zu beobachten ist.
Die Schreibung der Wörter sollte an aktuellen Korpora überprüft werden, was mit Hilfe von CD-ROM ohne Mühe möglich ist. Es gibt nämlich einen Schreibgebrauch neben der Duden-Norm, und der Duden selbst ist auch immer wieder an diesen Gebrauch angepaßt worden.
Wenn das Wörterbuch vorliegt, sollte es als Angebot zur Verfügung gestellt werden. Die Kultusminister können es als Maßstab der Schulorthographie zugrundelegen. Die Verlage werden dann die eigentlichen Rechtschreibwörterbücher herausbringen. Sie können von der Akademie eine Art Prüfsiegel bekommen, wenn sie sich an das Akademiewörterbuch halten.

5. Aus der Werkstatt
Ich möchte nun skizzieren, wie die Arbeit aussehen könnte. Man hat dem Duden vorgeworfen, daß er sich im Laufe der Zeit immer mehr Einzelfallregeln ausgedacht und die Rechtschreibung durch Haarspaltereien unüberschaubar gemacht habe. Dieser Vorwurf ist teilweise berechtigt.
Beispiel 1: radfahren/Auto fahren
Nehmen wir zuerst die Getrennt- und Zusammenschreibung, die stellenweise mit Problemen der Groß- und Kleinschreibung einhergeht.
Ein Standardbeispiel ist die auch von Minister Zehetmair gern herangezogene unterschiedliche Behandlung von radfahren und Auto fahren. Wenn es eine Begründung dafür geben sollte, ist sie so fein gesponnen, daß sie niemanden überzeugt. Ich würde folgende Lösung vorschlagen:
1. Grundsatz: Die Zusammenschreibung von Substantiv + Verb ist zurückhaltend zu gebrauchen.
Die Verbindung Rad fahren ist ebenso wie ähnliche Verbindungen nach den Regeln der deutschen Grammatik jederzeit frei konstruierbar. Daher bedeutet die Zulassung von radfahren kein Verbot von Rad fahren. Eine solche Einschränkung des freien Ausdrucks ist gar nicht zulässig.
Beispiel 2: Der Bindestrich
In dem ominösen „Schaeder-Diktat“ wird die Schreibweise Joghurt-Becher als falsch gewertet. Das ist nicht gerechtfertigt, da es im Ermessen des Schreibenden liegt, wo er einen Bindestrich setzen will. R 33 setzt fest: „Zusammengesetzte Wörter werden gewöhnlich ohne Bindestrich geschrieben.“ Die genauere Analyse zeigt, daß der Bindestrich in größtem Umfang gesetzt wird, um Zusammensetzungen und Ableitungen aus semiotisch heterogenen Bestandteilen zu ermöglichen. Im vorliegenden Fall liegt eine leichte Heterogenität vor, weil Joghurt ein graphematisch deutlich markiertes Fremdwort ist.
Auch Mentrup (1968) ist unnötig streng. Man sollte den Bindestrich freigeben bei Seeelefant, seeerfahren usw.
Beispiel 3: so viel/soviel usw., stattdessen (§ 39 der Neuregelung)
Die Getrennt- und Zusammenschreibung von Konjunktionen, Adverbien und Korrelativa war bisher sehr verwirrend geregelt. Hier könnte man der Neuregelung folgen, die zwar mangels expliziter Beschreibung auch nicht klar ist, der Tendenz nach aber nur die Konjunktionen mit so und wie zur Zusammenschreibung zuläßt.
Stattdessen sollte zur Zusammenschreibung zugelassen werden, wie infolgedessen. Damit würde man einer natürlichen Neigung der Schreibenden folgen. (Das ist im Wörterverzeichnis geschehen, allerdings mit unklarer Abgrenzung.)


Soweit mein in freier Rede vorgetragener Vorschlag. Schriftlich legte ich zugleich den folgenden Entwurf vor:

Vorschlag eines Aktionsplans

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung beschließt, unverzüglich mit der Erarbeitung eines orthographischen Wörterbuchs zu beginnen.
Es hat sich gezeigt, daß der umstrittene Entwurf einer Rechtschreibreform wegen offenkundiger Mängel von der Mehrheit der Bevölkerung nicht angenommen wird. Die Widersprüche zwischen den neuen Wörterbüchern und der bekannte Streit auf verschiedenen Ebenen (Volksbegehren, Gerichtsverfahren, Bundestagsinitiative) erzeugen eine ständig wachsende Unsicherheit, die dem Schulunterricht, dem Buch- und Verlagswesen und der auswärtigen Sprach- und Kulturarbeit Schaden zufügt.
Um nach der Aufhebung des Dudenprivilegs die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung wiederherzustellen und zu bewahren, wird die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ein reines Rechtschreibwörterbuch (ohne Angaben zur Aussprache, Grammatik und Bedeutung) herausgeben, das den Verlagen, den Schulbehörden und allen anderen Betroffenen als Grundlage für die praktische Lexikographie, für den Schulunterricht, für das Buch- und Verlagswesen angeboten und empfohlen wird. Das Wörterbuch soll auf der bisher vom Duden (zuletzt in der 20. Auflage von 1991) festgehaltenen und in Millionen von Texten erfolgreich angewandten Schreibweise aufbauen und sich darauf beschränken, gewisse Ungereimtheiten, Haarspaltereien und schwer beherrschbare Einzelfestlegungen zu beseitigen, ohne die Unterscheidungsmöglichkeiten, auf die eine weit entwickelte Kultursprache Anspruch hat, zu beeinträchtigen. Die bis zum Sommer 1996 anerkannten Rechtschreibwörter­bücher und sonstigen Materialien werden dadurch ergänzt, bleiben aber weiterhin gültig, so daß keine Neuanschaffungen und kein Umlernen erforderlich sein werden.
Diese Zielvorgabe gewährleistet nach Ansicht der Akademie, daß das geplante Wörterbuch auf großes Entgegenkommen bei den Betroffenen stößt und zugleich einer künftigen wirklichen Rechtschreibreform nicht im Wege steht.
Das Wörterbuch soll im Sommer 1998 vorliegen.


