16.03.2009


Theodor Ickler

Participium praesentis

Kurzer Überblick

Das Partizip I hat den Rechtschreibreformern viel Mühe gemacht und uns reichlich Stoff zur Kritik gegeben. Am Ende mußten sie diesbezügliche Regeln durchgreifend revidieren, aber befriedigend ist der gegenwärtige Zustand immer noch nicht. Ich habe mal ein paar Tatsachen zusammengestellt:

In neueren Grammatiken wird versucht, das Partizip I als reines Adjektiv darzustellen und ihm den verbalen Charakter gänzlich abzusprechen. Zugunsten dieser Auffassung könnte man anführen, daß das verbal fungierende Partizip I der gesprochenen Sprache und den Mundarten fremd ist:
„Die Anwendung des Partizips Präsens kommt in der natürlichen nhd. Umgangssprache wohl gar nicht vor.“ (Rudolf Blümel: Einführung in die Syntax. Heidelberg 1914:83)
Das adjektivische Partizip ist dagegen in allen Registern unauffällig: bedeutend, reizend usw.
Diese Begründung wird in den betreffenden neueren Arbeiten jedoch nicht angeführt, sondern folgende:
„Das Part1 kommt nicht in periphrastischen Verbformen vor und hat schon insofern einen ganz anderen Status als das Part2: Es liegt deshalb nahe, das Part1 aus dem verbalen Paradigma herauszunehmen und es als deverbales Adjektiv anzusehen.“ (Eisenberg I:193)
„(Partizipien 1) sind, wie gezeigt wurde, nicht im verbalen Paradigma und a fortiori nicht im verbalen Flexionsparadigma verankert. Sie sind Adjektive, die zumindest mit allen Flexionsformen des Positivs sowie mit der Kurzform vorkommen. Möglicherweise müssen wir sie als defektive Adjektive ansehen, weil sie in Hinsicht auf Komparation stark beschränkt sind. Zu Verbformen werden sie dadurch aber nicht.“ (ebd. :204)
„Das Partizip Präsens wird nicht innerhalb irgendwelcher Verbformen verwendet und gilt uns als Adjektiv.“ (ebd. II:101)
Auch die IDS-Grammatik rechnet das Partizip I nicht zu den Verbformen, und zwar ebenfalls mit der Begründung, es diene nicht zur Bildung anderer Verbformen.
Es leuchtet aber nicht ohne weiteres ein, daß Formen nur dann verbal sein können, wenn sie zur Bildung anderer Verbformen dienen. (Paradoxerweise sind ja Infinitiv und Part. II, die der Bildung anderer Verbformen dienen, gerade nominalen Ursprungs!) Auch läufst zum Beispiel dient nicht zur Bildung anderer Verbalformen und ist doch unzweifelhaft selbst eine Form des Verbs.
Mit einer Tautologie gibt sich Donalies zufrieden:
„Der lateinischen Grammatik analog werden im Deutschen Partizip-I-Formen des Typs lesend, schreibend meist den Verbformen zugerechnet; jedoch finden sich keine solchen Formen im Verbparadigma (vgl. u. a. dazu Eisenberg 1998, S. 204).“ (Elke Donalies: Die Wortbildung des Deutschen. Tübingen 2002, S. 132)
Auch Donalies muß anerkennen, daß das Partizip I in einer bestimmten Verwendung nicht komparierbar ist (vgl. auch das Zitat aus Eisenberg). Der Hinweis auf diese Beschränkung hat die Rechtschreibreformer dazu gebracht, zunächst vorgesehene Schreibweisen wie noch Aufsehen erregender, am Schwindel erregendsten wieder aufzugeben.
Immerhin gibt die IDS-Grammatik zu, daß das Partizip I die Rektion des Verbs zeigt, ein „verbales Erbe“, das dem Partizip eine gewisse Sonderrolle zuweist. Sonst ist die Akkusativrektion bei echten Adjektiven kaum bekannt; bei müde, satt und wert ist sie durch Umdeutung des älteren Genitivs entstanden.