Dieser Plan wurde vom Präsidium und der Mitgliederversammlung der Akademie auf der Passauer Frühjahrstagung am 1. bzw. 3. Mai 1997 beraten und in den Grundzügen gebilligt.
Anfang Juni 1997 gab die Akademie folgende Erklärung heraus:

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Präsident: Christian Meier

Erklärung

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat beschlossen, unverzüglich mit der Erarbeitung eines orthographischen Wörterbuchs zu beginnen.
Es hat sich gezeigt, daß der umstrittene Entwurf einer Rechtschreibreform wegen offenkundiger Mängel von der Mehrheit der Bevölkerung nicht angenommen wird. Die Widersprüche zwischen den neuen Wörterbüchern und der bekannte Streit auf verschiedenen Ebenen (Volksbegehren, Gerichtsverfahren, Bundestagsinitiative) erzeugen eine ständig wachsende Unsicherheit, die dem Schulunterricht, dem Buch- und Verlagswesen und der auswärtigen Sprach- und Kulturarbeit Schaden zufügt.
Um nach der Aufhebung des Dudenprivilegs die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung wiederherzustellen und zu bewahren, wird die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ein reines Rechtschreibwörterbuch (ohne Angaben zur Aussprache, Grammatik und Bedeutung) herausgeben, das den Verlagen, den Schulbehörden und allen anderen Betroffenen als Grundlage für die praktische Lexikographie, für den Schulunterricht, für das Buch- und Verlagswesen angeboten und empfohlen wird. Das Wörterbuch soll auf der bisher vom Duden (zuletzt in der 20. Auflage von 1991) festgehaltenen und in Millionen von Texten erfolgreich angewandten Schreibweise aufbauen und sich darauf beschränken, gewisse Ungereimtheiten, Haarspaltereien und schwer beherrschbare Einzelfestlegungen zu beseitigen, ohne die Unterscheidungsmöglichkeiten, auf die eine weit entwickelte Kultursprache Anspruch hat, zu beeinträchtigen. Die bis zum Sommer 1996 anerkannten Rechtschreibwörterbücher und sonstigen Materialien werden dadurch ergänzt, bleiben aber weiterhin gültig, so daß keine Neuanschaffungen und kein Umlernen erforderlich sein werden.
Diese Zielvorgabe gewährleistet nach Ansicht der Akademie, daß das geplante Wörterbuch auf hohe Akzeptanz bei den Betroffenen stößt und zugleich einer künftigen wirklichen Rechtschreibreform nicht im Wege steht. Das Wörterbuch soll im Sommer 1998 vorliegen.
Die Akademie traut es der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim nicht zu, die eingetretene Unsicherheit zu beseitigen. Sie hat daher eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge erarbeiten soll, wie eine einheitliche deutsche Rechtschreibung sowie deren sinnvolle Fortbildung künftig zu gewährleisten sind. Dieser Kommission gehören als Mitglieder an:
Eustaquio Barjau (Universität Madrid)
Günther Drosdowski (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Mannheim und Leipzig)
Hans-Martin Gauger (Universität Freiburg)
Hartmut von Hentig (Universität Bielefeld)
Friedhelm Kemp (Freier Schriftsteller und Übersetzer, München)
Uwe Pörksen (Universität Freiburg)
Harald Weinrich (Collège de France, Paris)


Im Dezember 1997 unterbreitete die DASD den Kultusministern folgenden Vorschlag:

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Vorschlag zum Verfahren in Sachen Rechtschreibung

zu Händen der Kultusministerkonferenz

Die „Rechtschreibreform“ scheint uns so, wie sie beschlossen worden ist, nicht mehr zu halten zu sein. Aus verschiedenen Gründen, vor allem aber
weil deutlich geworden ist, wie sehr sie nicht nur zu einer nicht unerheblichen Einschränkung der Möglichkeiten schriftlichen Ausdrucks führt, sondern zugleich voller Widersprüche, Ungereimtheiten und Absurditäten steckt,
weil angesichts nicht nachlassender Widerstände damit zu rechnen ist, daß sie sich in der Allgemeinheit nicht durchsetzt, so daß die Einheit der deutschen Rechtschreibung durch sie bedroht ist,
weil sie einen tiefen Eingriff in die Rechtschreibung darstellt, zu dem dem Staat die Legitimation fehlt.
Denn Rechtschreibung ist Sache der Sprachgemeinschaft im ganzen. Die Schrift ist ebenso wenig wie die Sprache selbst „Verfügungsgut des Staates“ (Mahrenholz).
Es muß also darüber nachgedacht werden, wie man weiter verfahren will. Wir finden, daß dies in voller Offenheit zu geschehen hat. Die vorliegende „Reform“ ist der erste tiefe Eingriff, der überhaupt in der deutschen Sprachgeschichte ins Werk gesetzt werden soll. Es gibt keine Erfahrungen mit der Problematik der Einführung einer solchen „Reform“; alle bisherigen Erfahrungen auf diesem Feld sind nur mit Reformplänen gemacht worden. Keiner war folglich hinreichend vorbereitet darauf. So ist es kein Wunder, daß sich die in den neuen Regeln und Schreibungen enthaltenen Ungereimtheiten erst herausstellten, als die neuen Regeln in den Wörterbüchern berücksichtigt, an den Schulen gelehrt und in der Öffentlichkeit studiert wurden. Wohl hatte die intensive Diskussion sehr bald manche Mängel der neuen Vorschriften zum Bewußtsein gebracht, aber erst mit der Zeit ist es ganz deutlich geworden, wie wenig die Schrift sich tieferen Eingriffen erschließt. Denn die vielen Ungereimtheiten und Widersprüche, die jetzt zutage kommen, können doch nicht beabsichtigt gewesen sein. Schließlich war die „Reform“, wie der Kommissionsvorsitzende versichert, „gründlich bis ins letzte Detail vorbereitet“. Erst aufgrund breitgespannter Diskussionen ergab sich auch, daß in vielen Regeln der überkommenen Schreibung mehr Weisheit steckte, als zunächst vermutet worden war. Vor allem aber sind Zweifel an der Zuständigkeit des Staates zu so tiefen Eingriffen, die heute in weitesten Kreisen gehegt und geteilt werden, erst allmählich herangewachsen, um sich dann auf bemerkenswerte Weise zu verbreiten und zu verfestigen.
Wenn man sich aber in derart unbekannten Zusammenhängen bewegt, sollte man sich gegenseitig zugestehen, daß es noch manches dazuzulernen gibt. Es ist keine Schande, zu neuen Einsichten zu gelangen.
Wir meinen, wir alle seien es unserer Sprache schuldig, angesichts dieser Lage ohne gegenseitige Vorwürfe und ohne gleichsam jeden Zentimeter Bodens zu verteidigen, über die Sache zu diskutieren. Absichtserklärungen dürfen nicht bindend sein, wenn sich die Absichten als undurchführbar erweisen. Schließlich kann Politik nicht mehr (sollte aber auch nicht weniger) sein als die „Kunst des Möglichen“.
Drei Möglichkeiten ergeben sich nach unserem Urteil:
a) Man versucht eine Revision der „Reform“.
b) Man kehrt zur alten Rechtschreibung zurück.
c) Man versucht, die Grundabsicht, die die Kultusminister mit dem Auftrag zu einer Reform der Rechtschreibung verbunden haben, durch eine von der alten Rechtschreibung ausgehende, kleinere, dafür in den gebotenen Grenzen sich haltende und im allgemeinen Einverständnis vorzunehmende Korrektur zu verwirklichen, nämlich unnötige Schwierigkeiten, Spitzfindigkeiten und Widersprüche der bisherigen Schreibung auszukämmen.
Ob (a) die Revision der „Reform“ gelingt, erscheint uns als sehr zweifelhaft. Und der von einigen Reformern angedeutete Ausweg, für eine mehr als ein halbes Jahrzehnt andauernde Übergangsphase alte und neue Schreibungen in großem Stil nebeneinander stehen zu lassen, scheint uns schon gar nicht gangbar zu sein. Jedenfalls meinen wir, daß eine Revision der „Reform“, falls sie gewünscht wird, von den Mitgliedern der Kommission ausgehen müßte. Wir sehen keine Möglichkeit, uns daran oder gar an der Herbeiführung eines Chaos zu beteiligen.
Eine umstandslose Rückkehr zur überkommenen Rechtschreibung sowie zu den bislang geltenden Verfahren der allmählichen Angleichung der Schreibnorm an den Wandel der Schreibgewohnheiten (b) scheint uns nach Aufhebung des Dudenprivilegs (und angesichts der Tatsache, daß es wohl kaum wiederhergestellt werden kann) nicht mehr möglich zu sein.
So läuft alles auf die dritte Möglichkeit hinaus (c). Sie hat entscheidende Argumente für sich: Die Tatsache, daß Schrift wie Sprache nicht Verfügungsgut des Staates ist, spricht dafür, von der überkommenen Orthographie auszugehen. Andererseits spricht nichts dagegen, bei dieser Gelegenheit - über die allmähliche Angleichung der Schreibnormen an den Wandel der Schreibgewohnheiten hinaus - störende unnötige Spitzfindigkeiten, Inkonsequenzen und Widersprüche der bisherigen Rechtschreibung in einem Akt auszukämmen und das Regelwerk neu zu formulieren, wobei es sich durchaus empfehlen kann, manches aus dem neuen Regelwerk zu übernehmen. Dafür müßte bei einem offenen, fairen Verfahren allgemeines Einverständnis zu gewinnen sein. Denn es besteht ja kein grundsätzlicher Widerstand gegen jede Umgewöhnung, sondern nur gegen solche, die nicht einleuchten wollen, weil sie etwa zu einer Verarmung der Sprache führen, zu Zumutungen, eventuell auch dazu, evidente Dummheiten mitzumachen, indem man im eigenen Schreiben gesichertem Sprachwissen entgegenzuhandeln gezwungen werden soll.
Eine begrenzte, auf die Abstellung von Störendem gerichtete einmalige Korrektur würde sich im Rahmen des Zulässigen bewegen, sie würde nicht den Neudruck aller Wörterbücher sowie großer Teile der Literatur notwendig machen. Sie würde allen Beteiligten zugute kommen. Und sie hätte eine gewisse Logik für sich, da nach Beseitigung des Dudenprivilegs sowie nach einer Rücknahme der „Rechtschreibreform“ die Bewerkstelligung eines Übergangs ansteht.
Anschließend müßte ein Verfahren gefunden werden, mit dem die Aufgabe der behutsamen und kritischen Angleichung der Schreibnorm an den Wandel der Schreibgewohnheiten in Zukunft erledigt werden kann.
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bietet für eine Korrektur im Sinne der dritten Möglichkeit ihre Dienste an. Sie ist zwar mit ihren Mitteln nicht in der Lage, die nötigen Arbeiten allein zu verrichten, könnte aber die Grundsätze einer solchen Korrektur festlegen; es könnte in ihrem Rahmen eine Kommission arbeiten, die sich auf die - anderswo vorhandenen - dazu notwendigen Corpora zu stützen hätte; die Akademie könnte deren Ergebnisse beraten und in Zweifelsfällen ihr Votum abgeben.
Für die Zeit danach wird die Arbeit der regelmäßigen Beobachtung des Wandels von Sprache und Schreibung sowie der kritischen und behutsamen Angleichung der Schreibnorm an diesen Wandel im wesentlichen in einem mit den entsprechenden Corpora ausgestatteten Institut (oder in mehreren) verrichtet werden müssen. Dieses Verfahren könnte aber von der Deutschen Akademie fördernd und kritisch begleitet werden; die Akademie könnte in allen aufkommenden Zweifelsfällen ihr Votum abgeben und damit für die Sicherung der Einheit sowie einer sinnvollen Fortbildung der deutschen Orthographie einen maßgeblichen Beitrag leisten.
Um eine sinnvolle Lösung zu erleichtern, müßte nach unserm Dafürhalten sogleich ein Moratorium in dem Sinne beschlossen werden, daß keine weiteren Schritte in Richtung auf Durchsetzung der neuen Regeln und Schreibungen erfolgen. Gewiß können Schulbücher, die schon in der neuen Schreibung gedruckt sind, im Unterricht, indem man sie korrigiert, weiterbenutzt werden. Auch im Falle einer Revision der „Reform“ wäre das notwendig. Aber überflüssige Kosten, das heißt Kosten vor allem für die Verlage, die investieren müssen, und für den Steuerzahler, der sich, über die Absetzungen, daran zu beteiligen hat, sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Die weiteren Schritte könnten rasch eingeleitet und erledigt werden.
Die Deutsche Akademie appelliert an die Verantwortung der Kultusminister: Die Einheit der deutschen Rechtschreibung darf nicht verlorengehen.