In Wirklichkeit zerfallen die Partizipien I bzw. ihre Verwendungsweisen in zwei Gruppen: rein adjektivische und noch verbale. Während die adjektivischen Partizipien in allen syntaktischen Rollen vorkommen, die dem gewöhnlichen Adjektiv zugewiesen sind, wird das verbale Partizip I nur unter Sonderbedingungen prädikativ gebraucht. Diese Beschränkung ist seit je bemerkt worden:
„Im allgemeinen fällt prädikativer Gebrauch mit Verlust des verbalen Charakters zusammen.“ (Hermann Paul: Dt. Grammatik Bd. IV, S. 74)
„Die prädikative Verwendung des Part. Präs. ist im Nhd. so gut wie ganz aufgegeben.“ (Ingerid Dal: Kurze deutsche Syntax 115; Dal selbst schreibt allerdings: In dieser Stellung ist die verbale Natur des Partizips stark hervortretend. Ebd. 116)
Duden Bd. 9 („Richtiges und gutes Deutsch“ S. 236) stellt fest: „Im allgemeinen wird das erste Partizip nicht prädikativ gebraucht (also nicht: Sie ist diskutierend).“
Manchmal wird diese Einschränkung mit unzutreffender Ausschließlichkeit formuliert:
„Als Prädikatsnomina können Partizipien des Präsens in der Sprache der Gegenwart nur stehen, wenn sie völlig in die Wortart des Adjektivs übergewechselt sind: Das Buch ist spannend.“ (Wilhelm Schmidt: Grundfragen der deutschen Grammatik. Berlin 1967:235; ähnlich schon Blatz II:27 )
Auch Altmann/Kemmerling behaupten, das Partizip I werde nicht verbal verwendet (Wortbildung fürs Examen: 37, 151).
Sogar der Rechtschreibreformer Gallmann erkennt an: „Das Partizip I kann nicht als Prädikativ bei einem Kopulaverb (sein, werden, bleiben) oder einem Kausativverb (machen, lassen) stehen.“ (Dudengrammatik 2005:363) (Die Rechtschreibreform selbst setzt sich bekanntlich über diese Einsicht hinweg, s. u.)
Das Partizip I wird aber in seltenen Fällen durchaus als Prädikativum verwendet, vor allem in Koordination mit weniger problematischen Prädikativen:
Man sollte aber nicht meinen, eine phonologische Beschreibung sei notwendigerweise weniger vollständig oder weniger ins einzelne gehend als eine herkömmliche phonetische Beschreibung. (André Martinet: Synchronische Sprachwissenschaft. München 1968:45)
Aufschlußreich und die Textkorpusauswahl unserer Untersuchung bestätigend ist aber beispielsweise die Feststellung ... (Rolf Bergmann/Dieter Nerius: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700. Heidelberg 1997:9)
Sie (die Seele) ist Gott suchend, liebend und schauend und zu den höchsten menschlichen Strebungen fähig. (Gerd Jüttemann et al. [Hg.]: Die Seele. Weinheim 1991:6)
Erna Hanfstaengl war damals in den hohen Dreißigern, sehr gut aussehend, weltgewandt, reich an Lebenserfahrung. (Rudolf Nissen: Helle Blätter, dunkle Blätter. Stuttgart 1969:83)
Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war der Drang der Menge, die in diesem Augenblick durch das Brückentor herein dem Wagen nachstürzte. (Goethe: DuW I,1)
Zu krude, auf den puren Überraschungseffekt hinauslaufend ist der Plot (...) (Welt 26.10.99)
So wichtig der vorletzte Satz gewesen sein mag, so fragwürdig, weil anmaßend und die Verfassung missachtend war der letzte Satz. (FAS 19.10.08)