Dieser Plan wurde offenbar aufgegeben, als Peter Eisenberg Mitglied der DASD geworden war. Die Akademie überraschte 1999 mit einem gänzlich anderen „Kompromißvorschlag“; nicht mehr den Duden gelte es „auszukämmen“, sondern die Neuregelung sollte grundsätzlich akzeptiert und lediglich korrigiert werden:

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Darmstadt, im Februar 1999

Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie

Angesichts des nach wie vor lebhaften Streits um die künftige deutsche Rechtschreibung sowie der weiterhin bestehenden großen Unsicherheit legt die Deutsche Akademie hier einen Vorschlag vor, der zum Ziel hat, die Einheit der deutschen Rechtschreibung wiederherzustellen.
Wir teilen viele der Einwände gegen die „Reform“. Wir finden, daß dem Staat die Legitimation zu tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung, wie sie in der Neuregelung zum Teil versucht werden, fehlt. Wir meinen, daß die seit Jahren unvermindert dokumentierte Ablehnung der Reform durch mehr als zwei Drittel der Wählerschaft, wie sie auch im Volksentscheid in Schleswig-Holstein zum Ausdruck kam, hätte respektiert werden müssen. Und wir haben Verständnis dafür, daß man sich als Bürger durch diesen Oktroi, dessen Nutzen überdies zumindest zweifelhaft ist, verletzt fühlt.
Doch finden wir auch, daß die Einheit der deutschen Rechtschreibung hoch zu schätzen ist, eine Einheit, die nie vollständig gegeben sein kann, bisher aber sehr weitgehend verwirklicht war. Und wir meinen, daß das Problem der Rechtschreibung nicht weiterhin so viel Aufmerksamkeit und Kraft absorbieren sollte wie in den letzten Jahren; sei es im Streit, sei es in der Ratlosigkeit vieler Schreibender, nicht zuletzt von Lehrern und Schülern, angesichts zahlreicher Widersprüche und Mängel der neuen Regeln. Es ist Zeit für einen Versuch, dem Konflikt ein Ende zu setzen.
Unser Vorschlag geht angesichts der Machtverhältnisse von der Neuregelung aus und übernimmt von ihr nicht nur, was sinnvoll, sondern auch, was ohne nennenswerten Schaden hinnehmbar ist. Andererseits bezeichnet er aber das, was nicht akzeptiert werden kann, was also zurückgebaut werden muß.
Die deutsche Rechtschreibung ist sich auch in unserm Jahrhundert nie ganz gleich­geblieben. Stets war es notwendig, die Schreibnorm bei einzelnen Wörtern an Veränderungen des Schreibgebrauchs anzupassen. Freilich waren diese Veränderungen von einer Auflage des Dudens zur andern sehr gering; sie richteten sich im allgemeinen nach weitverbreiteten beobachtbaren Tendenzen in der Schreibgemeinschaft, die, im Zweifel eher zögernd, von Fall zu Fall bestätigt wurden.
Angesichts einiger Widersprüchlichkeiten und Spitzfindigkeiten, die sich im Laufe der Zeit in den Duden eingeschlichen haben, kann es geboten sein, einmal etwas mehr zu tun, nämlich in einem Akt diese Widersprüche und Spitzfindigkeiten auszukämmen und auch die Regeln neu zu formulieren. In diesem Sinn enthält die „Reform“ nach unserm Urteil durchaus brauchbare Ansätze. Es wäre falsch, sie nicht zu übernehmen.
Doch halten wir es für unangebracht, der “Reform” auch dort zu folgen, wo sie gravierende Mängel aufweist, nicht zuletzt deswegen, weil das wenig Aussicht hätte, angenommen zu werden. Wohlvertraute Wörter (wie Handvoll) können nicht abgeschafft (und aus den Lexika, schon gar nicht aus denen für Fremdsprachige eliminiert) werden. Sinnvolle Ausdrucksmöglichkeiten, ja Wortbildungsmuster dürfen nicht aufgegeben werden. Unnötige Widersprüchlichkeiten, die die Reform ihrerseits hervorbringt, sollten beseitigt, bisherige Freiheiten der Schreibung dort aufrechterhalten werden, wo neue Festlegungen unsinnig wären. Auch evidente Dummheiten muß sich eine Sprachgemeinschaft vom Staat nicht auferlegen lassen. Schließlich sollte die Schrift nicht unnötig die Gebote der Ästhetik und Leserfreundlichkeit verletzen.
Der Vorschlag, der sich auf diese Weise ergibt, übertrifft zwar das Ausmaß der Veränderungen, die gewöhnlich von einer Auflage des Dudens zur andern vorgenommen worden sind. Doch halten sie sich im Rahmen vorsichtiger Korrekturen und stehen nicht im Widerspruch zu langfristigen Tendenzen des Schreibgebrauchs. Insbesondere sind sie nicht so groß, daß man sich daraufhin veranlaßt sehen könnte, vorliegende Texte (Schöne Literatur, wissenschaftliche Abhandlungen, Gesetzestexte und Kommentare etc.) bei Neuauflagen zu verändern.
Die größte Zahl von Veränderungen gemäß der „Reform“ bringt der Wechsel von ß zu ss nach kurzem Vokal mit sich. Das wäre hinnehmbar. Übernimmt man diese Regelung, so würde sich in neu gesetzten Schulbüchern eine große Zahl von Korrekturen erübrigen, andererseits wäre es nicht nötig, die nach der herkömmlichen Schreibung gesetzten Bücher bei Neuauflagen zu verändern. Denn das Nebeneinander der deutschen ß- und der - noch weitergehenden - schweizerischen ss-Schreibung hat ja auch bisher keine größeren Schwierigkeiten bereitet. Hier müßte sich also zwar der Schreibgebrauch in eher kurzer Frist ändern, alles übrige aber könnte man der Zeit überlassen.
Im übrigen aber sind die vorgeschlagenen Neuerungen so geringfügig, daß sie, was das alltägliche Schreiben angeht, kaum über die ohnehin stets gegebene Variationsbreite hinausgehen. Zudem betreffen sie weithin Fälle, über die schon bisher keine völlige Klarheit bestand.
Daher hoffen wir, daß unser Vorschlag von den verschiedensten Seiten übernommen werden kann. Diese von der Sache her verantwortbare Lösung sollte sowohl dem Grundanliegen einer Reform wie den Interessen der Leser und Schreiber, aber auch denen der Verlage und nicht zuletzt der Steuerzahler gerecht werden.
Wir empfehlen, die neue amtliche Schreibung, so weit sie schon eingeführt ist, in kurzer Frist im Sinne dieses Vorschlags zu revidieren. Damit würden vielerlei ganz unnütze Irritationen erspart, weitere Auseinandersetzungen – und Volksbegehren – erübrigt und das Erlernen der komplizierten Teile der Rechtschreibung, das erfahrungsgemäß vor allem anhand von Lektüre erfolgt, erleichtert. Und es würde eine empfindliche Störung der Einheit der deutschen Rechtschreibung beseitigt.
Der Text richtet sich aber vor allem an die Öffentlichkeit, Zeitungen, Verlage, nicht zuletzt die Beamten und Angestellten von Behörden, die vor der Frage stehen, wie weit sie die hoheitlich angeordnete, in sich vielfach widersprüchliche, wenig sinnvolle, also nicht leicht anzueignende neue Schreibung übernehmen sollen.
Insgesamt ist zu berücksichtigen, daß die neuen amtlichen Regelungen nur begrenzte Bereiche der Rechtschreibung betreffen, dort freilich zum Teil einschneidend sind. Der Text nimmt auf fast alle Fragen Bezug, die umstritten sind. Er folgt im Aufbau dem neuen Regelwerk. Gegebenenfalls korrigiert er dessen Anordnungen respektive schlägt er andere Lösungen vor.
So wie der Vorschlag jetzt vorgelegt wird, enthält er das Konzept. Es soll demnächst durch eine Wörterliste ergänzt werden, aus der hervorgeht, welche der vorgesehenen Neuschreibungen zu übernehmen sind und welche nicht. Wir halten es aber für richtig, dieses Konzept schon jetzt zu veröffentlichen, um eine Fortsetzung des Streits, eine Verlängerung der Ratlosigkeit und vorschnelle Umstellungen auf eine Schreibung, die kaum einem einleuchtet, vermeidbar zu machen.

1. Buchstabenschreibung

1.1 Einzelfälle
Wenn die Neuregelung die Schreibung einzelner Wörter ändert, wird das zumeist mit dem Hinweis auf die „Stärkung der Grundregeln“ gerechtfertigt. Man nimmt in Anspruch, auf diese Weise Ausnahmen zu beseitigen. Es geht um drei Gruppen von Änderungen.
1. Analogie zu andern Wörtern. Hierher gehören Fälle wie Känguru statt Känguruh analog zu Marabu, Kakadu oder rau statt rauh analog zu blau, genau. Diese Fälle sind selten. Man hat sogar Mühe, weitere wirklich häufig verwendete Wörter zu finden, deren Schreibung geändert werden soll (außer rauh gibt es im Kernwortschatz keine Wörter, die auf auh enden; ein Unterschied in der Aussprache zwischen rauhes und blaues ist nicht nachweisbar). Es wird vorgeschlagen, die neuen Schreibungen zuzulassen.
2. Sichtbarmachung von Wortverwandtschaften. Diese Gruppe umfaßt weniger als ein Dutzend Änderungen. Typische Fälle sind Ass statt As wegen Asse; behände statt behende, Bändel, Gämse, Stängel, überschwänglich. Hier sind Unterschiede zu machen. Während gegen Ass und überschwänglich nichts einzuwenden ist, bleibt eine Wiederbelebung etymologischer Bezüge wie bei behände oder Stängel problematisch. Für die meisten „naiven“ Schreiber besteht der Zusammenhang nicht mehr. Folglich sollte man Ass und überschwänglich übernehmen, die anderen Änderungen könnten allenfalls als Nebenvarianten zur Wahl gestellt werden. Für die Einzelfälle ist auf die Wörterliste zu verweisen.
3. Herstellung von Wortverwandtschaften. Etwas zahlreicher sind die Fälle, in denen Bezüge zwischen Wörtern durch Neuschreibungen erst hergestellt werden. Die aufeinander bezogenen Wörter haben etymologisch entweder nichts miteinander zu tun (die berüchtigten volksetymologischen Schreibungen vom Schlage Tollpatsch, Quäntchen, belämmert, schnäuzen) oder sie sind nur weitläufig verwandt wie insbesondere Fremdwortstämme, die zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen ins Deutsche gelangt und unterschiedlich weit integriert worden sind. Beispiele solcher Neuschreibungen sind platzieren, nummerieren, Stuckatur. Einige weitere wie Packet wurden im letzten Moment verhindert.
Die meisten dieser Änderungen, insbesondere die „Volksetymologien“, sind abzulehnen. Bei vielen von ihnen wird der normale Schreiber überhaupt keine Beziehung sehen (etwa zwischen Tolpatsch und toll), andere sind evident falsch (wer schneuzt sich schon durch die „Schnauze“, die Menschen ja eigentlich auch gar nicht haben?). In Einzelfällen, etwa platzieren, nummerieren, könnte man die neuen Schreibungen neben den alten als Nebenvarianten zur Wahl stellen und abwarten, welche sich im allgemeinen Gebrauch durchsetzen. Mit anderen Worten: Eine Änderung wäre nur dann zulässig, wenn sie dem Usus folgte. Die Beweislast läge dann bei denen, die verändern wollen. Es geht aber nicht an, künftigem Usus Vorgaben zu machen. Zu Einzelfällen (etwa Quentchen, Mesner) ist auf die Wörterliste zu verweisen.
4. Neuschreibungen wie Mopp, Tipp und Karamell anstelle von Mop, Tip und Karamel sind abzulehnen. Sie verstoßen gegen die im Deutschen gängige Regel, daß Doppelkonsonantbuchstaben ihre Quelle in der Abfolge von betonter und unbetonter Silbe haben. Die Schreibung Boss mit ss ist korrekt, weil die Pluralform zwei Silben hat (Bosse). Bei Mop und Tip ist das nicht der Fall. Es heißt die Tips, nicht die Tippe.