Die verbale Rektion hat beim Partizip I in historischer Zeit sogar zugenommen, vermutlich unter lateinischem und später französischem Einfluß:
„Das Part Präs. von transitiven Verben hat im frühesten Germ., wie das Altnord. und das Altengl. zeigen, sein Objekt nicht im Akk., sondern im Gen. wie die gewöhnlichen Nomina agentis.“ (Dal 113f.)

Außerhalb solcher Sonderbedingungen wirkt die prädikative Verwendung hart oder geradezu falsch; dies war auch ein Argument gegen die Rechtschreibreform, die solche Konstruktionen zuließ oder sogar vorschrieb:

Für mich persönlich ist sein spontanes Lachen immer ganz besonders Vertrauen erweckend gewesen. (Hugo Steger in Dudenbeiträge 54, 1998, laut Impressum „nach einer internen Regelung des Dudenverlags“ in reformierter Rechtschreibung)
Ute Voigt bezeichnete die Kontroverse als nicht Erfolg versprechend. (Welt 21.10.1999)
Der Fall ist so Besorgnis erregend, dass ... (NN 14.10.99)
Der Zustand des Kanzlers sei aber nicht Besorgnis erregend. (Welt 6.10.99)
Die Idee ist nahe liegend (Welt 6.10.99)
Die barocken Spielfiguren huschten oft allzu glatt und funkelnd vorbei, blieben nichts sagend wie polierter Christbaumschmuck. (SZ 21.12.99)
... Handlungen und Gedanken, die dann sehr Zeit raubend werden (NN 15.10.99)
Absatz von Landmaschinen trotz Agrarkrise zufrieden stellend (NN 4.10.99, Untertitel)
Besonders tief greifend war der Einfluß Adelungs in Österreich. (Österreichisches Wörterbuch, 38. Aufl. Wien 1997:795)

(Diese Konstruktionen sind auch im Zuge der Revision des amtlichen Regelwerks bisher nicht zurückgenommen worden.)

Wenn das Partizip I, wie erwähnt, der Umgangssprache fremd ist, so gilt dies in eingeschränktem Maße auch von der Standardsprache; vor allem das erweiterte Partizipialattribut wirkt beschwerlich und konstruiert. Dies wurde deutlich, als die Rechtschreibreform die Zerlegung längst eingebürgerter Zusammensetzungen zu erzwingen suchte:

Auszüge aus dem Aufsehen erregenden Buch von Oskar Lafontaine (Welt 1.10.99)

Zusammensetzung und syntaktische Fügung sind auch keineswegs gleichbedeutend. In einem rechtschreibreformierten Wörterbuch hieß es zunächst: Eimer schwenkend lief sie zum Stall. Dies wurde später gestrichen. Eimer schwenkend setzt eine Vielzahl von Eimern voraus, eimerschwenkend nicht.

Für den verbalen Charakter des Partizips I spricht auch, daß es heute in dieser Bedeutung nicht mehr mit un- verneint wird; das ist zwar auch beim adjektivisch gebrauchten selten, aber der Bestand ist stabil: unbedeutend, unbefriedigend, unwissend, unzusammenhängend, unzutreffend u.a.
Verbal gebraucht wird das Partizip I als Appositiv bzw. „Satzabschnitt“ (nebensatzwertig):
Die Kinder spielten im Garten, Lieder singend und dazu tanzend.
Beuys 1999: eine fast schon archäologische Erinnerung und doch noch die befremdete Neugier der Jungen auf sich ziehend. (SZ 3.4.99)
Joschi fotografierte, bis ihn ein Polizist den schmalen Weg hochtrieb, schreiend und fluchend. (Peter Härtling: Leben lernen. Köln 2003:184)

Diese Appositive sind „orientiert“, d. h. sie haben ein Bezugselement im Obersatz (die Kinder, ein Polizist). Diese Orientiertheit kann wie bei anderen Appositiven verlorengehen:

Diesen Abschnitt zusammenfassend, soll also die These vertreten werden, daß ... (Joachim Grabowski u. a. (Hg.): Bedeutung - Konzepte - Bedeutungskonzepte. Opladen 1997:92)
Computer-Inder werden händeringend umworben. (FAZ 27.1.02)
Rückblickend mutet es geradezu grotesk an, daß der Bundeskanzler die Bereitstellung der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage verband. (FAZ 14.1.02)

Anmerkung zum Gerundivum:

Sowohl in der Dudengrammatik als auch in der IDS-Grammatik beginnt die Darstellung des Partizips I mit dem Gerundivum (der zu sparende Betrag usw.), das historisch und funktional nichts mit dem Partizip zu tun hat. Es ist aus dem prädikativen Infinitiv (bzw. dem formal davon ursprünglich verschiedenen Gerundium) mit zu abgeleitet; das d ist sekundär.


Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1121