1.2 Wortstämme

1. ß. Die Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie unproblematisch, was das Schreibenlernen betrifft. Sie führt nachweislich dazu, daß die Schüler dazu neigen, nur noch ss zu schreiben. Es finden sich vermehrt Schreibungen vom Typ Landstrasse, Blumenstrauss, d.h. hier tritt ein neuer Rechtschreibfehler auf. Andererseits ist die Ersetzung des ß durch ss gewissermaßen das Herzstück der Reform, sie ist ihr sichtbarster Bestandteil und im großen und ganzen systematisch. Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft. Das Umgekehrte gilt ebenfalls. Im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung des „Rechtschreibfriedens“ wird vorge­schlagen, die Änderung zu übernehmen. Es sollte nur eine Ausnahme gemacht werden: in Fällen, wo auf eine mit ss auslaufende Silbe eine solche folgt, die mit s beginnt, wird ß geschrieben (z.B. Mißstand statt Missstand, Streßsituation statt Stresssituation). (vgl. 2)
2. Betttuch. Die Verdreifachung von Konsonantbuchstaben anstelle der bisherigen Beschränkung auf zwei Buchstaben ist nicht nur überflüssig, sondern sie führt auch zu teilweise grotesken Wortbildern (Schlammmasse, Schwimmmeister). Da die Fälle häufiger vorkommen und zum großen Teil das Auge verletzen, sollte diese Regel nicht übernommen werden. (vgl. 4)
3. Rohheit. Die Beibehaltung des h am Ende eines Stammes vor -heit (Jähheit, Rohheit) betrifft weniger als ein halbes Dutzend Wörter. Sie kann ohne größeren Schaden hingenommen werden.
4. geschrien. Noch seltener sind Änderungen, die das Weglassen eines e nach ie oder ee fordern, also jetzt geschrien statt geschrieen. Die Neuschreibung ist analog zu die Knie, die Seen. Sie ist durchaus sinnvoll (genau wie die Ablehnung unnützer Verdrei­fachungen von Konsonanten nach 2.)
5. potenziell/potentiell. Vor Fremdwortendungen wie iell, ial, iös darf künftig mit z und mit t geschrieben werden, wenn eine entsprechende morphologische Basis vorhanden ist. Wegen Potenz und potent also sowohl potenziell als auch potentiell. Gegen diese Regelung ist nichts einzuwenden.

1.3 Bemerkung zur Fremdwortschreibung
Die Neuerungen in der Fremdwortschreibung sind insgesamt weniger dramatisch als häufig angenommen wird. Nicht selten werden der Neuregelung Formen zugeschrieben, die es schon lange gibt (Majonäse, Frisör) oder die sie nicht vorsieht (Filosofie, Fysik oder gar Fysick). Die Polemik hat vieles übertrieben.
Fast durchweg werden Neuschreibungen bei den Fremdwörtern neben den bisher erlaubten eingeführt, d.h. es wird keine der bisher möglichen Schreibungen verboten. Die Änderungen selbst sind überwiegend unproblematisch (Typ Kreme, Panter), wenn auch teilweise willkürlich.
Problematisch bezüglich der Leseaussprache sind teilintegrierte Schreibungen wie Bravur, Ketschup statt der bisher allein möglichen Bravour, Ketchup. Solche Neuerungen können ungewollte Folgen für die Aussprache haben.
Ein Problem von anderer Art stellen die schon erwähnten „Eindeutschungen“ wie Tipp, Mopp, Krepp (für Crêpe) dar. Warum die Reform überhaupt zum Anlaß genommen wird, über die in den Rechtschreibwörterbüchern stets präsente Integrationsbewegung hinaus Schreibungen neu zu regeln, ist nicht bekannt. Manches ist im Zeitalter zunehmender internationaler Begegnungen geradezu kontraproduktiv und sollte sich durch den Respekt gegenüber den anderen Sprachen verbieten (Krepp, Spagetti).

Wir empfehlen, neue Schreibungen nur zu übernehmen, wenn sie nachweislich durch den Schreibgebrauch gerechtfertigt sind. Zur Klärung der Einzelfälle wird auf das Wörterverzeichnis verwiesen.
Ein strukturelles Problem für die Neuregelung der Fremdwortschreibung besteht in der Verallgemeinerung der wenigen im amtlichen Wörterverzeichnis enthaltenen Beispielschreibungen (insgesamt 12.000 Einträge) auf den Gesamtwortschatz eines Rechtschreibwörterbuches (insgesamt 120.000 Einträge). Die Neuregelung gibt keinerlei Auskunft darüber, welche von den Zehntausenden von Fremdwörtern für den Beispielwortschatz herausgegriffen wurden.
Trotz alledem: Das Hauptproblem für eine konsequente „Durchregelung“ der Fremdwortschreibung - die um jeden Preis vermieden werden muß - liegt weniger bei den Buchstaben als bei der Wortgliederung (Getrennt- und Zusammenschreibung, s. 2.2).

2. Wortgliederung
2.1 Silbentrennung
Die wichtigsten Änderungen sind die Trennbarkeit des st (Küs-te) und die Nichttrennbarkeit des ck (Ba-cke). Außerdem hat man erlaubt, daß bei Fremdwörtern Verbindungen von Konsonantbuchstaben mit l, n oder r getrennt werden. Daraus ergeben sich vielzitierte unsinnige Trennungen wie ext-ra, Kast-rat, Lust-ration, Hyd-rant).
Die Trennbarkeit des s-t und die Nichttrennbarkeit von c-k sind ohne weiteres akzeptabel. Dagegen ist die alte Regel zur Trennung der Fremdwörter wieder herzustellen.
Regelungen zur Silbentrennung sind von einiger Bedeutung für die Wörterbuchmacher. Unter ihnen wird vor allem lebhaft darüber diskutiert, ob sämtliche Trennmöglichkeiten anzugeben seien. Die orthographische Norm sollte indes eher weniger Festlegungen zur Silbentrennung enthalten. Je mehr man regelt, desto mehr Problemfälle treten in Erscheinung, die für die Schreib-, teilweise auch für die Lesepraxis so gut wie bedeutungslos sind.

2.2 Getrennt- und Zusammenschreibung
Nur was zusammengeschrieben wird, ist im allgemeinen ein Wort. Was getrennt geschrieben wird, kann eine Wortgruppe sein. Beispielsweise handelt es sich bei der Schreibweise mit Hilfe um eine Wortgruppe aus Präposition und Substantiv, bei der Schreibweise mithilfe um ein Wort. Man muß sich lediglich diesen trivialen Tatbestand vor Augen führen, um zu verstehen, warum es bei der Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung besonders viele Probleme gibt.
Die Neuregelung sieht wesentlich mehr Getrenntschreibungen vor, als wir sie bisher hatten, d.h. sie macht in zahlreichen Fällen aus einem Wort zwei Wörter. Ein Wort wie auseinandersetzen verschwindet, wenn nur noch auseinander setzen geschrieben werden darf. Daß man sich nicht unbedingt auseinander setzt, wenn man sich auseinandersetzt, geht dabei verloren. Dieser bedeutsamen Tatsache ist von der Neuregelung nicht genügend Rechnung getragen worden. Noch heute meinen einige ihrer Verfechter, es sei doch zweitrangig, ob man “ein Wort getrennt oder zusammen schreibt”. So ist es dazu gekommen, daß dem Deutschen in der Schrift, damit aber auch im Bewußtsein der Sprechenden mehrere hundert Wörter verloren gehen sollen.
Hinzu kommt, daß manchmal schwer oder gar nicht zu entscheiden ist, ob etwas nur ein Wort oder nur eine Wortgruppe oder beides sein kann. Deshalb hat es in der bisherigen Rechtschreibung gerade hier viele Freiheiten gegeben, d.h. Unentschiedenheiten, scheinbare Inkonsequenzen und darüber hinaus große Bereiche ohne Regelung.
Die Neuregelung möchte diese Bereiche eingrenzen, um „Schreibunsicherheiten“ zu beseitigen. Den „Reformern“ ist nicht oder zu spät klar geworden, daß es sich nicht um unklare Regeln respektive Schreibunsicherheiten, sondern um sprachliche Varianten oder aber um die Möglichkeit eines differenzierten Wortgebrauchs handelt.
Das Nebeneinander von einem Wort (Zusammenschreibung) und zwei Wörtern (Getrenntschreibung) kann unterschiedliche Ursachen haben. So kommt es vor, daß Wörter, die im laufenden Text häufig gemeinsam und in derselben Abfolge auftreten, zu einem Wort zusammenwachsen. Man spricht dann von ‘Univerbierung‘. In der Phase des Zusammenwachsens sollten beide Schreibweisen zugelassen werden. Bekannte Beispiele sind Fügungen wie infrage/in Frage, zutage/zu Tage und komplexe Präpositionen wie anstatt/an Statt, aufgrund/auf Grund. Die Neuregelung bezieht hier einige Einheiten mehr ein, u.a. auch die Konjunktion sodass neben so dass. Das ist akzeptabel.
Anders zu bewerten sind Fälle, in denen die Neuregelung versucht, im Gang befindliche Prozesse der Univerbierung aufzuhalten oder zurückzudrehen wie bei so genannt (künftig nicht mehr sogenannt) oder bei Bildungen mit anheim wie anheim fallen, anheim stellen usw. Diese sind aber analog zu fehlgehen, feilbieten respektive bereithalten, festsetzen zu behandeln. Auch wenn der Bestandteil anheim, wie es das neue Regelwerk ausdrückt, selbst „zusammengesetzt ist“, muß die Zusammenschreibung von anheimfallen erlaubt sein.
Einen in manchem ähnlichen Fall, den die Neuregelung gerade umgekehrt löst, stellen Formen mit irgend dar. Sie werden alle zu einer Form erklärt (irgendwer, irgendwie genauso wie irgendwelche und irgendjemand). Diese Lösung ist radikal, aber übersichtlich. Man sollte sie akzeptieren.
Von anderer Art als Univerbierung sind Wortbildungsprozesse. Zusammensetzungen wie Fensterrahmen oder dunkelrot kommen nicht dadurch zustande, daß ihre Bestandteile allmählich zusammenwachsen, sondern aus den Bestandteilen werden nach festen Regeln neue Wörter geformt.
Die Neuregelung möchte nun durch einen Zwang zur Getrenntschreibung Hunderte von Wörtern ausschließen, die nach solchen Wortbildungsregeln gebildet sind oder gebildet werden können. Ausgeschlossen werden also nicht nur vorhandene, sondern auch mög­liche Wörter. Die kritischen Fälle betreffen vor allem Zusammensetzungen, deren zweiter Bestandteil ein Verbstamm ist. Paradebeispiele sind die folgenden Typen:
a) Verb+Verb spazierengehen, kennenlernen, stehenbleiben, sitzenlassen
b) Adj+Verb schwerfallen, festhalten, freisprechen, blankputzen
c) Subst+Part ratsuchend, fleischfressend, eisenverarbeitend, notleidend
d) Subst+Verb eislaufen, kopfstehen, maßhalten, nottun
Die in a)-d) angeführten und vergleichbare Wörter soll es in Zukunft, wenn es nach den „Reformern“ geht, nicht mehr geben. Das kann auf keinen Fall hingenommen werden. Wir schlagen vor, eindeutig lexikalisierte Wörter (wie die oben zu a)-d) aufgeführten, aber auch etwa leidtun u.v.a.) ins Wörterverzeichnis aufzunehmen und über alle anderen nichts auszusagen. Der Schreiber muß in Zweifelsfällen selbst wissen, was er meint und wie er das am besten schreibt.

3. Groß- und Kleinschreibung
Bei der Groß- und Kleinschreibung liegen die Dinge in mancher Hinsicht ähnlich wie bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, sie hängen ja teilweise auch unmittelbar mit diesen zusammen.
Abzulehnen ist die Verfügung, wonach zwar das Anredepronomen Sie samt dem Possessivum Ihr groß geschrieben werden soll, dagegen Du, Ihr (2.Ps Pl), Dein, Euer klein. Diese Änderung stellt einen so unnötigen und willkürlichen Eingriff in die im Deutschen gültige Sprach- und Höflichkeitspraxis dar, daß sie schon aus diesem Grund verworfen werden sollte.
Die weitaus meisten Änderungen betreffen die Großschreibung der Substantive. Nachdem die sogenannte gemäßigte Kleinschreibung nicht durchsetzbar war, hat man versucht, mit teilweise mechanischen Regelungen zu einfachen Lösungen zu kommen.
1. Zeitangaben. Begrenzt im Umfang ist die Großschreibung des zweiten Bestandteils von Zeitangaben wie heute Morgen, gestern Nachmittag. Der alten Regelung lag die Fehlanalyse zugrunde, es handle sich bei diesem Bestandteil um ein Adverb. Zwingend ist die Neuregelung nicht, weil Großschreibung der besondere, Kleinschreibung der allgemeine Fall ist. Wenn man nicht genau weiß, ob es sich um ein Substantiv handelt, ist klein zu schreiben. Also sollte man es auch in diesen Fällen tun.
2. Zusammengesetzte Fremdwörter. In Formen wie Corned Beef, Ultima Ratio soll der zweite Bestandteil künftig groß geschrieben werden, wenn er – und sei es nur in der Herkunftssprache – ein Substantiv ist. Es gibt überhaupt keinen Anlaß für die Abschaffung von Schreibungen wie Corned beef, Ultima ratio. Auf völlig ungeklärte Weise ist außerdem eine Reihe von Wörtern durch Zusammenschreibung von Adjektiv+Substantiv frei erfunden worden, z.B. Bigbusiness, Blackpower, Freejazz. Solche Schreibungen sind abzulehnen.
3. Substantivierte Adjektive. Nicht akzeptabel ist die vorgesehene Großschreibung von Ausdrücken wie im allgemeinen, im wesentlichen, im folgenden, des weiteren. Zumindest zweifelhaft ist der Zwang zur Großschreibung bei Indefinita wie Verschiedenes, Einzelnes, wenn gleichzeitig die Kleinschreibung in das wenige, der eine vorgeschrieben wird. Wir sollen also schreiben die eine und Einzige sowie weniges, aber Verschiedenes. Hier müssen Freiheiten für Analogieschreibungen wie die Eine und Einzige oder weniges, aber verschiedenes erlaubt sein. Da die Abgrenzung von Pronomina und Adjektiven dieser Art schwierig ist, sollten generell mehr Freiheiten eingeräumt werden.
4. goethesches Gedicht. Früher wurde Goethesches Gedicht oder Goethisches Gedicht geschrieben. Jetzt soll es heißen goethesches/goethisches Gedicht. Großschreibung ist nur mit Apostroph erlaubt, also Goethe’sches Gedicht. Die von der Neuregelung vorgesehene Kleinschreibung kann akzeptiert werden, denn in der Tat handelt es sich bei goethesch wie bei goethisch um echte Adjektive. Völlig unverständlich ist Goethe’sch. Die Verwendung des Apostroph an dieser Stelle widerspricht den Regeln, denn hier wird nichts „ausgelassen“. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn man auf diese Weise Schreibungen wie frischer Lach’s aus Helga’s Stehimbis’s den Weg bereitet.

4. Zeichensetzung
Die Änderungen in der Zeichensetzung sind mit Ausnahme des Kommas bei Infinitiv- und Partizipialgruppen nicht von großem Interesse, wenngleich von einer bisweilen nieder­schmetternden Mechanik, z.B. „Hast du gefragt: „Sind sie unglücklich?“?“.
Das Komma bei Infinitivgruppen (und entsprechend Partizipialgruppen) ist freigestellt.Es darf immer gesetzt werden, z.B. auch in Das Wetter droht, schlecht zu werden. Die Neuregelung führt nach Auskunft vieler Lehrer absehbar auch zum Zusammenbruch des Kommas bei Nebensätzen. Vorzuziehen wäre eine einfache Regelung, die die Kommata bei Infinitivgruppen so verteilt:
a) Das Wetter droht schlecht zu werden kein Komma
b) Franz glaubt zu träumen kein Komma
c) Immer zu verlieren (,) mißfällt ihr Komma fakultativ
d) Helga behauptet, alles getan zu haben Komma empfohlen
e) Paula lebt, ohne/um/anstatt zu arbeiten Komma obligatorisch

Die Fälle d) und e) sind die häufigsten. Die Hauptregel würde ungefähr lauten:
„Adverbiale Infinitivgruppen werden durch Komma abgetrennt, sonst ist das Komma in der Regel frei.“ Mit zwei weiteren Sätzen könnte man das Komma in a und b ausschließen.




Damit nahm das Unglück seinen Lauf, und es ist nur folgerichtig, daß wir 2006 die Zehetmair-Eisenbergsche Orthographie bekommen haben.

(Ich habe den unglücklichen zweiten Vorschlag unter dem Titel "Angesichts der Machtverhältnisse" kommentiert, auch in "Regelungsgewalt". Dieser Titel ist das Schlagwort, unter dem man leider die gesamte weitere Entwicklung sehen muß. Die Machtverhältnisse und das Geldverdienen sind seither der leitende Gesichtspunkt.)


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